Ende des Tarifkonflikts im öffentlichen Dienst

Friede, Freude, Arbeitskämpfchen

Harte Warnstreiks, windelweiche Kompromisse: Die Gewerkschaften haben sich in den vergangenen Tagen als äußerst wertvoll für die Wahrung des sozialen Friedens erwiesen.

In den vergangenen Wochen plagte die Sachwalter des Bestehenden die Aussicht, es könne zu einer großen Streikbewegung kommen. Was, wenn die Arbeiter der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) und die Verkäuferinnen des Einzelhandels, die Beschäftigten im öffentlichen Dienst und zu allem Überfluss auch noch die Postboten gleichzeitig die Arbeit niederlegen würden? In der Linken war von einer neuen Streikkultur die Rede, während die Bewusstseinsindustrie nach Kräften die Angst des deutschen Kleinbürgers vor der überquellenden Mülltonne schürte. Die Berliner Lokal­ausgabe der Bild-Zeitung meldete gar »Tote durch BVG-Streik« – »Sie musste das Fahrrad nehmen«, stand kleingedruckt neben der Schlagzeile –, als wollte sie anlässlich des Jubiläumsjahres von 1968 zu einer erneuten Blockade des Springer-Gebäudes einladen.

Binnen eines Tages jedoch löste sich das Szenario eines heißen Frühlings in Luft auf. Nachdem die Verdi-Führung das Arbeitgeberangebot für den öffentlichen Dienst zunächst für vollkommen unannehmbar erklärt hatte, weil es Arbeitszeitverlängerungen vorsah, stimmte sie in letzter Sekunde am Montag einem Kompromiss zu. Auf einen Schlag schrumpfte die befürchtete Streikfront damit um die 1,3 Millionen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. Um Mitternacht folgte der zweite Deal. Wiederum im letzten Moment wurden weitere Streiks bei der BVG abgewendet und Verhandlungen vereinbart, die auf der Grundlage des dubiosen Abschlusses im öffentlichen Dienst geführt werden sollen.
Vom neuen Kampfgeist, den besorgte Kommentatoren der Gewerkschaft wegen ihrer vergleichsweise harten Warnstreiks nachgesagt hatten, ist in diesem Ergebnis wenig zu spüren. Anstatt die für einen entschiedenen Interessenkampf überaus günstige Situation zu nutzen, hat die Verdi-Führung eine Arbeitszeitverlängerung auf durchschnittlich 39 Stunden hingenommen. Berücksichtigt man diese, bleibt unterm Strich auch kaum »mehr Cash in the Täsch«, wie die Gewerkschaft ihr Verhandlungsergebnis der Basis zu em­pfehlen versuchte.

Dass die Zeichen einige Wochen lang in eine andere Richtung deuteten, war vor allem ein Ergebnis des Streiks der Lokführer, der den Muff der deutschen Sozialpartnerschaft kurzzeitig lüftete. Zwar verfehlte die Gewerkschaft deutscher Lokführer (GDL) die anfangs geforderte Lohnerhöhung von 31 Prozent deutlich und opferte auf dem Verhandlungstisch kurzerhand Zugbegleiter, Gastronomiepersonal und Rangierlokführer, um für ihre eigentliche Klientel Verbesserungen herauszuholen. Doch elf Prozent Lohnerhöhung und eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit um eine Stunde sind ein Ergebnis, wie es DGB-Gewerkschaften schon lange nicht mehr erzielt haben. Erreicht wurde es durch eine Streikpraxis, die sich für hiesige Verhältnisse erstaunlich unbekümmert um das Wohl des Standorts zeigte.
So wie der ähnlich geartete Ärztestreik im Jahr 2006 von anderen Krankenhausbeschäftigten keineswegs nur als elitäre Abspaltung, sondern zugleich als Vorbild wahrgenommen wurde (Jungle World 39/06), stößt auch das offensive Handeln der GDL unter den Lohnabhängigen auf allerhand Sympathien. Es deutet sich das skurrile Phänomen an, dass die von einem ehemaligen Bundestagsabgeordneten der CDU geführte GDL als eine Alternative zu den etablierten Gewerkschaften wahrgenommen wird, wie sie andernorts linke Basisgewerkschaften, etwa die französische SUD oder die italienischen Comitati di Base, darstellen. Seit dem Streik bei der Bahn verzeichnet die GDL einen starken Zulauf und ist mittlerweile auch in einigen kommunalen Verkehrsbetrieben vertreten. Bei der kürzlich erfolgten Gründung einer Betriebsgruppe des Berliner Nahverkehrs warb sie für sich damit, das DGB-Dogma von der Arbeitsplatzsicherung durch Lohnverzicht abzulehnen, und riet ihren neuen Mitgliedern, »euer Ding selber in die Hand zu nehmen und euch nicht mehr von praxisfernen Funktionären fremdbestimmen zu lassen«.
Von einer Massenbewegung kann dabei keine Rede sein, und schon gar nicht von einer, die über gewerkschaftliche Lohnkämpfe hinausgehen oder sich gar die Abschaffung des Lohnsystems aufs Banner schreiben würde. Selbst die bescheidenen Hoffnungen, die sich zurzeit an die GDL heften, dürften rasch enttäuscht werden. Schon im Bahnstreik bestand das oberste Ziel ihres Vorsitzenden Manfred Schell darin, die Anerkennung seiner Gewerkschaft als eigenständige Tarifpartei durchzusetzen. Gleichwohl wird das Monopol, das der DGB als Repräsentation der Arbeitskraft faktisch innehat, nun in einem bedeutenden Sektor von einer Konkurrenzorganisation in Frage gestellt, die sich betont kämpferisch gibt. Nicht auszuschließen, dass dieses Beispiel Nachahmer findet, und in jedem Fall ist es Ausdruck einer wachsenden Unzufriedenheit mit dem sozialpartnerschaftlichen Kurs des DGB, der Jahr um Jahr nichts als Arbeitsverdichtung und Reallohnverluste zum Ergebnis gehabt hat. Nur als Symptom dieser Unzufriedenheit ist die GDL von Interesse.
Die aktuellen Tarifrunden zeigen, wie der DGB mit dieser unbequemen Situation fertig zu werden versucht: Er passt sich in seinem Gebaren dem allmählichen Stimmungsumschwung an, um gleichzeitig seinen bisherigen Kurs fortzusetzen. Im öffentlichen Dienst wurden die Forderungen ein wenig in die Höhe geschraubt und die Warnstreiks etwas härter geführt – um am Ende eine Arbeitszeitverlängerung durchzuwinken. Beim BVG-Streik zeigt sich dasselbe Bild. Anfangs forderte Verdi acht bis zwölf Prozent Lohnerhöhung und verlieh dieser vergleichsweise hohen Forderung mit einem aggressiven Warnstreik Nachdruck. Dann standen zwölf Werktage lang die Busse und Bahnen still, 10 000 Arbeiter befanden sich im Ausstand, der Streik bestimmte die öffentliche Diskussion in Berlin. Plötzlich setzte Verdi den Streik aus und erklärte, für die Aufnahme von Verhandlungen sei bereits ein Angebot von drei Prozent mehr Lohn ausreichend.

Welchen Reim soll man sich darauf machen? Eine verbreitete linke Gewerkschaftskritik besagt, die hohen Funktionäre verrieten die Sache der einfachen Arbeiter, da sie dem zum Verhandlungspartner mutierten Klassenfeind in Wahrheit näher stünden. Ein Blick auf die Karrieren zahlloser Gewerkschaftsführer verleiht dieser Deutung einen Anschein von Plausibilität. Die ehemalige Vorsitzende der ÖTV etwa, Monika Wulf-Matthies, die im Jahr 1992 den letzten großen Streik im öffentlichen Dienst gegen das Ergebnis der Urabstimmung beendete, hat es mittlerweile zur Topmanagerin bei der Post AG gebracht. Und wer weiß schon, welchen Posten Frank Bsirske noch ergattern wird?
Verschwörungstheorie hilft aber auch in diesem Fall nicht weiter. Das merkwürdige Lavieren, das die Gewerkschaften des DGB an den Tag legen, ist schlicht Folge ihres institutionalisierten Daseins, der Tatsache, dass sie mit Haut und Haar in das Rechtsgefüge des bürgerlichen Staates hineingewachsen und zur gesellschaftlichen Ordnungsmacht geworden sind. Die Eskalation von Streiks ist manchmal vonnöten, um die zahlenden Mitglieder nicht zu verprellen, birgt aber immer die Gefahr in sich, dass das Gesetz des Handelns der Gewerkschaft entgleitet. Nichts schreckt die Gewerkschaftsführungen so sehr wie Anzeichen von einer Selbsttätigkeit der Arbeiter, die, auch wenn das in Deutschland höchst selten vorkommt, außer Kontrolle geraten könnten.
Auch Bemühungen, andere Lohnabhängige in laufende Streiks einzubeziehen, werden aus diesem Grund fast nie unternommen. Gewerkschaften bringen bestimmte Arbeiter zusammen und trennen sie von anderen. Während des Tarifkonflikts bei der BVG wäre nichts nahe liegender gewesen, als auf die Straße zu gehen, die Auseinandersetzung auszuweiten, die Solidarität anderer Arbeiter zu suchen. Nichts dergleichen geschah. Eingeteilt nach ihren normalen Schichtplänen standen die Beschäftigten isoliert voneinander an den Betriebshöfen herum. Für die einzige Demonstration der BVG-Arbeiter wurde auf eine beinahe klandestine Weise geworben, die kümmerlichen 500 Teilnehmer beendeten ihren Umzug nicht etwa vor dem Roten Rathaus, sondern in einem toten Winkel Ostberlins, wo sie niemanden störten und kaum jemand sie bemerkte.
Für die Wahrung des sozialen Friedens haben sich die Gewerkschaften schon lange nicht mehr so wertvoll erwiesen wie in den letzten Tagen. Die Streiks, die erfolgreich abgewendet wurden, hätten zu einer Situation führen können, in der der gewerkschaftliche Apparat, das fein abgestimmte Zusammenspiel von kontrollierter Mobilisierung der Arbeiter und Verhandlungsführung, nicht mehr reibungslos funktioniert. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Entwicklung mag man für gering halten, aber die Angst vor der Unordnung plagt nicht nur den Kleinbürger, sondern auch die Gewerkschaftsführer.