Fernsehserien sind besser als Kino

Der Fortsetzung folgen

Fernsehserien sind das neue Kino, nur viel besser.

The Wire« nennt sich die Serie, die von der Kritik in den USA so hymnisch gefeiert wurde wie kaum etwas zuvor in der Geschichte des Fern­sehens. Das dem Kinopublikum bislang hauptsächlich durch die Filme von John Waters bekannte, dort eher als trostlos beschriebene Baltimore bildet die Kulisse für dieses im Drogenmilieu spielende Epos, das mit den Werken von Dickens, Tolstoi und Dostojewski verglichen wurde. Also Literatur, die normalerweise nicht in Verbindung mit Fernseh­serien gebracht wird. Kein Superlativ scheint mehr auszureichen, um diesem Vielstünder, der in den letzten Monaten Woche für Woche auf den Bildschirm kam, gerecht zu werden. Erste ebenfalls entzückte Besprechungen dieses Mehrteilers des amerikanischen Bezahlsenders HBO, der hinter vielen der neuen Serien steckt, gab es be­reits in den deutschen Feuilletons von FAZ bis Taz, und das, obwohl sich noch nicht einmal ein hiesiger Programmchef dazu durchringen konn­te, »The Wire« auch hierzulande auszustrahlen.
Amerikanische Erfolgsserien sind eben für das deutsche Fernsehen nur noch bedingt Garanten für Spitzenquoten. Dank Internet und immer schneller erfolgender Zweitverwertung in DVD-Boxen ist so manche Serie hierzulande schon durch, bevor sie zu oft unmöglicher Zeit kurz vor Telefonratespielen gesendet wird. Nicht nur Film- und Musikfreunde machen sich immer unabhängiger von den Vermarktungsstrategen der Kulturindustrie, auch Serienfans wollen sich nicht mehr diktieren lassen, in welchem Turnus sie mitverfolgen können, wie Special-Agent Jack Bauer in »24« das Komplott gegen den Präsidenten der Vereinigten Staaten in den Griff bekommt oder Tony Soprano den Ärger mit seiner Mutter verarbeitet. Der Erfolg anspruchs­voller Serien gründet somit zwar auf dem Medium Fernsehen, hat sich letztlich aber unabhängig von ihm entwickelt. Frisch konvertierte Cineasten, die plötzlich auf Dutzendware aus dem vermeintlichen Nullmedium schwören, brau­chen keine Fernsehzeitschrift, sie greifen gleich in das DVD-Regal. Die gefeierte Western-Serie »Dead Wood« liegt nun als Box vor und wurde so immerhin zum »Film des Monats« in der aktuellen Ausgabe des Magazins Konkret, und das, ohne jemals im deutschen Free-TV aus­gestrahlt worden zu sein.
Die Zeiten, in denen es noch regelrechte Straßenfeger gab wie etwa »Dallas« oder »Denver Clan« sind damit unweigerlich vorbei. Der Konsum von Fernsehserien hat sich individualisiert. Amerikanische Serien haben inzwischen einen ähnlichen kulturellen Status wie Kino­filme, nur dass man über Kinofilme dank der Starttermine noch ein Gespräch am Tresen führen kann, das halbwegs zielführend sein kann, bei Serien steckt dagegen jeder in einer anderen Geschichte, in einer Schwulensoap, dem Elend amerikanischer Großstadtsingles, im ­alten Rom oder in allem zusammen, was aber auch nichts nutzt, wenn das Gegenüber ausschließlich das Treiben der Mafia in New Jersey verfolgt.
Das Problem ist einfach, dass es längst schon zu viele dieser hochwertigen Serien gibt. Fühlte man sich schon in Zeiten von »Ally McBeal«, »Des­perate Housewives« und »Sex And The City« sozial im Abseits, wenn man diese TV-Operetten nicht verfolgte, so ist es längst hoffnungslos, noch einigermaßen den Überblick über das gesamte Seriengeschehen zu behalten. Ständig hört man von neuen »must sees« oder muss sich in Internet-Foren darüber belehren lassen, dass die »Sopranos« zwar wirklich gut waren, aber leider Schnee von gestern sind. »Six Feet Under« sei abgründiger, »The Wire« eben noch komplexer und »Kampf­stern Galactica« habe ein­fach die bessere Action.
Auch wie die Zuschauer mit ihren Serien umgehen, ist undurchschaubarer denn je. Manche konsumieren ganze Staffeln am Stück, hängen dem Ende der einen Serie nach, während sie be­reits in den Anfängen einer zweiten oder dritten Serie stecken. Der »produktive Zuschauer«, von dem der Medienwissenschaftler Rainer Winter einmal sprach und unter dem er einen Rezipienten verstand, der einen »kreativen Kulturkonsum« betreibt, ist dank der technischen Möglichkeiten bei gleichzeitiger medialer Vielfalt produktiver denn je. Was man inzwischen alles für Möglichkeiten als Rezipient hat! Man kann Serienexperte werden, der zwischen der Qualität einzelner Staffeln seiner Lieblingsserie zu unterscheiden weiß, man kann nach einer Staffel schon wieder aussteigen oder auch nur mal kurz in irgendwas hineinschnuppern. Die Serie ist ein offenes Kunstwerk.
Serien der neuen Machart, hochkomplex, ver­schachtelt, voller Referenzen auf den eigenen Handlungsablauf genauso wie auf Film- oder Literaturgeschichte generell, können den Betrachter also in einer Art und Weise fordern, wie man es, sagen wir mal: vor den Simpsons, in Sachen Fernsehunterhaltung gar nicht für mög­lich gehalten hätte. Die Zeiten, in denen Serien reine Unterhaltung waren und ein Typ wie David Hasselhoff als Knight Rider in jeder Folge irgendeinen Unsinn mit seinem Auto besprach und irgendwelche Fälle nach stets demselben Handlungsmuster zu lösen hatte, sind unweigerlich vorbei.
In den »Kultserien«, die der Autor Harald Keller in seinem gleichnamigen Standardwerk aufführt und von denen wir alle zumindest mal etwas gehört haben, brauchte man kein Vorwissen, um bei der tausendsten Folge noch einsteigen zu können, ohne das Gefühl haben zu müssen, irgendetwas nicht richtig einordnen zu können. Bei »Alf« oder »Bonanza« ging in jeder Folge alles wieder von vorne los, Alf war immer wieder von neuem einfach bloß Alf. Doch schon bei den »Simpsons« war es ja so, dass die Serie immer mehr Spaß machte, je länger man dabei war. Weil man immer mehr verstand, weil die Figuren mit der Zeit immer plastischer wurden und ihre eigenwilligen Charismen erst entwickelten, weil es umso verblüffender wirkte, wenn die Figuren dann doch nicht so handelten, wie man es nach einer Weile eigentlich von ihnen erwartet hätte. Doktorarbeiten beschäftigen sich inzwischen mit den »Simpsons«.
Bei Serien wie »The Lost« oder »The Shield«, bei »24« und den »Sopranos« kann man es sich eigentlich gar nicht mehr leisten, eine Folge zu verpassen. Zu sehr greifen hier Handlungsstränge ineinander, breitet sich von Mal zu Mal das Gesamtkunstwerk klarer vor uns aus. Diese neuen Serien sind so konzipiert, dass man immer tiefer in die geschilderten Geschehnisse hineingezogen wird, deren Verwicklungen erst beim grande finale restlos aufgeschlüsselt werden. Der Autor Steven Johnson behauptet in seinem Buch »Everything bad is good for you« – einem Buch, in dem er die These aufstellt, dass Computerspiele und Fernsehen die Konsumenten nicht verblöden, sondern im Gegenteil intelligenter machen –, dass Serien inzwischen so komplex seien und ein so hohes Niveau erreicht hätten, dass man sie mit diversen Form­experimenten aus der Avantgardeliteratur vergleichen könne. Wir finden in diesen neuen Fern­sehserien tatsächlich Spielereien mit Strukturen und eine teils intensive Durchleuchtung von Motiven, die wir in keinem Kinofilm finden. Kein Kinofilm vermag es, ein derartiges Pychogramm einer Figur zu erstellen wie die »Sopranos«. Tony Soprano etwa wird über zig Stunden hinweg auch noch von seiner Psychologin so ausgiebig bearbeitet, bis wir meinen, wirklich alles von diesem Menschen zu wissen. Kein Kinofilm kann außerdem auf ein Kon­zept wie das von »24« vertrauen, ohne mit dem Etikett »Experimentalfilm« versehen zu werden. »24« spielt in Echtzeit, 24 Stunden Ereignis brauchen auch (na ja, ein wenig wird geschummelt) 24 Stunden Spielzeit, »24« ist natürlich überkonstruiert und voller irrwitziger Handlung, aber: es funktoniert.
Viel ist in letzter Zeit die Rede davon, dass diese Serien neuer Ordnung das neue, das bes­sere Kino seien. Es wird also Zeit, sich näher mit ihnen zu beschäftigen. In den nächsten Wochen werden einige unserer Autoren über ihre Lieblingsserien schreiben. Ein wenig hat uns erstaunt, dass beinahe jeder, den wir für diese Reihe anfragten, tatsächlich so etwas hat: seine Lieblingsserie.