Sitzen bleiben!

Die Verkürzung auf zwölf Jahre Schule bedeutet für Schüler eine Wochenarbeitszeit von über 40 Stunden. von christoph spehr

Wären deutsche Schulen Atomkraftwerke, sie wären längst stillgelegt: durchgeknallte Sicherungen, erschöpfte Brennstäbe, unkontrollierte Frustrationsemissionen in Familien und Gesellschaft hinein. Täglich finden die größten anzunehmenden Unfälle, die völlige Bildungsverweigerung und die grundsätzliche Erschütterung des Selbstwertgefühls statt. Der gesellschaftliche Ort mit der höchsten Burn-out-Dichte sind die Wohnzimmer, in denen Hausaufgaben gemacht werden.

Wären deutsche Klassen Flugzeuge, drei Viertel davon müssten am Boden bleiben. Piloten verlassen mit Anfang 40 den aktiven Flugdienst, weil die Reaktionen langsamer werden und die Belastbarkeit abnimmt. Die meisten Schulklassen werden dagegen von Lehrern und Lehrerinnen geflogen, denen man ein Flugzeug schon längst nicht mehr zumuten würde. Wer dem Stress nicht mehr standhält, wird aus der Sekundarstufe in die Grundschule versetzt, wo man die Kleinen besser in Schach halten kann. Das ist ungefähr so, als wenn man einen überforderten Steward aus dem Passagierraum abziehen und stattdessen das Flugzeug fliegen lassen würde, weil die Maschine sich nicht so laut beklagt wie die Passagiere.

Weil es aber bei Atomkraftwerken und Flugzeugen um fixes Kapital geht, das sich in privatem Eigentum befindet, gehen wir halbwegs sorgsam damit um. Mit jungen Menschen, die sich in der Welt und in der Gesellschaft zurechtfinden und beide einmal kreativ, motiviert und verantwortlich übernehmen sollen, kann man dagegen offenbar alles machen. Zum Beispiel kann man auf die tolle Idee kommen, sie denselben Kram, mit dem sie schon in 13 Jahren nicht zurechtkommen, einfach in 12 Jahren lernen zu lassen.

Das bedeutet für den gymnasialen Zweig, dass Schüler und Schülerinnen eine Wochenarbeitszeit haben, die jeden Gewerkschafter schreiend davonlaufen lassen würde. Da die Kultusministerkonferenz per ordre de mufti festgesetzt hat, dass die kostbaren 265 Wochenstunden jetzt eben auf acht Jahre aufgeteilt werden müssen anstatt wie bislang auf neun Jahre, sitzen zehn- bis 15jährige jetzt 33 Wochenstunden in der Schule. Wer mit einer Stunde Hausaufgaben pro Tag auskommt, liegt gut. Als realistisch gilt unter Eltern 1,5 bis zwei Stunden täglich. Das macht eine wöchentliche Arbeitszeit zwischen 40,5 und 43 Stunden; ein Arbeitsregime, das die Nachteile der festen, gleitzeitfreien Anwesenheitsarbeit (biorhythmisch unsinnig, keine Selbstbestimmung) mit den Nachteilen der postmodernen, flexiblen Projektarbeit (nie frei; ständiger Druck; wer nicht fertig wird, arbeitet eben mehr) verbindet.

Aber ums Lernen geht es ja auch gar nicht. In einer Gesellschaft, in der Zivildienst geleistet wird, übernimmt die Schule die Aufgabe, die früher das Gedienthaben erfüllte: die systematische Gewöhnung daran, unsinnige Anforderungen zu erfüllen, Kommandos zu befolgen und sich vor Konflikten und abweichendem Verhalten zu fürchten. In einer derartig verängstigten Gesellschaft führt der erhöhte Druck dazu, dass immer weniger Abiturienten aus den unteren Schichten kommen. Ohne intensive häusliche oder kommerzielle Unterstützung schafft es jetzt schon kaum keiner, und mit der Schulzeitverkürzung werden die sozialen Ausschlussprozesse noch stärker.

Wer eine Schule ohne die entwürdigenden Schikanen des Sitzenbleibens durchläuft, ist 18 Jahre alt, wenn er das Abitur macht. Wo ist das Problem? Kürzer muss die Schule nicht sein. Sie sollte nur endlich wirklich etwas mit Lernen und persönlicher Entwicklung zu tun haben. Sie sollte sich beim skandinavischen Bildungsmodell nicht für die technischen Details interessieren, sondern für die dort angekommene und ansatzweise praktisch umgesetzte Erkenntnis, dass man Bildung nicht verordnen kann, sondern das unterstützen muss, was der Mensch selbst machen will.

Statt denselben Unsinn in zwölf Jahre zu pressen, sollte man ihn einfach weglassen, die Curricula abschaffen und die Interessen der Kinder fördern. 13 Jahre lang sollten sie dabei von Lehrern und Lehrerinnen betreut werden, die unter solchen Bedingungen arbeiten, eine solche Weiterbildung genießen und ihr eigenes Funktionieren so aufmerksam reflektieren, dass man ihnen auch ein Atomkraftwerk anvertrauen würde.