Das Alphabet der Schmetterlinge

Nach einem Gehirnschlag erwachte Jean-Dominique Bauby, Chef­redakteur des Magazins Elle, in völliger Lähmung in einem Krankenhaus. Diagnose: Locked-in-Syndrom. Nur mithilfe seines Augenlids begann er zu kommunizieren und seine Lebenserinnerungen zu diktieren. Seine Erzählung voll ätzendem Humor erschien nach seinem Tod und wurde ein Bestseller. Der Maler und Regisseur Julian Schnabel hat die Geschichte jetzt verfilmt. Von Esther Buss

Der Film beginnt mit dem Moment des Aufwachens. Aus der Subjek­tiven gefilmt, öffnet sich sichtbar ein Augenlid. Zunächst: Licht, Farben, dann treten schemenhaft Gesichter hervor, vor allem Münder. Aus der Untersicht augenommen, schieben sie sich übergroß ins Bild. Die Kamera sucht noch nach Orientierung, findet weder eine ruhige Position noch die richtige Tiefenschärfe, stattdessen Ausschnitte, Anschnitte und gekipp­te Winkel. Die subjektive Perspektive könnte nicht extremer sein. Fast hat man das Gefühl, das Auge müsse sich ganz unmittelbar vor der Leinwand befinden, die wie eine Art Haut Außen- und Innenwelt trennt.

Jean-Dominique Bauby (Mathieu Amalric), dessen schmerzhaftes Erwachen nach einem zweiwöchigen Koma der Zuschauer miterlebt, leidet nach einem schweren Schlaganfall an dem so genannten Locked-in-Syndrom. Er ist komplett gelähmt, kann alles hören, aber nicht spre­chen. Baubys Bewusstsein, das sich durch eine anfangs sehr panische Off-Stimme mitteilt, ist in einem nutzlos gewordenen Körper gefangen, der zwar da ist und irgendwie immer noch ihm gehört, von dem er jedoch wie abgetrennt ist. In einer Taucherglocke eingeschlossen zu sein, das ist das immer wiederkehrende klaustrophobische Bild für das Gefängnis, in dem er sich sieht – ein einsamer Taucher im endlosen Meer, nur sein Blick gleitet aus dem Sichtfenster der Glocke. Lediglich das linke Auge funktioniert, kann blinzeln und auch weinen. Das rech­te Auge wird ihm wegen der Gefahr einer Geschwürbildung sozusagen »live« zugenäht. Man glaubt dabei, Nadel und Faden zu spüren. Mit jedem Stich schließt sich das Bild ein Stück weit mehr, bis es schließlich im Dunkel verschwindet.

»Schmetterling und Taucherglocke« ist in Frankreich in französischer Sprache mit einem französischen Cast gedreht, hat aber trotz seiner Nähe zum europäischen Arthouse-Kino viel von einer spezifisch amerikanischen Monumentalität. Die Themen des Films sind existenzielle – Verlust, Schmerz, Tod, die »Wiedergeburt« nach einem Unfall als neuer Mensch – und werden mit Bildern elementarer Naturgewalten kurzgeschlossen: das Meer, der Strand, ein wuchtiger Eisberg, der in Slow-Motion zusammenbricht und später, im Abspann, wieder aufersteht.

Der amerikanische Künstler und Regisseur Julian Schnabel, der prototypisch für den Boom des Kunstmarkts in den achtziger Jahren steht, kennt sich aus mit großen Formaten und physischer Präsenz. An seinen materialreichen Malereien – berühmt wurden vor allem seine haptischen »Tellerbilder« – kam man schon allein wegen ihrer Übergrößen nur schwer vorbei. In den neunziger Jahren, als es sehr ruhig wurde um ihn, hat er eine zweite Karriere als Filmemacher begonnen. Sein leicht selbstgefälliger Debütfilm »Basquiat« (1996) erzählte recht unbeschwert vom Leben und Tod seines Freundes und Malerkollegen. Umso mehr überraschte »Before Night Falls« (2000), die ebenso berüh­rende wie differenziert erzählte Geschichte des kubanischen Schriftstellers Reinaldo Arenas, dessen offen schwuler Lebensstil ihn in den sechziger Jahren in Konflikt mit dem kommunistischen Regime brachte.

Schnabels aktueller Film bezieht sich erneut auf eine authentische Lebensgeschichte. »Schmet­­terling und Taucherglocke« ist die ­Adaption des gleichnamigen Buchs von Bauby – französischer Journalist, Autor und Chefredakteur der französischen Ausgabe des Modemagazins Elle, dessen Leben aus Glamour, schö­nen Frauen und feinem Essen im Alter von 42 Jahren plötzlich zu Ende war. Im Krankenhaus im nordfranzösischen Berck-sur-Mer fing für ihn ein neues und nur kurzes Leben an, das sich ganz auf sein linkes Auge konzentrierte. Mit­hilfe eines speziellen Alphabet-Baukastens lernte er durch Blinzeln die einzelnen Buchstaben zu diktieren und konnte so seine Lebensgeschich­te einer Lektorin diktieren. Zehn Tage nach Erscheinen des Buches starb er an Herzversagen. Die mantraartig wiederkehrende Buchstabenfolge aus »E-S-A-R-N-T-U-L … « – es sind die acht meistverwendeten Buchstaben des Alphabets – funktioniert dabei wie eine Art Soundtrack des Films.

Julian Schnabel lässt sehr viel Zeit vergehen, bis er die Szenerie aus Baubys Körper bzw. Blick befreit und in die objektive Darstellung wechselt. Es ist schwer, die wache, schlagfertige und trotz aller Verzweiflung erstaunlich humorvolle Off-Stimme Baubys mit dem reglosen Körper im Rollstuhl zusammenzubringen, mit dem man sich im zweiten Teil des Films plötzlich konfron­tiert sieht: ein seltsam verrutschtes Gesicht, das fast etwas Groteskes hat und wie eine zur Fratze erstarrte Maske aussieht. Doch Bauby hat weit mehr als ein funktionierendes Auge, er hat Phantasien und Erinnerungen. Seine geis­tige Freiheit, die vor allem die räumliche Ausdeh­nung sucht und gerne in Landschaften umherschweift, eröffnet auch Schnabel ein ganzes Repertoire an visuellen Möglichkeiten. Er muss sich nicht an Logik oder Chronologie halten, son­dern kann assoziativ und bruchstückhaft erzählen: eine fiktive Krankenhaus-Szenerie in einem vergangenen Jahrhundert, Visionen und kurze, fragmentarische Rückblenden, die jedoch nie ein zusammenhängendes »Davor« erzählen. Schnabel hat dabei keine Angst, einen zu schönen Film zu machen. Dennoch gerät er nie in die Falle des Manierismus. Die experimen­tell anmutenden Bilder mit ihren ausgewaschenen Farben und Unschärfen sind berauschend, und man merkt, dass Schnabel hier auf seine Er­fahrung als Künstler zurückgreifen kann – auch wenn bei seinen Malereien das Insistieren auf Expansion und ein barock ausufernder Geschmack (dazu noch ein arg scheußlicher) immer ein Problem waren. Dagegen erscheint das visuelle Vokabular seiner Filme, so dicht und bildgewaltig es auch manchmal sein mag, von einer großen Leichtigkeit bestimmt, sie macht den eigentlichen Zauber aus.

Die eindrucksvollsten Szenen im Film – sie wirken fast wie Konzeptkino – spielen auf einer leeren Terrasse des Krankenhauses. Hier empfängt Bauby häufig seine Besucher: die Mutter seiner Kinder, die er vor dem Unfall verlassen hatte, einen Freund oder einen ältereren Mann, der in Beirut in jahrelange Geiselhaft geriet, nachdem ihm Bauby seinen Platz im Flugzeug überlassen hatte. Aus der Subjektiven gefilmt, ist die statische Kamera jeweils auf einen äußerst begrenzten und determinierten Bildausschnitt gerichtet, der Position des Rollstuhls ent­sprechend. Die Besucher treten »vor die Kamera«, in Augenhöhe Baubys. Manchmal ziehen sie sich in die Tiefe des Bildraums zurück, verlassen die Kadrierung ganz oder gerade so, dass ihre Köpfe abgeschnitten werden.

Baubys Blick aus der »Taucherglocke« heraus macht sein Empfinden unmittelbar physisch erfahrbar, der paradoxe Zustand seines gleichzeitig anwesenden wie abwesenden Körpers. Der Film ist deshalb beides, extrem körperlich und extrem immateriell. In der New Yorker Gagosian Gallery zeigte der Künstler gerade Gemälde, die auf Röntgenbilder aus dem frühen 20. Jahrhundert zurückgehen und auch im Vorspann des Films verwendet wurden. Sie sehen aus wie Rauchschwaden.

Schmetterling und Taucherglocke. Regie: Julian Schnabel. Buch: Ronald Harwood. Dar­steller: Mathieu Amalric, Emmanuelle Seigner, Max von Sydow, ­Marie-Josée Croze, Hiam Abbass. ­Kinostart: 27. März