Serge Paugam im Gespräch über Formen der Armut

»Armut hat eine soziale Funktion«

Über zehn Jahre hat Serge Paugam für sein Buch »Die elementaren Formen der Armut« Datenmaterial in Europa gesammelt und relevante Diskurse gesichtet. Ein Gespräch mit dem französischen Soziologen über die unterschiedlichen Mechanismen des Umgangs mit den Mittellosen und Prekären in den europäischen Gesellschaften

Mit welchen Problemen ist man konfrontiert, wenn man sich dem Thema Armut in soziologischen Kategorien nähern will?

Der Soziologe muss sich von der Art und Weise, wie man Armut üblicherweise definiert, distanzieren. Mir erscheint wichtig, sich nicht mit der in den westlichen Ländern üblichen, rein monetären Definition zufrieden zu geben. Offiziell lebt man unter der Armutsgrenze, wenn man monatlich weniger als 60 Prozent des Durchschnitts­einkommens verdient. In der Realität scheint es illusorisch, das Phänomen Armut lediglich anhand dieser Einkommensschwelle erfassen zu wollen. Der Soziologe muss sich folgende Frage stellen: Was bewirkt, dass eine Person von der Gesellschaft als arm definiert wird und diese Person keine andere soziale Identität mehr besitzt, als arm zu sein? Hier beginnt die soziologische Reflexion. Die Frage ist also nicht, wie man Armut messen kann, sondern welchen Platz sie in unserer Gesellschaft einnimmt. Wie wird Armut als soziale Kategorie konstruiert? Es ist eine fast anthropologische Feststellung, dass jede Gesellschaft ihre Armen definiert.

Nach welchen Kriterien erfolgt diese Definition?

Eine Gesellschaft definiert ihre Armen zunächst mal durch den Wunsch, eine Lösung für dieses Problem zu finden. Und diese Lösung besteht in einer Politik der Unterstützung einer Gruppe von Individuen, die von der Gesellschaft als legitime Empfänger dieser Unterstützung angesehen werden. In allen Gesellschaften versucht man, Armut politisch einzugrenzen. Man könnte einerseits sagen, dass es sich hier um Unterstützung und Hilfe für die Armen handelt, aber man könnte genauso gut von sozialer Kontrolle und der Regulierung eines Bevölkerungsteils sprechen. Die jeweiligen Politiken, die diesen Bevölkerungsteil betreffen, sind in allen Gesellschaften abhängig von bestimmten Entwicklungen. In gewissen Fällen kann man von wohlwollenden Politiken sprechen, mit denen man Formen sozialer Ungerechtigkeit korrigieren möchte, in anderen Fällen unterstellt man den Armen Faulheit und übt Druck auf sie aus.

Welche Unterschiede in den Sozialpolitiken gibt es innerhalb Europas? Nehmen wir beispielsweise Deutschland und Spanien.

Man muss sich zunächst über die Mechanismen der Sozialhilfe im Klaren sein. Die Sozialhilfe ist Teil eines allgemeinen Sozialsystems. In Ländern wie Deutschland und Frankreich gibt es, seitdem das Sozialsystem existiert, eine Unterscheidung zwischen der Sozialversicherung und der Sozialhilfe. In den meisten Ländern lässt sich also von einer Dualität sprechen. Wenn man dieses Phänomen einmal erkannt hat, fällt einem auf, dass die Kategorie derer, die die Sozialhilfe beanspruchen, in den letzten Jahren deutlich angestiegen ist. Im Fall von Spanien oder allgemein der Mittelmeerländer hat man im Vergleich zu Deutschland ein weitaus weniger entwickeltes Sozialsystem. Arbeitslose werden beispielsweise viel weniger unterstützt, da kein vergleichbares Sozialversicherungssystem existiert. Darüber hinaus gibt es für Spanien noch kein definiertes Mindesteinkommen.

Welche Kompensationsmöglichkeiten gibt es da?

In den Mittelmeergesellschaften herrscht ein anderer Umgang mit Armut. In der Regulierung von Armut spielt das familialistische Modell eine fundamentale Rolle. Man vertraut auf die Familienbande und den Zusammenhalt der verschiedenen Generationen, um benachteiligten Gruppen zu helfen. Dies ist eine Konzeption, die in Ländern, in denen man wesentlich stärker auf die Rolle des Staates oder auch des Marktes insistiert, weitaus weniger existiert. Unsere Gesellschaft ist eine Gesellschaft von Individuen, die eine größere Autonomie und Emanzipation des Individuums von seiner Familie ermöglicht. Deshalb hat man in Ländern wie Deutschland oder Frankreich weitaus größere Schwierigkeiten, sich auf familiäre Solidarität zu berufen.

Welche sozialpsychologischen Folgen haben diese verschiedenen Sozialsysteme auf Menschen in Armut?

Der wichtigste Unterschied ist, dass die Stigmatisierung armer Bevölkerungsteile in Ländern wie Spanien geringer ist. Das in Armut lebende Individuum ist besser in die Familienstruktur integriert. Diese Form der Armut habe ich »integrierte Armut« genannt. Das Individuum fühlt sich, obwohl es wirtschaftlich gesehen arm ist, einer sozialen Gruppe zugehörig und dadurch sozial weniger ausgegrenzt. Neben der sozialen Integration durch die Familie spielt hier natürlich auch eine Rolle, dass Armut in diesen Ländern weniger ein marginales als vielmehr breites gesellschaftliches Phänomen ist. Diese Wahr­neh­mung von Armut in der Öffentlichkeit macht die Situation, sich in Armut zu befinden, erträglicher.

Das deutsche System stigmatisiert also die Betroffenen?

Ja. Ich würde sogar sagen, das deutsche System, das den Ländern und den lokalen Instanzen einen großen Spielraum in der Vergabe von Sozialleistungen lässt, führt dazu, Menschen in Armut abzuwerten. Obwohl sie ihnen helfen wollen, stigmatisieren die Institutionen die Menschen, da sie sie individuell betrachten. Speziell in Deutschland ist das Sozialsystem extrem individualisiert. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Hilfen, die man bekommen kann, die Behörden handeln aber immer von Fall zu Fall.

Sie sprachen bereits von sozialer Kontrolle.

Ja, von einer sehr starken Kontrolle des Individuums, das, damit ihm geholfen wird, dazu gezwun­gen wird, sich vor den Behörden regelrecht auszu­ziehen. Die Behörden dringen sehr gezielt in das Privatleben des Einzelnen ein, um festzu­stellen, auf welche Art und Weise ihm geholfen werden kann. Das ist ein System, das letzlich dazu führt, Arme herabzusetzen und zu erniedrigen.

In Ihrem Buch sprechen Sie von Zyklen im Umgang und in der Wahrnehmung von Armut. Wie ordnen Sie die aktuelle Situation in Europa ein?

Seit Anfang der Jahrtausendwende sind wir in einer Phase, in der Armut immer stärker individuell betrachtet wird. Armut wird weniger als ein kollektives gesellschaftliches Problem als vielmehr als ein Problem einzelner Individuen angesehen, die für ihre Situation selbst verantwortlich sind. Die Tendenz, Faulheit als Erklärungsmuster für Armut anzusehen, nimmt zu. Noch in den neunziger Jahren hingegen, als wir noch höhere Arbeitslosenzahlen hatten, kreiste der öffentliche Diskurs stärker um die Frage von sozialer Gerechtigkeit. Als beispielsweise 1988 in Frankreich über das Gesetz für die (französische Sozialhilfe) RMI abgestimmt wurde, sah sich die Gemeinschaft in der solidarischen Verpflichtung, kollektiv gegen Armut vorzugehen. Heute würde dieses Gesetz in dieser Form nicht mehr verabschiedet werden. Der Zeitgeist hat sich geändert. Daher denke ich, dass es Zyklen gibt, in denen Armut als gemeinschaftliches Problem erkannt wird, das es solidarisch zu lösen gilt, und Zyklen, in denen Armut eher zu einer Politik der Repression und zur Verurteilung der Individuen führt.

Könnte man sagen, dass es heute in Europa mehr Armut gibt als früher?

Ich denke nicht, dass man es so ausdrücken kann. Es hängt davon ab, wie man Armut definiert. Akzeptiert man die statistisch-monetäre Messung als eine von mehreren möglichen Formen, mit der man Armut bestimmen kann, kann man sagen, dass es heute nicht mehr Arme gibt. Armut tritt heute jedoch verstärkt innerhalb anderer sozialer Kategorien auf. Zum Beispiel gab es in Frankreich in den sechziger und siebziger Jahren große Altersarmut. Wenn man die heutigen Formen von Armut betrachtet, so stellt man fest, dass sie häufig junge Menschen betreffen. Menschen, die es nicht schaffen, im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.

Sind es die prekären Arbeitsverhältnisse, die diese neue soziale Kategorie von Armen schaffen?

Was die Prekarität anbelangt, so gibt es zwei miteinander verbundene Phänomene. Aufgrund der Verschlechterung der Situation auf dem Arbeitsmarkt besteht zunächst das Risiko, seinen Arbeitsplatz zu verlieren und einem Prozess des sozialen Statusverfalls zu folgen. Dieses bereits in den achtziger und neunziger Jahren auftretende Phänomen lässt sich auch heute noch feststellen. Darüber hinaus gibt es heute aber ein System der sich wiederholenden Prekarität. Besonders junge Menschen mit zu geringer Qualifikation für den Arbeitsmarkt unterliegen dem Risiko, regelmäßig arbeitslos oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen zu sein. Man kann also von einem Zustand der dauerhaften und sich wiederholenden Prekarität sprechen.

Welche Folgen hat dies für die kollektive Mentalität der Gesellschaft?

Unsere Gesellschaft ist immer stärker mit einer allumfassenden Prekarität konfrontiert. Da sie diese aber als individuelles Risiko ansieht, hat dies paradoxerweise zur Folge, dass sich unsere Gesellschaft immer weniger solidarisch verhält. Psychologisch manifestiert sich dies in einer Angst, die individuell erfahren wird. Jedes Individuum versucht, sich individuell gegen­über dieser Situation abzusichern, wodurch Mechanismen der kollektiven Solidarität verloren gehen. Man fixiert sich also auf sich selbst, anstatt Prekarität als ein kollektives Phänomen wahrzunehmen. Außerdem versucht man verstärkt, sich nach unten abzugrenzen. Wenn man zum Beispiel die sozialen Probleme der französischen Banlieues untersucht, so fällt auf, dass sich der Rassismus vor allem in Zonen entwickelt, die geografisch nah an diesen sozialen Brennpunkten liegen. Man fühlt sich von der Armut in der Banlieue bedroht, weshalb man sich von ihr möglichst radikal abgrenzen will.

Kann man den Armen eine soziale Funktion für unsere Gesellschaft als Ganzes zuweisen?

Das ist eine Frage, die ich mir oft gestellt habe. Ich denke, dass Armut eine soziale Funktion hat. Man könnte auch sagen, dass, wenn unsere Gesellschaft Armut wirklich beseitigen wollte, sie es schaffen würde. Ein massiver Res­sourcen­trans­fer in Richtung der ärmsten Bevölkerungsschicht würde reichen. Dies nicht zu tun, bedeutet aber, dass man Armut als unvermeidlich ansieht und akzeptiert. Letztlich sichert man mithilfe der Sozialsysteme lediglich den gesellschaftlichen Status quo.

Könnte man behaupten, dass diese Gesellschaft Arme braucht?

Vom soziologischen Standpunkt aus betrachtet kann man sagen, dass unsere Gesellschaft die Existenz von Armut akzeptiert und sich mit oder auch trotz ihr reguliert. Ich denke auch, dass die Art und Weise, wie wir mit Armut umgehen – Armut mit einem Fürsorgesystem zu begegnen und Arme als faul zu stigmatisieren –, dazu dient, den wohlhabenden Bevölkerungsteil von einem zu großen steuerlichen Druck zu entlasten. Soziale Ungleichheiten werden als akzeptabel angesehen und dienen so dazu, eine gewisse Arbeitsethik zu verstärken oder aufrechtzuerhalten.

Serge Paugam: Die elementaren Formen der Armut. Aus dem Französischen von Andreas Pfeuffert. Hamburger Edition, Hamburg 2008, 336 Seiten, 30 Euro