Wer hat sich verraten?

Die Sozialdemokraten haben im Laufe ihrer langen Geschichte so einiges geschafft. Sie sind echte Deutsche, echte Demokraten, echte Bürger und erfolgreiche Kommunistenjäger geworden. An dem simplen Ziel, den Erfolg der »Linken« im Westen zu vereiteln, könnten sie scheitern. von felix klopotek

Seit ungefähr fünf Jahren wird regelmäßig der Untergang der SPD vorausgesagt. Die Parteiführung dürfte sich allmählich schon daran gewöhnt haben. Die Verkündung der Agenda 2010, die Anti-Hartz-Proteste im Sommer 2004, die desaströsen Niederlagen bei den Landtagswahlen, das Führungschaos, schließlich die Auflösung des Bundestages – eine einzige Misserfolgsgeschichte, die zugleich die Größe der Partei zum Ausdruck bringt.

Denn, darin waren sich die meisten Journalisten und Politiker einig, Deutschland brauchte die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze, ganz dringend sogar. Es ist das tragische Schicksal der SPD, dass sie, und nur sie, die großen Umbrüche in der demokratischen Geschichte Deutschlands zu leisten und auszuhalten in der Lage ist. Das war schon 1914 so (Zustimmung zu den Kriegskrediten) und erst recht 1919 (Abwürgen der Räterevolution in Deutschland).

Was man aktuell liest, unterscheidet sich aber in einer Hinsicht deutlich von den Reaktionen der vergangenen Jahre: Häme und Spott ergießen sich über den Parteivorsitzenden Kurt Beck; die ganze Partei, mit Ausnahme der Schröder-Boys Peer Stein­brück und Frank-Walter Steinmeier, wird in den Medien verflucht. Denn diesmal geht es nicht um eine historische Wende, die es zu meistern gilt. Die SPD ist an einer vergleichsweise einfachen Aufgabe gescheitert: den Erfolg der »Linken« im Westen zu vereiteln. Sie versuchte alles, gab sich selbst wieder ein bisschen links, versuchte, die Konkurrenz auszugrenzen. Erst als alles nichts half, legte Beck seinen Landesverbänden im Westen nahe, die »Linke« als zweite sozialdemokratische Partei anzuerkennen und sich auf neue Koalitionsmöglichkeiten vorzubereiten. Ein überhastetes Vorhaben, das, man schaue auf Hessen, im Ansatz scheiterte.

Den Meinungsmachern, die gar nicht mehr an sich halten können, bleibt aber am Ende nur, sich über das mangelnde taktische Geschick Becks zu ereifern. Auf den Redaktionssitzungen dürften ihnen nämlich die Kollegen aus den Wirtschaftsressorts zuflüstern, wie die Lage tatsächlich ist. Zeitung lesen ist heutzutage eine schizophrene Erfahrung: Während Beck vorne auf den Politik­seiten für seinen tumben »Linkskurs« abgewatscht wird, weil er in der Partei damit ein »ungezügeltes Bauchwünschen« (Die Zeit) nach »Verteilungsgerechtigkeit« (eine der beliebtesten Hassvokabeln unserer Zeit) provoziert habe, sind auf den Wirtschaftsseiten jene Botschaften zu lesen, nach denen jeder Sozialdemokrat eben jene »Verteilungsgerechtigkeit« nachgerade zwingend auf seine Agenda schreiben müsste. Da ist von Lohnsteigerungen die Rede, die durch die Infla­tion ruckzuck aufgefressen werden, von deutschen Musterkapitalisten, die eine Massenentlassung nach der anderen ankündigen, von gewaltigen Einkommensunterschieden zwischen (gleich qualifizierten) Männer und Frauen, kurzum: von einer rapiden Desintegration am »ersten Arbeitsmarktes«. Jeder, der die Wirtschaftsnachrichten verfolgt, weiß, wie groß die Fliehkräfte mittlerweile sind.

Nur darf man das nicht politisch artikulieren! Es ist quasi verboten, aus diesen Tatsachen linke po­litische Forderungen abzuleiten. Jeder SPD-Politiker, der es versucht, macht sich lächerlich. Das ist neu in der fast 150jährigen Geschichte der SPD und könnte, diesmal wirklich, ihr Ende einläuten.

Die SPD hat seit ihrer Gründung darauf gesetzt, die Organisation zu festigen, aus der Arbeiterklassenbewegung ein Arbeitermilieu zu machen. Oft wurde den frühen Sozialdemokraten vorgeworfen, dass sie ihre Anhänger mit der Aussicht auf ein fernes Endziel (Sozialismus) vertrösteten. Tatsächlich war es umgekehrt. Den alten Parteiführern war bewusst, dass der Weg der Revolution ein blutiger, von Niederlagen gesäumter ist. Ihnen ging es darum, schnell etwas zu erreichen, erinnert sei an den Großrevisionisten Eduard Bernstein, der verkündete, ihm gelte das Ziel nichts, die Bewegung alles. Deshalb wurden eine Massenorganisation und ein damit verbundenes Milieu aufgebaut, deshalb dieser Durst nach Anerkennung und die Suche nach Bündnispartnern jenseits des eigenen Lagers. Schon Ferdinand Lassalle träumte davon, Bismarcks Partner zu sein.

Es war dies eine Politik, die nur um den Preis der Abhängigkeit von der Bourgeoisie und ihres Staats erfolgreich sein konnte, mit der Folge, dass die Nation der Bourgeoisie mit dem Ersten Weltkrieg auch die Nation der Proleten wurde. Jeder Erfolg der SPD war verbunden mit einer Integrationsleistung: Die Zustimmung zu den Kriegskrediten machte Sozialdemokraten zu echten Deutschen, die Niederschlagung der Spartakisten adelte sie als echte Demokraten, nach dem Godesberger Parteitag stiegen sie zu echten Bürgern auf, die sozial-liberale Koalition schließlich machte aus ihnen erfolgreiche Kommunistenjäger und Terrorismusbekämpfer.

Die SPD bezog ihre Kraft aus der Spannung, einerseits das Große (Sozialismus, später »soziale Gerechtigkeit«) zu wollen, andererseits das, was dem entgegensteht, den Staat, für die Durchsetzung des Großen zu affirmieren. Das Resultat: eine permanente Blamage am Ideal, die aber die Lebenslüge aller Sozialdemokraten scheinbar endlos verlängern konnte. Denn sie sahen ihre Politik nicht am grundsätzlichen Widerspruch gescheitert, den Staat als Hebel für eine staatslose Gesellschaft zu benutzen, sondern an ärgerlichen historischen Umständen. Sie machten die Spannung aus Ideal und Realpolitik produktiv, setzten sie in organisatorische Energie um und erfanden immer neu formulierte Programme sozialer Gerechtigkeit. Die Unmöglichkeit ihrer Politik übersetzten sie ins Kleine und erfanden so die »Verteilungsgerechtigkeit«.

Einiges spricht dafür, dass diese Spannung unwiderruflich aufgehoben wurde: Indem Gerhard Schröder und Franz Müntefering auf die Zerstörung des Sozialstaats zielten und die dadurch entstehenden neuen Arbeitsverhältnisse als Utopie verkauften – nur so können wir uns den Herausforderungen der Globalisierung stellen! –, erreichten sie zum ersten Mal in der Parteigeschichte die Übereinstimmung von Ideal, Parteiprogramm und Realpolitik. Weil schließlich ihre Politik Erfolg hatte, trat die SPD in den Zustand der eigenen Überflüssigkeit. Von Steinmeier und Steinbrück weiß man nur noch, dass sie gute Technokraten sind.

Die einzige Chance der SPD ist die einer neuen Sozialdemokratie, die gerade dabei ist, für sich jenes Spannungsfeld zu generieren, von dem die alte SPD so lange gezehrt hat. Aber solange die »Linke« eine Partei ist, die im Schnitt bei den Wahlen weniger als zehn Prozent der Stimmen erhält, solange muss man davon ausgehen, dass der Anteil obskurantistischer Linker in ihr verhältnismäßig hoch ist. Erst wenn aus ihr eine stabile Größe um die 15 Prozent geworden und der von Oskar Lafontaine aufgepeitschte Parteiflügel durch Mandate und anderen Pöstchen satt ist, wird sie eine nicht nur programmatische, sondern auch von ihren Strukturen her »richtige« sozialdemokratische Partei sein. Dieser Erfolg wird auf Kosten der alten SPD gehen, die bei Wahlen künftig wohl unter 25 Prozent rangiert. Im Hinblick auf eine rot-rot-grüne Koalition dürfte das aber egal sein. So gesehen steht der Sozialdemokratie doch noch eine weitere goldene Zukunft bevor.