Vertrauen ist gut

Wer mit wem Sex hat, geht den Staat nichts an. von ron steinke

Die Erkenntnis, dass die Zeugung von Nachkommen mit dem eigenen Bruder oder der eigenen Schwester zu problematischen Verwirrungen führen kann, war in der Geschichte der menschlichen Zivilisation sicherlich ein nicht ganz unbedeutender Schritt. Auch dass der Inzest dem sozialen Fortkommen der Beteiligten nicht unbedingt zuträglich ist, dürfte ein Erfahrungswert aus sehr frühen Tagen sein. Die historische Erklärung eines gesellschaftlichen Tabus ersetzt aber noch keine Rechtfertigung für eine staatliche Strafvorschrift.

Denn was ist seither geschehen? Die Aufhebung der Strafbarkeit des einverständlichen Inzests im Jahr 1810 in Frankreich markierte nicht etwa den Rückfall der Franzosen in eine dunkle Vorzeit, sondern im Gegenteil einen Schritt hin zur Aufklärung: Wo niemandem Unrecht angetan worden ist, da gibt es für eine Gesellschaft auch nichts zu bestrafen. Das ist das Grundprinzip eines säkularen Strafrechts.

Wer den »einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen erwachsenen Geschwistern«, wie das Bundesverfassungsgericht den Inzest definiert, verbieten will, kommt also nicht umhin zu sagen, worin dabei das »Unrecht« bestehen soll. Um die sexuelle Selbstbestimmung kann es nicht gehen. Wenn in der Liebesbeziehung zwischen den Geschwistern Patrick S. und Susan K., auf die sich die Entscheidung des Gerichts bezieht, irgendeine Form von sexualisierter Gewalt vorgekommen wäre, dann wäre das auch ohne einen atmosphärisch grummelnden Inzest-Paragrafen strafbar gewesen, als sexueller Missbrauch oder Vergewaltigung.

»Kulturhistorisch begründete, nach wie vor wirkkräftige gesellschaftliche Überzeugungen« führte das Bundesverfassungsgericht stattdessen an – wohlgemerkt als Rechtfertigung für eine Gefängnisstrafe. Wenn schon gesellschaftliche Überzeugungen eine Strafe rechtfertigen, dann wäre es auch legitim, Homosexualität wieder unter Strafe zu stellen, sobald eine Mehrheit sie, wie in den sechziger Jahren in der Bundesrepublik, für unsittlich hielte. Derart begründete das Bundesverfassungsgericht damals tatsächlich seine Haltung. In Frankreich wurde die Homosex­u­alität dagegen bereits infolge der französischen Revolution straflos.

Man kann es gerne für eine doofe Idee halten, sich ausgerechnet in den Bruder oder die Schwester zu verlieben, wo die weltweite Auswahl an potenziellen Sexualpartnern doch reichlich groß ist. Zum »Unrecht« wird der einverständliche Sex unter Erwachsenen dadurch aber nicht, selbst wenn die beiden »Täter« es zum wiederholten Male, trotz einschlägiger Vorstrafen, mit Vergnügen oder ohne Vorspiel tun. Ihr Sex geht niemanden etwas an.

Was beim Inzest letztlich das Unheil ist, vor dem das Bundesverfassungsgericht meint, die Bevölkerung weiterhin mithilfe eines Inzestverbots bewahren zu müssen, erklärte das Gericht überraschend unumwunden. Ausschlaggebend seien »eugenische Gesichtspunkte«, auch wenn diese – was sonst? – »historisch missbraucht« worden seien. Ein Verstoß gegen das Inzestverbot sei nämlich geeignet, so erläuterte die richterliche Mehrheit im Zweiten Senat, der sich zu gleichen Teilen aus Kandidaten der SPD und der CDU zusammensetzt, »über das Zeugen von Nachkommen weitere schädliche Folgen hervorzurufen«, mit anderen Worten: Kinder mit »Erbschäden«. Was für ein Argument! Darf man es dann auch Menschen mit Behinderung verbieten, sich fortzupflanzen? Oder Frauen über 40? Auch bei ihnen besteht ein erhöhtes »Risiko«, Kinder mit Behinderungen zur Welt zu bringen.

Und die Kinder? Sie wären ohne den Inzest überhaupt nicht geboren worden, durch das Verbot ihrer Zeugung werden sie also nicht geschützt, sondern schlicht verhütet – statt per Präimplantationsdiagnostik per Strafgesetzbuch. Das Bundesverfassungsgericht nennt als logische Begründung für das Inzestverbot konsequenterweise nicht den Schutz der Kinder, sondern einen nebulösen »Schutz der Gesundheit der Bevölkerung«. Das bedeutet, wenn in unserer Gesellschaft behinderte Kinder gezeugt werden, dann sind wir alle irgendwie die Opfer.

Dass die »Apo in Roben« (Die Zeit) damit ein Recht der Gesellschaft auf Verhütung von erb­krankem Nachwuchs postuliert, ist daran noch nicht einmal das Ungeheuerlichste. Das höchste deutsche Gericht bezeichnet auf der Suche nach Gründen, die das Inzestverbot auch in säkularen Zeiten noch legitimieren, die Geburt eines Menschen als »Unrecht«, für das jemand zum Ausgleich ins Gefängnis muss. Wobei das »Unrecht« am Ende darin bestehen soll, dass das Kind mit einer Behinderung zur Welt kommt und die Eltern dies hätten ahnen können.