Starker Staat

In Chinas Sportsystem ist für Staatsdoping kein Platz. Die Erfolge basieren auf nachholender Modernisierung. von Martin Krauß

»Ich sage nur China, China, China.«Kurt-Georg Kiesinger

Spricht man über Sport in China, ist man schnell bei Doping, und recht bald fällt auch der Name Ma Junren. Der umstrittenene Leichtathletiktrainer versorgte Anfang der neunziger Jahre seine Langstreckenläu­ferinnen unter anderem mit einer Schildkröten­blut-Pilzextrakt-Suppe. Mit dem Namen Ma Junren verbindet man auch brutale Trainingsmethoden: Phasenweise ließ er seine Trainings­gruppe, »Mas Armee« genannt, täglich einen Marathon laufen und trieb sie mit Schlägen an, die er von seinem Motorrad aus verabreichte.

Er verkörperte den unbändigen Willen Chinas, in möglichst allen Bereichen Weltspitze zu werden. Und Mas Schildkrötenblut verwies darauf, wie sehr die mit Brutalität vollzogene nachholende Entwicklung, die an die Weltspitze führen soll, sowohl auf der bisherigen sozialen und kulturellen Verfasstheit der Volksrepublik China basiert als auch mit ihr in Konflikt gerät.

Die Schildkrötenblutsuppe ist ein Symbol. Sie steht für den Rückgriff moderner Trainingsmethoden auf Wirkstoffe, die aus der traditionellen chinesischen Medizin bekannt sind. In den Labors der westlichen Welt wurde damals schon nach synthetisch erzeugbaren Wirkstoffen geforscht, die beispielsweise die Bildung von Erythropoetin (Epo) bewirken soll. Die Schildkrötenblutsuppe stand dafür, dass es noch einen Bereich der Pharmakologie gab, der sich die­sem Verständnis synthetisch induzierter Leistungssteigerung entzog – und gerade deswegen als etwas Unergründlich-Dämonisches betrachtet wurde. In Mas Sportverständnis herrschte nicht der Glaube an eine biochemisch produzier­te Wunderpille, die dem Menschen übernatür­liche Kräfte verleiht. Als »Mas Armee« bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften 1993 mit bis dahin unbekannten Läuferinnen ungeahnte Erfolge feierte, unter anderem der späteren Olympiasiegerin Junxia Wang, wurden sofort Do­pingvorwürfe laut. Das Stuttgarter Publikum buhte die Siegerinnen aus.

Kaum jemand mochte in Mas Konzept die simple Übertragung sehr traditionellen Denkens und Handelns in die Moderne erblicken: brutales Training, gepaart mit als natürlich geltenden Wirkstoffen. Wenn dieses Sportkonzept überhaupt mit irgendetwas im europäischen Sport vergleichbar ist, dann am ehesten mit dem des ausgestorbenen und vor allem im Fuß­ball bekannten Trainertypus, der seine Jungs Gras fressen lässt und will, dass sie sich die Lun­ge herauskotzen.

Ma Junren zog sich 2004 im Alter von 60 Jahren aus dem Leistungssport zurück, schon bei den Olympischen Spielen 2000 war er nicht per­sönlich anwesend. Auch das verweist darauf, dass einer wie er eher ein anachronistisches Auslaufmodell im internationalen Sport war denn ein besonders dämonischer Zukunfts­bote.

Vermutlich symbolisierte Ma Junren ein letztes Aufbäumen der alten chinesischen Vergesellschaftung des Sports. Seine Schildkrötenblut­suppe, die für westliche Mägen und Gaumen ebenso ekelhaft anmutet wie Rinderzunge oder Schweinekotelett für Bewohner anderer Kulturkreise, markierte symbolisch die letzte kulturel­le Barriere des alten China zum Sport der westlichen Welt.

Doping, das man bei den Weltmeisterschaften 1993 in Stuttgart, wo »Mas Armee« die ersten Erfolge feierte, vermutete, wurde der Trainingsgruppe, anders als man vermuten möchte, selten nachgewiesen: Im Juli 2000 strich die chi­nesische Sportführung unter anderem sechs Langstreckenläuferinnen ohne Begründung aus dem Olympiakader; im Westen vermutete man Doping. Im April 2001 wurden zwei frühere Schützlinge Mas, Yin Lili und Song Liqing, wegen Dopings für zwei Jahre gesperrt.

In diese Fakten lässt sich viel hineininterpretieren: von mangelhaften Dopingkontrollen über schwierige Nachweisbarkeit bis hin zu staatlich oder kriminell organisierter Vertuschung. Aber im Vergleich zu Dopingfällen, die es unter chinesischen Sportlern in anderen Sportarten (z.B. Schwimmen oder Gewichtheben) oder in der Leichtathletik anderer Länder gab, stehen die chinesischen Langstrecklerinnen erstaunlich gut da.

Doch unabhängig davon, wie man die Fälle bewertet, wird klar, dass China aus der Dopingfalle nicht herauskommt. Auf die offiziellen Zahlen sollte man sich nicht verlassen, es wird gemutmaßt, dass einiges vertuscht wird, auch wenn die Kontrollen in den Jahren vor den Olym­pischen Spielen so stark sind wie nie zuvor. Der Onlinedienst sport-in-china.de, der vom Institut für Sportwissenschaften der Universität Tübingen rund um den Soziologen Helmut Digel betrieben wird, glaubt, dass das chinesische Antidopingsystem »mittlerweile durchaus als vorbildlich gelten kann«. Würden die Kontrollen, die innerhalb des Systems durchgeführt wer­den, aber mehr überführte Fälle ergeben, sähen sich die Beobachter in ihrem Verdacht, dass dort gedopt wird, erst recht bestätigt.

Im Dopingdiskurs schwingt viel mit: die Wahr­nehmung der Körper von als fremd wahrge­nom­menen Menschen, zumal anderer Ethnien. China eignet sich seit je als Projektionsfläche für Ängste. »Das ist zum einen die Angst vor der Menschenmasse«, beschreibt der Soziologe Oskar Negt das Phänomen. »Die Vorstellung, über eine Milliarde Menschen könnten sich auf den Weg nach Europa machen, mobilisiert Ängste der ›Überschwemmung‹, die es jetzt auf das Marktschlachtfeld der Waren und der Arbeitskräfte zieht.« Dass der Sport als Abbild gesellschaftlicher und staatlicher Leistungsfähig­keit fungiert, dafür steht die jüngere olympische Geschichte, spätestens seit 1936 und der damals eingeführten Länderwertung. »Andere Ängste mögen noch stärker erregen und tiefer sitzen«, fährt Negt fort. »Nämlich die, dass die Chinesen, nachdem sie sich ungefähr im 16. Jahr­hundert von der europäischen Modernisie­rungs­­entwicklung abgekoppelt hatten, dann auch durch den Kolonialimperialismus aktiv abgekop­pelt wurden, in einer Art Zeitraffertempo sich all das aneignen könnten, was in Europa und in den USA in einer langen Periode an kreativen Wirtschaftspotenzialen entfaltet wurde.«

Die pharmakologische Grundlage des Sports à la Ma Junren ist in den vergangenen Jahren beinahe ganz verschwunden: In China geht das tiefe Wissen über die natürlichen Heilmethoden und die Wirkstoffe von Kräutern und anderen natürlichen Substanzen immer mehr verloren. »Nur etwa 500 Ärzte der traditionellen Me­dizin praktizieren nach offiziellen Angaben noch in China«, schreibt Petra Kolonko in der FAZ. Wäh­rend in Europa und Amerika die chinesische Me­­dizin immer mehr Verbreitung finde, stecke sie in China in einer Krise. Die Gründe sind in der Öffnung der chinesischen Gesellschaft für den Weltmarkt zu suchen. »Mit Kräutermedizin und Akupunktur können Krankenhäuser kein Geld verdienen«, schreibt Kolonko.

Stattdessen gibt es in China eine starke und stärker werdende Pharmaindustrie. Ihr jährliches Wachstum liegt bei über 20 Prozent, im Vergleich dazu liegt die weltweite Wachstumsrate dieser Branche bei circa 13 Prozent. Von den etwa 5 000 Pharmafirmen in China befassen sich nur etwas mehr als 1 000 mit tradi­tioneller chinesischer Medizin; sie produzieren vor allem für den Export. In einem Report für die Fachmesse Achemasia aus dem Jahr 2004 heißt es: »Der inländische Einzelhandelsmarkt für Medikamente entwickelt sich mit einem jähr­lichen Wachstum von über zehn Prozent gut. Zusammen mit den fortdauernden Verbesserun­gen des chinesischen Krankenversicherungssystems hat dies Investitionen auf dem Einzelhandelsmarkt begünstigt. Drogerieketten weisen das höchste Wachstum im Bereich des Einzelhandelssektors auf, und der Wettbewerb nimmt zu.« Traditionelle chinesische Apotheken, in denen Kräuter gemischt werden, die vom Patienten dann zu Hause zu einem Sud ver­kocht werden, wird es künftig immer weniger geben. Dass Konzerne wie Bayer, Pfizer und Merck einen Verdrängungswettbewerb veranstalten, ist nicht der einzige Grund dafür. Auch können infolge der starken Umweltverschmutzung viele chinesische Heilkräuter nicht mehr die gewünschte Wirkung entfalten. Und die Um­weltverschmutzung generiert neue Krankheitsbilder, vor allem Bluterkrankungen, auf die die ohnehin im Schwinden begriffene traditionelle Medizin keine Antworten hat. Ein Beispiel für die Transformation des chinesischen Gesundheitssystems ist die Karriere von Vitamin B12. In den achtziger Jahren, zu Beginn der Weltmarktöffnung Chinas, lag die dortige Nachfrage bei 200 Kilogramm pro Jahr, mittlerweile sind es über 1 200 Kilogramm pro Jahr. »Mehr als 90 Pro­zent der Bevölkerung in vielen chinesischen Großstädten nimmt mittlerweile Vitamin B12 als Nahrungsergänzungsmittel ein, was zum Teil auf die Verfügbarkeit in überall erhältlichen Multivitaminpräparaten zurückzuführen ist«, heißt es im der Branche nahe stehenden Achemasia-Report.

Die Öffnung Chinas für den Weltmarkt verändert auf dramatische Weise das sich gerade im Sport ausdrückende Verhältnis zum Körper: Zu welchen Leistungen ist der menschliche Kör­per imstande, wo sind die Grenzen seiner Ausbeutbarkeit, wie viel Regeneration benötigt er?

Das China des Jahres 2008, in dem im Sommer die Olympischen Spiele stattfinden werden, ist gekennzeichnet von dem beinahe bereits geglückten Versuch, die Industrialisierung der Volkswirtschaft nachzuholen, um so den Anschluss an die auf dem Weltmarkt führenden Industrienationen sicherzustellen.

Diese nachholende Industrialisierung ist eine staatlich geleitete, die Kommunistische Partei Chinas führt sie mit brutaler Gewalt an. Vor dem Hintergrund dieses für die Bevölkerung schmerz­haften Prozesses ist das chinesische Sportsystem zu verstehen: sowohl die innenpolitischen und innergesellschaftlichen Funktionen, die sich die chinesische Staats- und Parteiführung vom Sport erhofft (Leistungsbereitschaft, Mo­tivation, Disziplin etc.), als auch das außenpolitische Ziel, sich mit den Olympischen Sommerspielen als Weltmacht zu präsentieren, die auch für Investoren interessant ist, denen man anhand des Weltereignisses Olympia gezeigt hat, dass die erforderliche Infrastruktur bereitgestellt werden kann.

In China habe sich, so schreibt der Frankfurter Sozialwissenschaftler Boy Lüthje, der lange in China geforscht hat, »ein relativ eigenstän­diger Typ kapitalistischer Entwicklung herausgebildet, also eine neue ›Spielart‹ des Kapitalismus in der Reihe der industriellen Ent­wick­lungs­­länder Asiens«. Eine Gleichsetzung mit europäischen, auch den früher sozialistischen osteuropäischen Gesellschaften verbietet sich. Schließ­lich zeichnet sich die Volksrepublik China, anders als die Sowjetunion, durch große Langlebigkeit aus. Von einer Krise keine Spur: China hat im Jahr 2005 Großbritannien als viertgrößte Industrienation abgelöst. Und die allmächtige Kommunistische Partei wacht dar­über, dass das Land nicht den Global Playern an­heimfällt. »Es ist, als habe China sich von Attac, den Globalisierungskritikern, beraten lassen«, schreibt der Publizist Frank Sieren, »und trotze nun dem Freihandel, zumindest insoweit er der Stabilität Chinas schaden könnte.«

Das chinesische Modell wird in weiten Teilen der so genannten Dritten Welt als attraktiv emp­­funden. Der Marburger Politikwissenschaft­ler Stefan Schmalz spricht davon, dass die Regierung Chinas »als wohlwollender Hegemon« auf­trete, den man gerne akzeptiere: In Afrika habe man 156 Schuldverträge und damit 1,3 Mil­liar­den US-Dollar Schulden erlassen, in Süd­ame­ri­ka investiere man in großem Maßstab, allein mehrere Milliarden US-Dollar in Schienennetze, den Wohnungsbau und die Erschließung von Energieressourcen in Argentinien, und den chinesischen Binnenmarkt öffne man gezielt für Anbieter aus Argentinien, Brasilien, Chile, Kuba und Venezuela.

Was zunächst attraktiv erscheint, offenbart bei genauerem Hinschauen deutliche Schattenseiten. Der ökonomische Erfolg basiert auf der brutalen Ausbeutung der Arbeitskraft in China und seinen Nachbarländern, wo chinesische Konzerne investieren. Es gibt in China geschätz­te 200 Millionen Wanderarbeiter, deren politische und soziale Rechte äußerst prekär sind. »De­monstrationen und Proteste entlassener Arbeiter sind heute in China ein alltägliches Bild, sie werden von den lokalen Behörden zumeist toleriert«, schreibt Lüthje. Über 80 000 Proteste, die von Demonstrationen bis hin zu Streiks reichen, werden jährlich offiziell regis­triert. Wahrscheinlich sind es noch mehr. Der Soziologe Robin Munro, der in Hongkong lebt, erzählt ein Beispiel: »Im März 2004 revoltierten die Arbeiter bei Stella International Factory. Das ist eine taiwanesische Firma, die qualitativ hochwer­tige Schuhe herstellt. Allerdings unter schlechten Arbeitsbedingungen. Die Arbeiter wurden seit Monaten nicht bezahlt, das Essen war mise­rabel, die Zustände in den Schlafsälen waren katastrophal, und die Fabrikdisziplin wurde mit harter Hand durchgesetzt. Repressalien, wie die Begrenzung der Toilettenzeit, waren üblich. Die Arbeiter verloren ihre Geduld. Tausende von ihnen zertrümmerten die Maschinen und warfen Autos um. Als die Polizei kam, wurden Dutzende Arbeiter festgehalten und zehn von ih­nen verhaftet.« Am Ende, nach westlicher Intervention, aber vor allem infolge des Wirkens mutiger Anwälte, wurden alle Arbeiter freigesprochen.

Zu den Besonderheiten des chinesischen Kapitalismus gehört, dass mit der Öffnung zum Weltmarkt auch gleich die Gewerkschaften von oben installiert wurden, als bislang noch nicht überall verbreitete Interessenvertretungen, und dass ein bescheidenes Sozialsystem auf­gebaut wird, bei dem man sich am deutschen Vorbild orientiert.

Diese Maßnahmen, die die erstaunliche po­litische Stabilität des chinesischen Systems zu erklären vermögen, haben aber etwas zur Voraussetzung, das es in der End- und Transforma­tionsphase der realsozialistischen Gesellschaften in Osteuropa nicht mehr gab: einen starken Staat.

Es zeigt sich der Doppelcharakter des starken Staats. Einerseits hat er dafür gesorgt, dass es auf der ganzen Welt nur in einem Land, nämlich China, in den WalMart-Betrieben gewerkschaft­liche Interessenvertretungen gibt. Andererseits ist es derselbe starke Staat, der 1989 das Massaker auf dem Tiananmen-Platz angerichtet hat. In genau der historischen Phase, in der sich die Sowjetunion und ihre verbündeten Staaten auflösten, ließ die Parteiführung in China den seit Wochen von demonstrierenden Studenten besetzten Platz des Himmlischen Friedens in Peking mit Armeepanzern räumen – unter Hinnahme von geschätzten 3 000 Toten.

Das Massaker am Tiananmen-Platz ist nur das augenfälligste Symbol der staatlichen Unter­drückung. Schlimme Repressionsdrohungen sind alltäglich: Für kleinere Delikte wie die Teilnahme an einer unerlaubten Versammlung, ­einen Verstoß gegen die Meldepflichten oder Pros­titution wird man ins Arbeitslager gesteckt. Das zentrale staatliche Instrument, mit dem man die Kriminalität bekämpfen möchte, ist die Todesstrafe. Erlaubte oder wenigstens tolerierte Formen des Widerstands finden sich nur in begrenztem Raum – aber es gibt sie. Eine starke und halbwegs zusammenhängende Protestbewegung macht das allerdings noch nicht aus. »Anfänge einer Zivilgesellschaft finden sich nur bei Rechtsanwälten, Journalisten und anderen mutigen Menschen«, sagt Jörg-Meinhard Rudolph vom Ostasien-Institut der Fachhochschule für Wirtschaft in Ludwigshafen.

Nach Informationen, die die Journalistin Grit Hartmann im Deutschlandfunk mitteilte, werden wegen der Olympischen Spiele Bettler und Drogenabhängige für ein Jahr statt bislang sechs Monate in Umerziehungslager gesteckt. »Die Menschenrechtssituation hat sich wegen der Olympischen Spiele dramatisch verschlechtert«, urteilt Hartmann.

Die sich in der Ausrichtung der Olympischen Spiele ausdrückende Öffnung der Volksrepublik China gegenüber dem Weltmarkt und den den Weltmarkt dominierenden liberalen Demokratien erfolgt, anders als es viele nach der Vergabe der Olympischen Spiele an Peking erwartet haben, nicht als politische Anpassung, sondern aus einer Position der Stärke: Die ökonomischen Rahmendaten sind gut, der Staat lenkt die ökonomische Entwicklung, der Staat ist stark. Aus chinesischer Sicht setzt sich gegenwärtig im Weltmaßstab sein politökonomisches Modell durch: Modernisierung, die von der Partei gesteuert wird. Der amerikanische Soziologe Giovanni Arrighi sieht in China gar die künftige Hegemonialmacht, also als die Nation, die nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch und kulturell die Welt prägen wird: »Chinas Aufstieg erinnert an den Aufstieg der USA während der Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So wie die Vereinigten Staaten sich als die wirklichen Gewinner des Zweiten Weltkriegs herausstellten, nachdem die UdSSR der Wehrmacht 1942/43 das Rückgrat gebrochen hatte, so deuten jetzt alle Zeichen darauf hin, dass China der wirkliche Gewinner des Kriegs gegen den Terror sein wird, unabhängig davon, ob es den USA gelingen wird, al-Qaida und den irakischen Aufständischen das Rückgrat zu brechen.«

In die frühere, vom Maoismus gekennzeichne­te und die gegenwärtige nachmaoistische Gesellschaft passte und passt sich das chinesische Sportsystem sehr genau ein.

Nach der Revolution 1949 stand der Sport un­ter zwei Maximen: Gesundheitsförderung und Wehrertüchtigung. Ohne eine ausgeprägte Sport­politik zu betreiben, nahm China 1952 an den Olympischen Spielen in Helsinki teil. Von Leistungssport konnte man damals aber nicht spre­chen. Als etwa 1950 die sowjetische Basketballnationalmannschaft China besuchte, fand sich in ganz Peking kein einziger Sportplatz, der wenigstens halbwegs den Anforderungen eines Basketballspiels genügt hätte. »Eine Schutzhalle aus Bambusmatten für ein Publikum von mehr als 2 000 Personen wurde gerade noch rechtzei­tig aufgebaut«, schreibt der Sporthistoriker Wang Wei-Xing.

1956 hatte China erste internationale Erfolge, doch in diesem Jahr stieg die Volksrepublik aus der Olympischen Bewegung aus: Sie boykot­tierte die Spiele in Melbourne, weil Taiwan teilnahm. 1958 ließ China die Beziehungen zum Internationalen Olympischen Komitee erst einmal ruhen. In diese Phase fällt der »große Sprung«, eine sich als katastrophale Misswirtschaft erweisende gescheiterte Industriepolitik, auf deren Kosten geschätzte 20 Millionen Todes­opfer gehen und die bis 1962 andauerte. Eine Parallele zwischen der Sportentwicklung und dem »großen Sprung« lässt sich dergestalt ziehen, dass beides zentral angeleitete und dirigistische Versuche waren, zur Weltspitze aufzuschließen, und dass beide dies auf einem primär nationalen Weg, ohne internationalen Austausch, erreichen wollten.

Im Sport waren die Nationalen Sportfeste der jeweilige Höhepunkt. Sie wurden 1959 mit 7 000 Teilnehmern erstmals ausgetragen. Seither gibt es sie ungefähr alle vier Jahre, zuletzt 2005 mit 10 000 Teilnehmern. Sportplätze und Hallen wurden gebaut, Trainer und Lehrer ausgebildet, eine landesweite Sportzeitung erschien, zwei sportwissenschaftliche Forschungsinsti­tute wurden gegründet, breitensportliche Wettkämpfe wurden organisiert, und auch an internationalen Wettkämpfen wie den Asienspielen beteiligte sich die Volksrepublik. Allein im Jahr 1965 wurden 41 Weltrekorde in 28 Disziplinen aufgestellt. Allerdings: »Es bestand damals aber die Neigung, die eigene Leistung aufzubauschen«, heißt es bei Wang Wei-Xing. Davon unabhängig stellte sich der Sport auch gerne in den Dienst des Staats: Zum Beispiel organisier­te der für den Flugsport zuständige Nationale Flugverein das Versprühen von Schädlingsbekämpfungsmitteln aus der Luft.

1966 rief die Kommunistische Partei die Kultur­revolution aus, Wang Wei-Xing formuliert im besten – ach, dass man dieses Wort mal beinah korrekt verwenden darf! – Parteichinesisch: »Das Sportsystem unterlag nun der militärischen Kon­trolle der ›Viererbande‹.«

Schon 1971 endete die kulturrevolutionäre Einflussnahme auf den Sport, während der die übrigen kulturellen Sektoren betreffende Terror der Roten Garden noch bis zu Maos Tod im Jahr 1976 anhielt. Ein Grund für die frühe Ausnahme des Sports aus dem Projekt der terroristischen Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft liegt in seiner Funktionalität für den Staat begründet. 1971 wurde eine Tischtennismannschaft der USA nach China eingeladen, und die so genannte Pingpong-Diplomatie machte den Weg frei zu politischen Kontakten zwischen den USA und China, was schon 1971 zum Uno-Beitritt Chinas führte.

1978, zwei Jahre nach Maos Tod, beschloss die neue KP-Führung um Deng Xiaoping wirt­schaft­liche Reformen, hin zu einer Öffnung gegenüber dem Weltmarkt. In etwa dieser Zeit, 1979, wurde beschlossen, den Hochleistungssport gezielt zu fördern. Man wollte auch in die­sem Bereich im internationalen Vergleich als Weltmacht wahrgenommen werden. Die Erfolge stellten sich bald ein: Bei den Asienspielen 1982 im indischen Neu-Delhi war China erstmals Num­mer eins der Nationenwertung. 1984 nahm Chi­na nach vielen Jahren der Abwesenheit wieder an Olympischen Spielen teil: zunächst im amerikanischen Lake Placid bei den Winterspielen, dann bei den von den meisten Staaten des Warschauer Pakts boykottierten Sommerspielen in Los Angeles – dort belegte China auf Anhieb den vierten Platz der Nationenwertung, in der freilich unter anderem die Sowjetunion, die DDR und Kuba fehlten.

Sowohl, was die Politik angeht, als auch, was die Wirtschaft betrifft, ist die Modernisierung und Transformation Chinas dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht durch eine wachsende und stärker werdende Zivilgesellschaft erzwungen wurde, dass sie ebenfalls nicht durch sich verschärfende Widersprüche zwischen alter politischer Verfassung und ökonomischen Zwän­gen der Weltmarktintegration bewirkt wurde, sondern dass stets die Kommunistische Partei unumstritten die Macht in den Händen hielt. Das lässt sich auch an der Sportentwicklung zei­gen. Hier hat es zur Folge, dass staatliche Ziele stets im Vordergrund stehen und der Sport, nicht einmal der in wachsendem Maße professionell betriebene Sport, etwa Fußball oder Tischtennis, nie autonome Forderungen entwickeln kann.

Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft ist sehr einseitig: beinah totale Macht beim Staat, beinah völlige Machtlosigkeit in der Gesellschaft; daher werden auch die meisten Unternehmen von Staatsangestellten geleitet, Lüthje spricht von einer Art »Managerkapitalismus«. Der di­rigistische Staat rekrutiert beispielsweise das Gros seiner Sporttalente aus entlegenen Provinzen. Die Eltern haben sich zwar finanziell an der Förderung zu beteiligen, aber ihre Kinder werden in weit entfernt gelegenen Sportschulen ausgebildet – eine gesellschaftliche Gegenmacht, die zumindest für eine Unterbringung der Kinder in der Nähe sorgen könnte, existiert kaum. Der starke Staat, so er sich auf der Provinzebene präsentiert und nicht den Weltmarkt im Blick hat, sondern eine verbesserte Stellung innerhalb des nationalstaatlichen Gefüges, denkt nicht langfristig. Eine behutsame Karriereplanung fin­det nur in seltenen Fällen statt: Zu kurzfristigen Erfolgen, die auch der Provinzsportorganisation, aus der der Sportler stammt, gutgeschrie­ben werden, kommt es oft auf der Grundlage des so genannten Verheizens. Das ist ein Grund, warum etliche chinesische Spitzenathleten oft nur wenige Saisons präsent sind. Das riesige Talentreservoir sorgt schnell für jeweilige Nachfolger, und der Staat kann das sicherstellen.

Dieser Befund vom starken Staat China, der alle gesellschaftlichen Bereiche kleinhält und kontrolliert, ist für den des Öfteren erhobenen Vorwurf des staatlich angeleiteten und stark betriebenen Dopings von großer Bedeutung.

Der chinesische Sport befindet sich, wie gezeigt, in der Dopingfalle: Große Erfolge, wie sie in den neunziger Jahren in der Leichtathletik oder im Schwimmsport erzielt wurden, nutzen, wenn an ihnen Dopinggerüchte hängen, den politischen Zielen nicht.

»Es geht den Chinesen vor allem ums Image, weniger um Goldmedaillen«, sagt etwa Grit Hart­mann mit Blick auf die bevorstehenden Olympischen Spiele. Und auch die offizielle chinesische Seite ist bereit, dies zu bestätigen. Jiang Zhixue, Leiter der Abteilung für Wissenschaft und Bildung beim staatlichen Hauptamt für Körperkultur und Sport, erklärte erst jüngst: »Das Jahr 2008 ist ein olympisches Jahr, und Antidoping steht als eine der wichtigsten Dinge oben auf unserer Agenda. Es betrifft die Gesundheit der Athleten, das internationale Image unserer Nation und das Ansehen des Sports.« Die strikte Antidopingpolitik lässt sich nach Ein­schätzung von sport-in-china.de seit Anfang der neunziger Jahre nachweisen.

Vergegenwärtigt man sich, dass in Anbetracht der Stärke Chinas im Weltsport – bei den Olympischen Sommerspielen 2004 in Athen belegte die Volksrepublik Platz zwei hinter den USA –, in Anbetracht der 1,3 Milliarden Einwohner und der gerade in den vergangenen Jahren enorm intensivierten Dopingtests es vergleichsweise wenig Dopingfälle in China gab, muss man sich von der Theorie des »flächendeckenden Do­pings« verabschieden.

Immer mal wieder nachgewiesene Dopingfälle – die Mehrzahl der Überführungen findet in China und nicht bei internationalen Wettkämpfen außerhalb des Landes statt – lassen sich aber auch kaum, wie etwa in westlichen Ländern, als Ausdruck individuellen Handelns verstehen. Zwar ist der staatlich vermittelte Anreiz, sportliche Höchstleistungen zu erzielen, hoch – für eine olympische Goldmedaille erhält nicht nur der einzelne Sportler eine Prämie, sondern auch die Provinzsportorganisation, die den Sportler hervorgebracht hat, noch umgerechnet 30 000 Euro Prämie –, aber das Primat des Politischen lässt solcherart individuellem Handeln wenig Spielraum.

Zwei Hauptursachen lassen sich für das Doping im chinesischen Sport benennen: zum einen der politische Wille in niedrigeren Hierarchiestufen der Sportorganisation, die oft von Korruption geprägt sind. Sport-in-china.de nennt ein Beispiel: »2006 deckte die Anti-Doping-Agen­tur nach anonymen Hinweisen ein kollektives Doping-Programm an einer chinesischen Sportschule auf, an der die 15- bis 18jährigen Jugendlichen von ihren Trainern regelrecht mit me­di­kamentöser Steuerung auf die Wettkämpfe aus­gerichtet wurden.« Zum anderen entstehen wohl viele Dopingfälle in der und durch die Trans­formation des Medizinsystems: Multimedikamentationswirkungen, Unkenntnis über neue Mittel, Unverträglichkeiten mit Mitteln der traditionellen chinesischen Medizin, phy­sische Veränderungen, die durch die Kombination von traditioneller Medizin mit Hochleistungssport entstehen et cetera. Nach Informationen von sport-in-china.de sind alle chinesischen Leistungssportler aus ökonomischen Gründen dazu angehalten, primär die traditionelle chinesische Arznei zu verwenden. Dies könnte mit den Anforderungen, die die internationale Konkurrenz an die Sportler stellt, in Kon­flikt geraten.

Stimmt dieser Befund, muss man konstatieren, dass Doping im chinesischen Sport nicht mal annähernd den Stellenwert besitzt, den man ihm im Westen gerne zuschreibt.

Aufgrund dieses Widerspruchs zwischen dem vielen, was man vermutet, und dem wenigen, was man nachweisen kann, entstehen auch andere Erklärungsmuster. Im Jahr 2001 sah der Sportjournalist Thomas Kistner in der Süddeutschen Zeitung voraus, dass China bei den Olympischen Spielen 2008 »womöglich ein Heer gen­therapierter Sportsoldaten einsetzen wird«. Die engagierte Dopingkritikerin und Schriftstellerin Ines Geipel berichtete 2007 auf einer Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung: »Die Vermutung ist, dass China für die Spiele im kommenden Jahr eine zweite, eine geheime Mannschaft vorbereitet, die momentan jeder Kontrollinstanz entgeht, da es sie ja praktisch nicht gibt. So ist etwa bekannt, dass 100 Schwimmer auf dem Weg nach Peking waren, von denen aber nur 50 in der dortigen Eliteschule ankamen. Was ist mit den anderen 50 passiert?« Und die prominen­te Dopinggegnerin Brigitte Berendonk formulierte in ihrem Buch »Doping-Dokumente« aus dem Jahr 1991: »Wer einmal die abartig gedrungenen Monstergestalten chinesischer Stoßerinnen gesehen hat, ahnt, wie sehr diese bedauernswerten Mädchen ›unter Stoff‹ stehen: eine Kulturschande.« Berendonk erscheinen nament­lich Sportlerinnen aus China und Kuba als »Men­schen vom anderen Stern«, als »androide ›Hormis‹ der Galaxis Anabolika«. Berendonks Ehemann, der Heidelberger Molekularbiologe Werner Franke, sagt, dass viele Bereiche des chinesischen Sports »völlig versaut« seien. Er fordert einen Olympiaboykott als »Aufstand der Anständigen«.

Dass diese und ähnliche Äußerungen der Realität des Sports in China gerecht werden, lässt sich kaum sagen. Dass sie die chinesischen Sportler und ihre Leistungen mit Respekt behandeln, wohl noch weniger. Vielmehr scheint das, was Oskar Negt am Beispiel eines Titelbilds des Spiegel über den »Angriff aus Fern-Ost« und den »Weltkrieg um Wohlstand« formulierte, auch hier zuzutreffen: dass nämlich »Ängste ge­schürt werden, die an das Schreckgespenst der ›Gelben Gefahr‹ erinnern«.

Im übertragenen Sinn kommt man wieder bei Ma Junren und seiner Suppe aus Schildkrötenblut mit Pilzextrakten an – Ekel vor dem Fremden.

Die Analysen lassen sich zusammenfassen: Da die Volksrepublik China nicht über seit Jahrzehnten, eigentlich Jahrhunderten gewachsene Sportstrukturen verfügt, wie sie eine gewachsene bürgerliche Gesellschaft hat, kann sie im internationalen Sport nur mithalten, wenn sie staatlich-dirigistisch angeleitet diese Sportstrukturen nachträglich errichtet. Das ist ein in die allgemeine Weltmarktöffnung integrierter Prozess, und der impliziert, dass auch der große Markt der Pharmaindustrie entsteht, d.h. die traditionelle chinesische Medizin verdrängt wird.

Die halbe Wahrheit über den chinesischen Sport mit Bezug auf Doping lautet: Je mehr China Dopingkontrollen durchführt und sie international überprüfen lässt, desto mehr Dopingfälle werden entdeckt werden, denn in dem gigantischen Transformationsprozess des chinesischen Gesundheitssystems entstehen viele Befunde, die von der Antidopingdiagnostik als nicht normal und folglich ahndungswürdig bezeichnet werden. Es ist ein Konflikt zwischen der traditionellen chinesischen Medizin und dem westlichen Gesundheits- und Heilungsverständnis, das sich selbstverständlich sehr stark dort zeigt, wo der Körper und die körperliche Leistungsfähigkeit zentral sind – im Sport. Die Folge ist ein massiver Verlust an Glaubwürdigkeit.

Die zweite Hälfte der Wahrheit über den chine­sischen Sport lautet aber: Je weniger sich China öffnet, desto weniger gelingt nicht nur die Welt­marktintegration und Modernisierung der Gesellschaft, sondern desto stärker entstehen Gerüchte über illegale Methoden. Die Folge ist auch hier ein massiver Verlust an Glaubwürdigkeit.

Soziologen nennen das eine »No-Win-Situa­tion«. Die chinesische Partei- und Staatsführung versucht dem auszuweichen, indem sie, begünstigt durch die starken ökonomischen Daten (die wiederum auf brutaler Ausbeutung basieren), keinen Zweifel am starken Staat lässt, der alles steuert.

Ein ähnliches Dilemma wird sich gewiss zeigen, wenn es zu den ersten Olympischen Spielen auf dem afrikanischen Kontinent kommt, bei denen ein afrikanisches Land mit großen sport­lichen Ambitionen anträte.

Im Kampf gegen Doping drückt sich nämlich auch der Wille der westlichen Welt aus, ihre Überlegenheit auf allen Gebieten zu demonstrieren. Ein Land wie China, das auf dem Weltmarkt und in der Weltpolitik Ansprüche auf eine Führungsposition anmeldet, steht selbstverständlich auch im Sport – und hier erst recht im Großpolitikum Olympische Spiele – in Konkurrenz zu westlichen Gesellschaften, in denen sich mal dieses, mal jenes und mal ein drittes Distinktionsverhalten artikuliert. Das kann mal die Rede von der mangelnden Demokratiereife sein, das kann mal offener oder versteckter Ras­sismus sein, und das kann mal die Entlassung eines gesamten kulturellen Bereichs in die vollständige Unglaubwürdigkeit sein. In unserem Fall: des Sports.

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber aus: Rolf-Günther Schulze und Martin Krauß (Hrsg.): Wer macht den Sport kaputt? Doping, Kontrolle und Menschenwürde. Das Buch erscheint Mitte April im Verbrecher-Verlag.