Fortschrittsahnung

Es waren die retro-futuristischen Sounds von Roxy Music, die Thomas Meinecke auf den Planeten Pop lockten

Mein Vater, Mitte 40, in seinem biografisch verspäteten Party-Zeitalter (im biologisch näher liegenden Alter zunächst als minderjähriger Soldat, später als Werksstudent um seine Jugend betrogen), das Tonbandgerät ständig auf stand-by, vom Esstisch aufspringend, um für die nächste Haus-Party die aktuellen Hits aus dem Radioprogramm des NDR aufzunehmen, und eines Tages auch »Virginia Plain«, die erste Single der Londoner Art School Band extraordinaire Roxy Music. (Bisschen ärgerlich, dass bei diesem Aufnahmeverfahren fast immer die ersten Töne fehlten.)

»Virginia Plain«. Angenehm verstörende Klänge, futuristisch und retrospektiv zugleich, die mich (in meinem 16. Lebensjahr) aufhorchen ließen. Beunruhigende Künstlichkeit des Ganzen; das musste ich erst noch erlernen: die Gemachtheit der Popmusik als ihre große Stärke zu begreifen. (In strategischer Gegenposition zur vorgegebenen Authentizität von Rock.)

Dann die erste Langspielplatte der Band, die mir ein Schulfreund (kurz nach ihrem Erscheinen) auf dem Schulhof in die Hand drückte und die mir bis heute den Anfang eines posthistorischen Selbstverständnisses der Popmusik (vor Disco, Punk und New Wave) markiert: 1972 als das Jahr, in dem alles anfing. High Camp, Art School, Postmoderne; die Blumen des Bösen der transatlantisch vorausgegangenen The Velvet Underground waren in wahrhaft künstliche Paradiese überführt worden. Und: Was waren das denn für Typen, wenn man das Cover aufgeklappt hatte? Auf diese Art aufwändig inszenierter Androgynität war ich (ohnedies verunsichert, weil ich tagtäglich für ein Mädchen gehalten wurde) so gut wie gar nicht vorbereitet.

Unglaublich auch die Liner Notes: piccadilly, 1972: taking a turn off mainstreet, away from cacophony and real-life relics,&into the outer spaces myriad faces&sweet deafening sounds of rock’n’roll. And inner space … the mind loses its bearings. what’s the date again? 1962? or twenty years on? is this a recording session or a cocktail party?

»Re-Make/Re-Model« als der eröffnende Song, als mein das Pop-Universum eröffnendes Schlüsselerlebnis. (Bereits zu ahnen, als 17jähriger im ausgehenden Hippie-Zeitalter, wenn mir auch der theoretische Apparat noch nicht zur Hand war: Der kulturelle Fortschritt liegt in der Rekontextualisierung, der Resignifizierung, im dialektischen Überschreiben.)

1973 das zweite Album, »For your Pleasure«, partisanisch flanierender Hedonismus in der zweiten Zündungsstufe: vorn auf dem Klapp­cover gleich mal Amanda Lear, die für eine Frau gehalten werden wollte, die, in schwarzem Satin, einen schwarzen Panther an der Leine hält, drinnen die Typen in Rock’n’Roll-Posen, alle mit Gitarren versehen, Bryan Ferry schon ganz Bryan Ferry, Eno jetzt (trotz zurückweichenden Haaransatzes) gänzlich feminin und im Soundbild weiterhin der prägende Futurist. Wieder viele Hymnen, von Bryan Ferry getextet und gesungen, etwa »In Every Dream Home A Heart­ache«, an eine aufblasbare Spielgefährtin gerichtet: I blew up your body and you blew my mind.

Es folgte Enos bedauerlicher Weggang (aber er machte ja epochal grandiose Solo-Alben), und das dritte Album: »Stranded«, immer noch 1973, zurückgenommene Effeminiertheit der Typen im Klappcover, aber vorn drauf das (jetzt wahrscheinlich wieder auch genetisch) weibliche Model in vom ersten Album bekannter Unbequemlichkeit hingegossen (was diese Pin-ups auch feministisch goutierbar macht).

1974 das Album »Country Life«, auf dessen nicht aufklappbarem Cover zwei weibliche Schön­heiten (eine zierlich, eine statuesk und germanisch) in Unterwäsche, besser: Lingerie, posieren, vor einer Gartenhecke unbarmherzig angeblitzt, in der US-amerikanischen Version zensiert (also nur die Gartenhecke, ohne Girls). Country Life bedeutete hier natürlich nicht hippieske Stadtflucht, sondern dandyeske Landpartie. Siehe: Der kinky Konservativismus des Bryan Ferry, wie er sich dann vor allem auf seinen Solo-Alben ausbreitete. (Neben den Solo-Werken Enos besonders zu empfehlen: die so prä- wie posthistorischen Zitatpop-LPs des Holzbläsers Andy Mackay). Zu hören sind abermals sonische, die New Wave der Popmusik ankündigende Meisterwerke wie »Out of the Blue« (später noch einmal sehr mitreißend auf dem Live Album »Viva!« zu hören).

Im Jahr darauf das fünfte Roxy Music-Album, »Siren«, noch unbequemer hingegossen die gestrandete Nixe auf der Hülle, mit dem Hit »Love is the Drug«, und während Punk und New Wave endlich allgemein spürbar auf den umstürzle­rischen Plan traten, verstummten Roxy Music, um erst 1979 (als ich von Hamburg nach Roxy Munich gezogen war) mit einem wenig innovativen Album namens »Manifesto« wiederzuerstehen. Ich sah sie live im Nazi-Saal des Deutschen Museums (gezeichnetes Cover eines 1975er-Bootlegs: hingegossene herbere Schönheit mit einem vor sich auf dem Bett liegenden Schminkspiegel, darauf eine Rasierklinge, im Hintergrund der brennende Reichstag) und war eigentlich bereits wegen der Vorband (Wire) gekommen. Roxy Music veröffentlichten dann tatsächlich noch einige unbedeutende Werke, doch als Bill Murray vor wenigen Jahren in dem Spielfilm »Lost in Translation« in einer Tokioter Karaoke-Bar seine brüchige Stimme zu »More Than This« erhob, ließ ich meinen Tränen vollen Lauf.

Der Text ist dem soeben erschienenen Band »Beat Stories« hrsg. von Thomas Kraft, Blumenbar Verlag, München, 384 Seiten, 17,90 Euro, entnommen. Darin schreiben 80 Autoren über die Musik ihrer Jugend.