Wie man einen Grizzly überlebt

In den kanadischen Rocky Mountains sind die Braunbären zuhause. Vor nahenden Touristen nehmen die scheuen Tiere lieber Reißaus. Aber kann man sich da sicher sein? Von Jan Süselbeck

Auch im westlichen Kanada steht der Mensch am Ende der Nahrungs­kette – sollte man zumindest meinen. Doch wer sich in den National­parks von Banff, Yoho und Jasper auf Hiking-Tour durch die wilden Rocky Mountains begibt, muss zur Kenntnis nehmen, dass er dort Grizzlies und Schwarzbären begegnen kann – genauso wie Pumas, Wölfen und Elchen.

»Neulich erst wurde eine junge Frau beim Joggen gefressen«, warnt uns eine Bekannte aus Cranbrook im Staat British Columbia. Was tun?

Die Bären-Benimm-Fibel

Zunächst einmal da nachschlagen, woher die Deutschen seit jeher ihr Nordamerika-Wissen beziehen – bei Karl May. Zum Beispiel in »Winnetou I«: »›Ein Bär, ein gewaltiger Bär, ein grauer Grizzlybär!‹ keuchte er, indem er an mir vorüberrannte. Zu gleicher Zeit schrie eine zeternde Stimme: ›Zu Hilfe, zu Hilfe! Er hat mich fest! Oh, oh!‹«. Old Shatterhand besinnt sich. Denn er weiß: »In dieser Weise konnte ein Mensch nur dann brüllen, wenn er den offenen Rachen des Todes vor sich gähnen sah. Der Mann befand sich jedenfalls in der äußersten Gefahr; es musste ihm Hilfe werden. Aber wie?«

Tja: »Ich hatte nur das Messer und die beiden Revolver im Gürtel. (…) Was sind aber das für Waffen gegen einen Grizzlybären! Der Grizzly ist ein naher Verwandter des ausgestorbenen Höhlenbären und gehört eigentlich mehr der Urzeit (…) an. Er wird bis neun Fuß lang, und ich habe Exemplare erlegt, welche ebenso viel Zentner schwer waren. Seine Muskelkraft ist so riesig, dass er, einen Hirsch, ein Fohlen oder eine Bisonfärse im Rachen, mit Leichtigkeit davontrabt. Ein Reiter kann ihm nur dann entfliehen, wenn er ein sehr kräftiges und ausdauerndes Pferd besitzt, sonst holt ihn der graue Bär sicher ein.«

Okay. Weiterlesen hat gar keinen Zweck. Denn wir werden sowieso keine Pferde dabei haben. Doch auch im Internet recherchierte Verhaltensregeln, Ratschläge in kanadischen Fachbüchern oder gar Tipps von erfahrenen Bekannten ergeben nichts als ein Knäuel von Widersprüchen: Mal soll man den Bären anschreien, mal ruhig murmeln, »um ihm zu zeigen, dass man ein Mensch ist, und damit seine Neugierde zu befriedigen« (Campingbroschüre in Lake Louise); mal soll man sich gar flach auf den Boden legen und tot stellen. Dann wieder soll man die Hände heben, um »groß« zu erscheinen – oder am besten gleich auf den nächsten Baum klettern. Dann aber sieht man im nächsten Reiseführer das Foto eines Bären, der einer Frau seelenruhig an einem dünnen Birkenstamm nachsteigt!

Am Ende bleibt einem nur noch die Wahl zwischen zwei albernen Placebos, die man sich besorgen und auf den Hikes bei sich tragen kann: rührende, am Gürtel zu befestigende Metallglöckchen und »Bear Spray«. Erstgenannte Maßnahme folgt dem Ratschlag, auf dem Trail stets »Krach« zu machen, um ferner auf dem Weg befindliche Tiere zu verscheuchen. Wir entscheiden uns jedoch für die martialischere Option, für die man im Laden sogar ein kanadisches Waffenerwerbs-Formular ausfüllen muss: das Pfefferspray. Ob allerdings der Wind nicht zufällig aus der Gegenrichtung kommt, wenn man die Sprühdose im entscheidenden Moment auf den Gegner richtet – und ob man es in dem panischen Augenblick überhaupt schaffen würde, die Plastiksicherung abzuziehen: Das alles erscheint mehr als fraglich.

Schön fasst das ein kanadischer Witz zusammen: »Woran erkennt man, dass der verdächtige Kot auf dem Weg von Bären stammt? Na, daran, dass Glöckchen drin sind und er nach Pfefferspray riecht!«

Gefährliche Begegnungen

Kaum in Calgary gelandet und im Banff-National­park angekommen, lässt die erste Konfrontation auch nicht mehr lange auf sich warten. Der kleine Schwarzbär Jake, den wir im Informations­zentrum des Mini-Städchens Field am Kicking Horse River treffen, ist allerdings mausetot – und ausgestopft. Jake war – aus menschlicher Sicht – ungezogen. Hatte er doch herausgefunden, dass es eine Alternative zur mühsamen Nahrungssuche in der kargen Natur der Rockies gab: in Städte vorzudringen, dort Autos zu knacken und darin nach Ess­barem zu fahnden. Wer einmal im Schweiße seines Angesichts den Cory Pass bei Banff abgelaufen ist und auf dem bereits im Hochgebirge gelegenen Scheitelpunkt ein schlichtes Brot mit einigen Scheiben frischen Cheddar-Cheeses genossen und schätzen gelernt hat, kann das gut verstehen.

Die Einwohner von Field und Lake Louise nahmen es Jake aber übel. Zwar hatten sie mit ihm mehr Geduld als die Deutschen mit ihrem »Problembär Bruno« – aber als man Jake bereits mehrmals eingefangen, ganz woanders ausgesetzt und dann schließlich dennoch immer wieder an bekannten Stellen auf frischer Tat ertappt hatte, knallte man ihn 1999 ab.

Nun bewegen wir uns selbst inmitten der heißen Kampfzone. Einer der auratischsten Wander­orte der kanadischen Rockies, Lake O’Hara, wird für drei Tage unser Zuhause. Der malerisch gelegene Gebirgssee ist schwer zugänglich. Hier gibt es nur eine kleine Lodge und einen noch kleineren, spartanischen Campground, auf dem man allenfalls mit Glück einen Platz reservieren kann. Man erreicht das Terrain mit einem dieser hier typischen, gelben Nightmare-on-Elm-Street-Busse, die von einer abseits des Icefield Parkway gelegenen Haltestelle viermal am Tag die elf Kilometer hinauf zum Lake O’Hara fahren.

Bereits am ersten Morgen muss ich feststellen, dass uns hier oben nicht nur Bären Böses wollen. Eine meiner Wandersocken ist über Nacht im Zelt zur Hälfte verspeist worden, von wem und was auch immer. Wilde Nagetiere aller Art, von Stachelschweinen (porcupines) über Murmeltiere (marmots) bis hin zu Eichhörnchen (squirrels), begegnen einem hier auf Schritt und Tritt und legen dabei eine erstaunliche Frechheit an den Tag. Verschlossene Auto-Kofferräume mit Essen, hermetische Zelte, abschreckende Gebärden: Nichts hält diese Biester davon ab, uns und unsere Utensilien interessiert zu begutachten und gegebenenfalls anzufressen.

Überhaupt: Auf den gottverlassenen und in der Regel allein von den Campern bewohnten Zeltplätzen lernt man, seinen Überlebensalltag pedantisch zu organisieren. Obwohl es hier an sanitären Anlagen nur eine Latrine und einen Wasserhahn gibt, aus dem schwallweise gechlortes Trinkwasser spritzt, hat man sich so umsichtig zu benehmen, als befände man sich auf der Intensivstation einer Klinik oder in einer Raumkapsel der Nasa. Jedes einzelne Ding hat seinen Ort, muss in verschließbaren Plastik­hüllen luftdicht geschützt und sorgfältig verborgen werden.

Der Hauptgrund hierfür sind einmal mehr die drohenden Attacken der Bären. Ihre Nasen wittern alles Essbare auf Kilometer. Solche Gerüche müssen deshalb auf dem Campground um des Überlebens willen auf ein Minimum beschränkt und an einem einzigen Ort konzentriert werden: dem unmittelbaren Umkreis stäh­lerner Schränke, der so genannten Food ­Storage Boxes.

Diese sind mit einem kindersicherungsartigen Verschluss versehen: Essbares oder gar beim Kochen getragene Kleidung, die hinterher nach Mahlzeiten riecht oder riechen könnte, aber auch Deos, Zahnpasta oder Seife – all dies ist hier nach Gebrauch umgehend zu verstauen und wegzuschließen. Nur wer unbedingt scharf darauf ist, nachts mit einer Bärentatze auf der Brust oder einem gigantischen Gebiss im Nacken zu erwachen, bewahrt solche Sachen aus Faulheit vorübergehend in seinem Zelt auf.

Schlaflos am Takakkaw Fall

Am Takakkaw-Fall-Campground, direkt unterhalb des Waputik Icefield mit seinen Gletscherausläufern und seinem eindrucksvollen Wasserfall, verbringen wir bereits die vierte Nacht in Folge. Es gibt keine Duschen und kein Trinkwasser. Aus der einzigen vorhandenen Handpumpe plätschert eine bräunliche Brühe, die man abkochen soll, bevor man sie zu sich nimmt. Heute haben uns die letzten Menschen, die zufällig mit uns ihr Lager aufgeschlagen hatten, verlassen – und ausgerechnet an dem Morgen ist hier ein Bär aufgetaucht. In der Nähe des Flusses soll er nah an ihr Zelt gekommen sein, warnen uns noch zwei US-Amerikanerinnen mit Baby, bevor sie Hals über Kopf das Weite suchen.

Auf unserer 20-Kilometer-Wanderung, hoch oben um den grün Schimmernden Emerald Lake, der unten in den weiten Tannenwäldern des Yoho National Parks liegt, haben wir außerdem mehr Spuren der gefährlichen Waldbewohner gefunden als sonst – nur ein Tal weiter. Aus Angst sind wir längst zu veritablen Trappern mutiert, die die Spuren mindestens ebenso gut zu lesen wissen wie Old Shatterhand: z.B. Baumstämme, an denen Grizzlies die Rinde abgekratzt haben, um ihre Krallen zu wetzen. Wir erkennen auch schon den charakteristischen Cranberrie-Geruch naher Tiere und ihre frische »Losung«.

Nachts fange ich jetzt an, angestrengter nach den knackenden Geräuschen aus dem nahen, dunklen Wald zu horchen, und bekomme so nur noch mehr Schiss vor dem – womöglich immer noch irgendwo da draußen umherschleichenden! – Monster von heute morgen, als ich sowieso schon habe. Zu allem Unglück habe ich am Abend angefangen, Mark Z. Danielewskis achthundertseitigen Meta-Schauerroman »Das Haus – House of Leaves« zu lesen. Ein grausiges Buch, in dem es, kurz gesagt, um den Raum geht und alles, was damit zu tun hat. Genauer: tödliche Labyrinthe, die man besser nicht herausfordert, indem man sich anmaßt, sie zu betreten, um sie zu erforschen.

Auch Landschaften wie dieses Yoho Valley exis­tieren ja vielleicht nur in unserem Gehirn, beeinflusst durch unsere Psyche. Und so wie das abgründige Haus den Figuren bei Danielewski als endloser Alptraum erscheint, fühle ich mich jetzt im Tal verloren – mit seinen Gletschern als gigantischen Himmelskühlaggregaten und dem tosenden Wasserfall in unmittelbarer Nähe.

Diese rührenden Rationalisierungsversuche scheitern allerdings schon im Ansatz. Wir liegen doch ganz allein da, vollkommen schutzlos sind wir jenen dunklen Kreaturen auf dem Silbertablett serviert, die da gerade ganz in der Nähe lauern und – aus irgendeinem perfiden Grund – ihren tödlichen Angriff noch ein wenig hinauszögern.

»Der Berg ruft«

Meistens wandern wir in zirka 2 000 Metern Höhe. »An der Baumgrenze« also, um eine passende Erzählung Thomas Bernhards von 1969 zu zitieren, in der dort ein junges Paar wie wir umkommt. Die tatsächliche Perversität des Bergsteigertums sollte man sich immer wieder, selbst wenn man sich ihr in schwachen Momen­ten selbst hingibt, vor Augen halten. Der Weg nach oben ist in Wirklichkeit ein Weg hinab in karge und lebensfeindliche Zonen des Todes, in denen wir – nüchtern betrachtet – überhaupt nichts zu suchen haben.

Alpinisten sind Todessucher. Nicht von ungefähr waren die Nationalsozialisten vom Bergsteigen, war Leni Riefenstahl vom Gebirge begeistert. Einer der genialsten Texte zu diesem Phänomen, jener reinheitsfanatischen Sehnsucht nach »unberührter Natur«, ist Thomas Bernhards Text »Wiedersehen« von 1982: »Nie habe ich die Welt bedrohlicher und verletzender gesehen, als auf einem Berggipfel. Während mein Vater ein paarmal sagte, was für eine Ruhe hier auf dem Gipfel herrsche (…), forderte (er) meine Mutter fortwährend auf, (es) zuzugeben, (…) und die Mutter sagte auch ein paarmal (…), wie still, wie ruhig es hier ist (…). Die Eltern hatten sich in dem Felswinkel aneinander gedrückt und am ganzen Leib gezittert. Der Sturm war so laut, dass ich kaum etwas verstand, wie der Vater sagte: was für eine Ruhe hier herrscht.«

Auch in Kanada sieht diese angebliche Ruhe ihrem Aussterben entgegen. Zum Beispiel auf den Sunshine Meadows (2 200 m). Diese Landschaft ist vom Ski-Tourismus befallen. Überall im Tal stehen bunte Sessellifte herum. Im Sonnenschein dröhnen riesige Generatoren. Schneefahrzeuge liegen auf dem Trockenen, die die Region schon in wenigen Monaten in eine einzige Verkehrshölle verwandeln werden.

Hier wird uns endgültig bewusst, dass wir zur größten Plage unserer Zeit gehören: dem Hiking-Tourismus. Wir stören. Bloß zurück nach Europa – übrigens, ohne auch nur einen Bären gesehen zu haben.