Lässt sich der Deutsche integrieren?

Braucht Deutschland türkische Schulen und Universitäten? Seit dem Vorschlag von Recep Tayyip Erdogan wird darüber dis­kutiert, ob solche Einrichtungen die Entstehung von so genannten Parallelgesellschaften fördern oder ob sie sich positiv auf die Integration auswirken würden. In der Türkei, wo viele »Türkdeutsche« leben, gibt es eine solche Debatte nicht. Eindrücke über das Leben von Deutschen in Istanbul.

Wie viele Deutsche oder Deutschstämmige in der Türkei leben, ist statistisch nicht genau zu be­stimmen. Es werden Zahlen zwischen 50 000 und 100 000 genannt. Viele pendeln. Rentner et­wa, die Teile des Jahres in Deutschland und in der Türkei verbringen. Andere sind »Expatriates«, die aus beruflichen Gründen hierher ziehen und dann länger bleiben als geplant. Ehepartner in binationalen Familien und wenige Levantiner, die seit Ende des 19. Jahrhunderts hier leben und deutsche Strukturen geschaffen haben. Historisch gewachsene deutsche Schulen sind Teil des türkischen Bildungssystems. Haben die »Türkdeutschen« auch Integrationsprobleme?

Eine Aufenthaltserlaubnis zu erlangen, ist für sie schwierig, selbst Ehepartner bekommen keine unbefristete. Das liegt allerdings nicht zuletzt daran, dass die Türkei jahrelang auf eine Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft in Deutschland gehofft hat. Dann hätten die Deutschen in der Türkei alle Rechte erhalten, die Türken auch haben. Es wäre interessant zu ermitteln, wie viele sich tatsächlich für einen türkischen Pass entscheiden würden. Vermutlich würden einige sofort zugreifen, andere hätten ähnliche Start­schwie­rigkeiten, wie die türkischen Migranten in Deutsch­land sie hatten. Es gibt keine wirkliche Migrationsforschung über Deutsche in der Türkei. Jede Systematik ist also von vornherein auszuschließen.

Ein paar Impressionen deutschen Lebens in der Türkei sind dennoch nicht uninteressant. Die Lebenssituation der meisten Deutschen in der Türkei ist privilegiert. Rückhalt durch türkische Familien in binationalen Beziehungen, gute Positio­nen und eine trotz der mitt­lerweile gespannten politischen Beziehungen immer noch weit verbrei­tete »Deutschenfreundlichkeit« erlauben es ihnen, in der Türkei deutsch zu bleiben und sich trotzdem einigermaßen »integriert« zu fühlen. Selbst Teile der Weihnachtskultur haben die Türken mittlerweile übernommen, was sie am meisten daran mögen, ist der Konsumkitsch. Längst lieben die Türken Geschenke zu Neu­jahr, die der Noel Baba bringt. Und derzeit liegen überall bemal­te Eier in den Auslagen. Die deut­sche Community in Istanbul feierte im Dezember eine große Weih­nachtsparty im historischen Basar. Ein deutsch-türkischer Entertainer wurde importiert und unterhielt mit deutschem »Multi­kulti-­Humor«, Glühwein sorgte für Stimmung. Es gab auch einige Gäste, die sich über den lauten Ruf zum Nachtgebet aus der die Festgesellschaft umgebenden historischen Altstadt beklagten. Aber höflich leise. Niemand störte es.

Parallelgesellschaften haben eben auch etwas mit der sie umgebenden »Leitkultur« zu tun.

Sabine Küper-Büsch

»Brüderchen, wohin are we going?«

So lange ich denken kann, bin ich Ausländerin. Die ersten sieben Jahre meines Lebens habe ich im Iran, die weiteren zwölf in der Türkei verbracht. Meine Eltern sind Deutsche, und ich habe einen deutschen Pass. Blonde Haare, blaue Augen, ich bin sofort zu erkennen. Und stoße meist auf freundliche Zuwendung. »Ah! Aus Deutschland! Mein Onkel lebt in Köln! Woher kommst du?« Eigentlich aus Frankfurt, aber ich lebe seit zwölf Jahren hier. »Zwölf Jahre? Und du sprichst kaum Türkisch? Allah Allah!« Dann wird gelacht, und sofort weitergeredet, in der Sprache, die sich bietet. Und wenn nötig, mit Händen und Füßen. Ich habe mich wegen meiner sprachlichen Inkompetenz nie minderwertig gefühlt. Nur die Folgen sind mir manchmal peinlich. Sprechen kann ich natürlich, wenn meine Sätze auch voller gramma­tikalischer Fehler sind. Denn Türkisch ist verflixt kompliziert und ganz anders gebaut als das Deutsche. Es gibt neben dem Buchstaben I noch das I ohne Punkt. Es wird wie ein »eöh« ausgesprochen, sehr schwer. Manchmal habe ich früher die beiden Buchstaben verwechselt und statt des »frisch gepressten« den »frisch gefickten« Orangensaft bestellt. Ein absoluter Brüller. Nun fragt man sich bestimmt, wie es dazu kommt, dass man in der Türkei aufwächst und keine anständige Unterhaltung in der Landessprache führen kann. Als Kind im Iran lernte ich Farsi vom Kindermädchen. Wahrscheinlich konnte ich das sogar besser als Deutsch. Dann zogen wir nach Istanbul, und ich sollte Türkisch in der Schule lernen. Das verwirrte mich, und erstmals grübelte ich über mein »Herkunftsland« nach. Für meine Eltern war das Deutschland. Aber für mich war die Kleinstadt bei München, in der Oma und Opa wohnen, ein Ferienort. Türkisch zu lernen, war schwierig. Zuhause sprachen wir Deutsch. Draußen übernahm meine Mutter die Dialoge. Sie hatte Türkisch schon in Deutschland an der Universität gelernt. Ich war also nicht gezwungen, Türkisch zu reden. So fing mein Insulanerleben an. Unter so genannten Expatriates überwiegt der Eindruck, nur einen beschränkten Zeitraum im Land zu verbringen, als Teil einer Gastarbeiter­familie, wenn man so will. Also erscheint es unnötig, die Sprache von Grund auf zu lernen. Mein Vater etwa spricht bei der Arbeit Deutsch oder Eng­lisch. Und wenn diese Sprachen nichts nützen, dann können seine Mitarbeiter für ihn dolmetschen. Das Einkaufsvokabular beherrscht er mitt­lerweile. Er muss also nicht wirklich Türkisch können. Dabei lebt er bereits zwölf Jahre in der Türkei. Alle Insulaner glauben an die Vorläufigkeit. Als er bemerkte, dass es wohl doch etwas länger wird, da war der Zug für ihn schon abgefahren, und er ist auf seiner Insel geblieben.

Mein Bruder und ich waren erst auf der deutschen Botschaftsgrundschule und dann auf einer englischsprachigen internationalen Schule. Da haben wir dann innerhalb von sechs Monaten flie­ßend Englisch gelernt. Doch durch das Englische als Unterrichtssprache und den vor allem anglophilen Freundeskreis fingen wir an, ein Kauderwelsch zu reden. »Brüderchen, wohin are we going?« Um dem entgegenzuwirken, hatten mein Bruder und ich in den letzten zwei Schuljahren Deutsch als Fremdsprache. Türkisch blieb immer außen vor. Unsere türkischen Freunde sprechen Englisch oder Deutsch. Eine weitere Falle. Sie können für uns übersetzen.

Als Problem sehe ich heute, dass wir sehr behütet aufgewachsen sind. Ich durfte erst mit 16 allein Taxifahren und fing mit 17 an, mein soziales Leben aufzubauen. Taxifahren ist wichtig, da lernt man nämlich, zu rauchen und türkischen Smalltalk zu halten. Ein wichtiger Schritt zur Inte­gration in Istanbul. Passiv ist mein Türkisch sehr gut. Ich verstehe 90 Prozent. Mein eigenes Vokabular ist jedoch auf bestimmte Situationen abgestimmt. »Ich kann kein Türkisch« artikuliere ich akzentfrei. Doch auch wenn ich nach ein paar Monaten Türkischunterricht die Grammatik gelernt habe, so kann ich mich bislang nicht als sprachlich »integriert« bezeichnen. Trotzdem hängt mein Herz an dieser Stadt. Wenn ich den Bosporus länger als einen Monat nicht sehe, fühle ich mich leicht ausgetrocknet. Und deutscher Döner schmeckt mir überhaupt nicht. Wer ist auf die Idee gekommen, so viel Soße da reinzuhauen? Mein deutsch-türkischer Freund findet die Soße im Döner großartig. Er ist das Gegenstück zu mir: Er ist in Deutschland geboren, war auf einer deut­schen Schule und hat deutsche Freunde. Als er dann in die Türkei kam, musste er erst einmal Türkisch lernen. Das konnte er nämlich gar nicht so gut. In Deutschland galt er als »gut« integrierter Türke.

In Deutschland befremdet es, wenn die ganze türkische Familie ins Krankenhaus kommt, oft um zu übersetzen. Hier gehen wir gleich zu einem Arzt, der Deutsch kann, weil er in Freiburg Me­dizin studiert hat. Wenn ich in Deutschland lebte, würde ich vermutlich im türkischen Laden einkaufen gehen. Nicht wegen Identitätsproblemen oder aus »Deutschenfeindlichkeit«, sondern weil türkisches Obst und Gemüse einfach besser schmeckt.

Franca Alessandra Landau

Deutsch für die Oberschicht

Schon von außen macht das Schulgebäude einen imposanten Eindruck. An der Pforte werden Besucherausweise ausgestellt. Ein türkischer Schüler weist in fehlerfreiem Deutsch den Weg zum Büro von Georg Michael Schopp, Leiter der deutschen Abteilung der Schule. »Das erste Jahr dient den Schülern hauptsächlich zum Erwerb der neuen Fremdsprache. Zusätzlich werden die Naturwissenschaften in Deutsch unterrichtet«, beginnt der aus Deutschland an den Bosporus entsandte Lehrer ein Gespräch über bilingualen Unterricht, Eliteschulen und interkulturelle Erziehung. Momentan arbeiten 35 deutsche Lehrer und Lehrerinnen am Istanbul Lisesi und etwa genauso viele türkische. Die meisten Schüler sind türkischer Herkunft und kommen aus der bildungsorientierten Mittel- und Oberschicht. Jedes Jahr bewer­ben sich 1 000 Schüler, doch nur wenige erreichen die erforderliche Punktzahl beim Abschluss der Grundschule. Von den besten eines Abschluss­jahrgangs von insgesamt rund 80 000 Istanbuler Kindern schaffen es nur 180 Schüler in die Eliteschmiede. Der Erwerb des Sprachdiploms oder des deutschen Abiturs soll später eine internatio­nal erfolgreiche Karriere ermöglichen. Prominenter Absolvent des Istanbul Lisesi ist etwa der ehemalige Ministerpräsident Mesut Yilmaz.

Die Tradition der deutschen Schulen in der Türkei reicht bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Sie entstanden als Folge der Migration deutscher und österreichischer Arbeitssuchender in das Osmanische Reich während der frühen Industrialisierung. Gleichzeitig war der »Orient« Objekt der wilhelminischen Expansionspolitik im östlichen Mittelmeerraum. Die »informellen« Kolonisationsbestrebungen brachten dem osma­ni­schen Vielvölkerstaat nicht nur deutsche Schulen und Krankenhäuser, sondern dem Kaiserreich auch profitable Aufträge, wie den Bau der Bag­dad-Bahn 1903/04. Nach den politischen Wir­ren des Ersten und Zweiten Weltkriegs erreichte die Bildungszusammenarbeit 1957 mit dem deutsch-türkischen Bildungsabkommen ihren Höhepunkt, initiiert von dem ehemaligen Erziehungsminister Celal Yardımı, auch Absolvent des Istanbul Lisesi.

Neben dem Istanbul Lisesi gibt es noch ein wei­te­res deutschsprachiges Gymnasium und seit 1986 30 deutsche Lehrer an den so genannten Ana­dolu-Schulen im ganzen Land. Sie wurden entsandt, um den Rückkehrerkindern die Reintegration zu erleichtern. Den Auftrag der deutschen Schulen in Istanbul heute beschreibt Georg Michael Schopp so: »Wir wollen Türen öffnen, Herzen öffnen, Köpfe öffnen.« Das klingt gut – aber für wen? Genau wie die anderen Auslandsschulen ist das Istanbul Lisesi eine Kaderschmiede. Nur Kinder, deren Eltern sich einen teuren Vorbereitungskurs für die Abschlussprüfung oder gar einen Privatlehrer leisten können, haben überhaupt eine Chance, auf die Schule zu kommen. Am Istan­bul Lisesi werden gezielt Spezialisten mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt ausgebildet. Nicht wenige von ihnen besetzen später verant­wortungsvolle Posten in Politik und Wirtschaft.

Eine neue Initiative der Zentrale für das Auslandsschulwesen wurde Ende Februar von Außenminister Frank-Walter Steinmeier ins Leben gerufen. Als Teil einer neuen, umfassenden Bildungsoffensive sollen neben den 117 bestehenden deut­schen Auslandsschulen und rund 439 Schulen mit deutschsprachigem Unterricht weitere 1 000 Partnerschulen in der gesamten Welt aufgebaut werden. Damit sich die deutsche Sprache und Kul­tur in den jeweiligen Bildungssystemen etablieren kann, werden im Jahr 2008 zusätzliche 48 Mil­lionen Euro von den Trägern der Zentralstelle zur Verfügung gestellt. Georg Michael Schopp ver­weist auf die Leistungen des deutschen Bildungs­exports. »Die bikulturelle Arbeit nützt der Türkei und Deutschland gleichermaßen. Die Absolventen dieser Schulen sind es gewohnt, in beiden Kul­turen zu leben, international und global zu denken.«

Der Vorschlag des türkischen Ministerpräsiden­ten Recep Tayyip Erdogan von Anfang Fe­bruar, türkischsprachige Schulen und Universitäten in Deutschland einzuführen, hat wieder mal eine heftige Integrationsdebatte ausgelöst. Erdogans Vorhaben hing mit der politischen Botschaft seiner populistischen Rede in Köln zusammen, in der er Assimilation als »Verbrechen gegen die Menschheit« bezeichnete. Der Vorwurf, der türkische Ministerpräsident schüre den türkischen Nationalismus in Deutschland und fördere Pa­rallelgesellschaften, ist sicher ernst zu nehmen. Auf der anderen Seite kann man nicht ausschließen, dass dieser Vorschlag auf der bildungs- und integrationspolitischen Ebene auch eine Chance darstellen könnte. Denn wenn man über den Vor­wurf hinaus denkt, dadurch würden sich tür­kisch­stämmige Migranten noch mehr in so genannten Parallelgesellschaften abschotten, könnte man gleichzeitig die Frage stellen: Wenn deutsche Schüler mehr Möglichkeiten hätten, Türkisch zu lernen, wenn Türkisch als Fremdsprache in Schulen genauso selbstverständlich wäre wie Eng­lisch oder Französisch, wie würde sich das auf den Integrationsprozess auswirken?

Eine solche Debatte über ausländische Bildungs­einrichtungen in der Türkei gibt es am Bosporus nicht. »Warum keine türkischen Lehrer oder Schu­len in Deutschland?« sagt Georg ­Michael Schopp. »Es gibt ja bereits private Initiativen, zum Beispiel in Köln.« Das Kölner Privatgymnasium Dialog bietet intensiven Deutschunterricht. Gleichzeitig wird Englisch als erste, Türkisch als zweite Fremd­sprache angeboten. An regulären Schulen fehlt ein solches Angebot. Die meisten türkischen Schüler sind nicht im Türkischen alphabetisiert, zuhause wird ein simples Türkisch gesprochen. Da Türkisch einen völlig anderen Satzbau als das Deutsche hat, entstehen typische Fehler wie »Ich geh’ U-Bahn«. Das Türkische kommt ohne Artikel und Präpositionen aus. An den Istanbuler deutschen Schulen lernen die Kinder im ersten Jahr die grammatikalischen Unterschiede verstehen und können in Zukunft kognitiv umschalten. In Deutschland haben viele Kinder aus migrantischen Familien, deren Elternhaus nicht mehrsprachig ist, Probleme in der Schule, weil die so genannte deutsche Leitkultur gewissermaßen sprachlichen Integrationsdruck ausübt.

Die Schüler des Istanbul Lisesi sprechen ihre Muttersprache und bekommen durch die bilinguale Erziehung an der Schule die Möglichkeit, sich mit einer anderen Sprache auseinanderzusetzen. Ihr Deutsch ist nach der ein Jahr dauernden Vorbereitungsklasse oft besser als das von Migrantenkindern nach Jahren im deutschen Schulsystem. Dass eine bilinguale deutsch-türkische Sprachausbildung auf solche Widerstände stößt, hat vermutlich mit der Migrationsgeschichte der Türken in Deutschland zu tun.

Seit Anfang der sechziger Jahre wurden aus der Türkei Arbeitnehmer für einfache Tätigkeiten angeworben. Der Prozess, der in der Migra­tionsforschung als »Unterschichtung« bezeichnet wird, löste einerseits eine Stigmatisierung der Migranten durch die aufnehmende Gesellschaft aus, andererseits eine Ghettoisierung der Zuwan­derer. Das Verhältnis bleibt distanziert. Für die erste Generation türkischer Migranten war es dann ein Schock, nach Jahren in Deutschland mit einer sich rapide wandelnden Türkei konfrontiert zu werden. In der Türkei heißen Migranten aus Deutschland bis heute »Almanci«, die »Deutschländer«, und das ist nie als Kompliment gemeint.

An einer Lösung der Integrationsprobleme sind mittlerweile sowohl Deutschland als auch die Türkei interessiert. Vielleicht bietet die derzeitige Diskussion in Deutschland eine Chance, über neue Bildungsmöglichkeiten nachzudenken.

Katrin Lehmke