Das besetzte Haus als soziales Experiment

Drinnen und draußen

Das Leben im besetzten Haus war ein sozio­lo­gi­sches Experiment, das die Ideen Jean-Jacques Rousseaus widerlegt hat.

Hinterher ist man immer schlauer, manchmal auch vorher schon. Anfang der Achtziger, als in Kreuzberg und anderswo etliche Häuser besetzt waren, hat wohl niemand ernsthaft angenommen, die Sache könnte ein gutes Ende nehmen. Weder war man so blauäugig zu glauben, es könnte in Lummers Berlin ein Christiania entstehen, noch hat irgendeiner die Rebellen als künftige Häuslebesitzer gesehen. Dass einige der Typen, die den Begriff des Eigentums mit Lust herunterrissen, wenige Jahre später zu seinen kleingeistigen Verteidigern zählen würden, hat niemand geahnt. Vielleicht die Statler und Waldorf der Bewegung allein, die dann wohl 1980 schon gewusst haben, dass es zu schwarzgrünen Koalitionen kommen wird.
Aber die im Morgengrauen die Buden stürmenden und verwüstenden Bullen, die Wagen, die mit Tränengas gemischtes Wasser in die Menge schossen, vielleicht sogar den Tod des Klaus-Jürgen Rattay, all das konnte man voraussehen. Man nahm es in Kauf. Denn das Leben außerhalb der Regeln war das Beste an der ganzen Geschichte. Ohne festen Wohnsitz, ohne Beruf und Einkommen, aber auch jenseits der von Deutscher Bank, Horst Herold und Helmut Schmidt befriedeten Gesellschaft, das hatte vorübergehend seinen Reiz. Die BRD der siebziger und achtziger Jahre machte den Eindruck, von Niklas Luhmann am Reißbrett entworfen worden zu sein; eine verwaltete Nullwelt. Schlimmer war auch die DDR nicht.
Das Leben in den besetzten Häusern forderte allerdings noch einen höheren Preis als die Dresche der Polizisten: Das waren die Voll- und Hausversammlungen. (Ich gebe gern zu, nur eine einzige besucht zu haben. Aber mir wurde ausführlich berichtet.) Hier mussten sich die sozialen Ideen, die die Hausbesetzer entwickelten, konkretisieren und bewähren. Es kam schlimmer als erwartet. Denn solche Zusammenkünfte treiben selbst bei harmlosen Menschen die unangenehmsten Strebungen hervor, sonst unauffällige Neurotiker haben ihre großen Auftritte und halten die gesamte Hausgemeinschaft in Atem. An läppischen Problemen wie Küchendienst, Raumzuteilung und Beherbung von Gästen enzündeten sich Feindschaften, die zum Teil noch heute bestehen.
Hier zeigte sich ganz praktisch, dass nicht Rous­seau, sondern Montesquieu den richtigen, den bösen Blick auf die entstehende Gesellschaft hatte. Am absoluten Anfang des sozialen Lebens erweist dieses sich als ganz besonders widerlich. Draußen also die Gesellschaft im Leerlauf, im Endzustand, drinnen die Gesellschaft im Entstehen – und bald zeigte sich die Alternative als eine zwischen Pest und Cholera.