Tibet ist größer als Tibet, meint der Dalai Lama

Tibet ist größer als Tibet

Die chinesische Regierung soll mit dem Dalai Lama reden, fordern die EU und die USA. Allerdings sind in der Vergangenheit alle Verhandlungen gescheitert.

Er strebe nicht die »Unabhängigkeit oder Trennung« Tibets von China an, sagte der Dalai Lama. »Wenn die Gewalt außer Kontrolle gerät, ist der Rücktritt meine einzige Option.« Bei der Pressekonferenz in Seattle am Sonntag war der Dalai Lama bemüht, dem Bild eines gemäßigten und friedlichen geistigen Oberhaupts der Tibeter zu entsprechen. Auf diesem Bild beruht die ideelle Unterstützung, die er aus dem Westen erhält. Die Parlamente der EU und der USA forderten die chinesische Regierung auf, mit dem Dalai Lama zu verhandeln.
Das Ziel der Unabhängigkeit Tibets gab der Dalai Lama offiziell bereits 1988 auf, damals formulierte er die Politik des »mittleren Weges«. Er wolle nach Tibet zurückkehren, wenn China weitgehende Au­tonomie garantiere und die Re­gion demilitarisiert werde. Nicht die vor 1959 herrschende Theokratie solle restauriert, sondern ein Mehrparteiensystem eingeführt werden. Seitdem schlägt sich der Dalai Lama mal als Übergangsgouverneur vor, mal bie­tet er den Rückzug aus der Politik an. Die Vorstellungen, wie weit die Autonomie gehen soll, variie­ren zwischen dem Hong-Kong-Modell (»Ein Land – zwei Systeme«) und dem Status Schottlands innerhalb Großbritanniens. Die weitgehende Autonomie des Hong-Kong-Modells würde einem tibe­tischen Gouverneur z.B. erlauben, die Zuwanderung von Han-Chinesen zu unterbinden.
Für die chinesische Regierung kommt ein Hong-Kong-Modell nicht in Frage, weil die Partei in Tibet dann die Macht abgeben müsste und keine »separatistischen Bestrebungen« verbieten könnte. Unannehmbar ist für sie auch, dass der Dalai Lama zu Tibet nicht nur die »Autonome Provinz Tibet« zählt, in der ca. 2,4 Millionen Tibeter leben, sondern auch das »ethnische Tibet«. In den angrenzenden Provinzen Qinghai, Sichuan, Gansu und Yunnan leben noch weitere ca. 2,8 Millionen Tibeter. Da viele Exiltibeter aus »Ost-Tibet« stammen, könnte der Verzicht auf diese Region die Community spalten.

Im Chinesischen gibt es kein geläufiges Wort für das »Groß-Tibet«, in dem nur ca. die Hälfte der Bevölkerung Tibeter sind. Auch in den Nachbarprovinzen wurden autonome Gebiete für die Tibeter eingerichtet, allerdings unter der Administration der jeweiligen Provinz. Der Dalai Lama fordert also nicht Geringeres als Autonomie auf ca. einem Viertel des Staatsgebiets der Volks­repu­blik China.
Die Tibeter gehören nicht zu den größten der 55 offiziell anerkannten Minderheiten Chinas, von denen viele im Westen kaum bekannt sind. Die chinesische Führung hat den Zerfall Jugoslawiens genau beobachtet und fürchtet einen Auftrieb von »separatistischen Tendenzen« in der Inneren Mongolei und Xin­jiang sowie eine Stärkung der Unabhängigkeitsbewegung in Taiwan, falls man die Kontrolle über Tibet verlieren würde. Befürch­tet wird außerdem, dass eine »weitgehende Auto­nomie« nur der erste Schritt zur Unabhängigkeit sein könnte.
Derzeit ist die chinesische Kritik an der »Dalai-Clique« wieder sehr scharf. Die Beziehungen waren jedoch wechselhaft. Von 1951 bis 1959 bestand eine Einheitsfront zwischen der KPCh und der theokratischen Oligarchie in Tibet. Wie kein anderer Vertreter einer Minderheit wurde der junge Dalai Lama von Mao Zedong hofiert. Die KPCh musste allerdings die Erfahrung machen, dass auf diese Weise die abhängigen Bauern und Leibeigenen nicht gewonnen werden konnten. Als der Dalai Lama nach dem Scheitern des tibetischen Aufstandes 1959 nach Indien floh, verbreitete die chinesische Regierung zunächst die Version, er sei von »Reaktionären« entführt worden.
Mit Hilfe der CIA wurden Tausende Tibeter an Waffen ausgebildet und führten in Teilen Tibets einen erbitterten Guerillakrieg. Im Vorwort des Buches »Buddha’s Warriors« von Mikel Dunham drückt der Dalai Lama für diese Kämpfer seine Bewunderung aus. An andere Stelle betonte er, auch wenn er selbst langfristig eine friedliche Lösung anstrebe, so hätten die Tibeter damals keine andere Wahl gehabt. Der friedliche Weg müsse nicht für immer die Strategie darstellen.

In China wurde der Dalai Lama erst 1964 öffentlich als Verräter angegriffen und in den Kampagnen der darauffolgenden »Kulturrevolution« (1966 bis 1976) kritisiert. Mit den »demokratischen Reformen« nach 1959 wurden große Teile des Bodens der Klöster und Großgrundbesitzer an die Bauern verteilt. Die Kollektivierung der Landwirt­schaft wurde erst Anfang der siebziger Jahre abgeschlossen. In dieser Zeit gelang es der KP, Teile der tibetischen Jugend und der armen Bauern zu gewinnen. Die Entwaffnung und Kollektivierung der Nomaden führte allerdings immer wieder auch zu gewaltsamem Widerstand.
Die Unterstützung für den bewaffneten Widerstand stellten die USA im Zuge der Annäherung an China nach 1972 ein. Im indischen Exil eta­blierte der Dalai Lama zum ersten Mal in der tibetischen Geschichte einen modernen Nationalismus. Vor 1950 dachten weder die Bauern und Nomaden noch die Mehrheit der Geistlichen in nationalstaatlichen Kategorien. Tausende Flücht­linge und die Zerstörung der Klöster waren jedoch bestens geeignet, um eine nationale Iden­tität zu kreieren.
Mit dem Beginn der Reformpolitik nach 1978 griff die chinesische Regierung die Einheitsfrontstrategie wieder auf. Die Führung in Peking glaubte, die Legitimität ihrer Herrschaft über Tibet durch die Rückkehr des Dalai Lama stärken zu können. 1979 und 1980 besuchten drei Delega­tionen der tibetischen Exilregierung mit einem Bruder des Dalai Lamas Tibet. Die örtliche Parteiführung hatte zuvor noch die Tibeter ermahnt, ihren »Klassenhass« unter Kontrolle zu halten. Als dann Tausende Tibeter der Delega­tion einen überwältigen Empfang bereiteten, waren die Kader zutiefst geschockt. 1981 machte die chinesische Regierung dennoch dem Dalai Lama das An­gebot, als geistiges Oberhaupt des tibetischen Buddhismus in die Volksrepublik zu kommen, wenn er die Verfassung und die Zugehörigkeit Tibets zu China anerkenne. Die Bedingungen wurden später noch um die Annahme der chinesischen Staatsbürgerschaft erweitert. Auch 1998 fanden unter der Regierung von Jiang Zemin Geheimverhandlungen statt, in denen allerdings keine Ergebnisse erzielte wurden.

Auch wenn gegenwärtig der Dalai Lama als die Ursache allen Übels in Tibet präsentiert wird, so hat sich die staatliche Propaganda seit den neun­ziger Jahren doch deutlich geändert. Vor allem während der »Kulturrevolution« wurden die Klös­ter des alten Tibets als »menschenfressende Höh­len« darstellen. Derzeit schickt die chinesische Regierung tibetische Folkloregruppen um die gan­ze Welt und versucht, den Tibet-Kitsch in den eigenen Dienst zu stellen. Über 50 Tibetologie-Institute in China produzieren Berge von Filmen, Fotobänden und wissenschaftlichen Büchern, die beweisen sollen, dass Tibet schon seit dem 13. Jahr­hundert fester Bestandteil Chinas ist. Bunte Propagandabroschüren für Ausländer sollen den erneuten Aufschwung der buddhistischen Kultur dokumentieren und betonen die wirtschaftlichen Errungenschaften.
Die Solidarität für die Tibet-Bewegung weltweit zeigt jedoch, dass die chinesische Gegenpropaganda kläglich gescheitert ist. Allerdings ist der Dalai Lama seinen Zielen seit 1959 auch noch keinen Schritt näher gekommen. Für die chi­nesische Regierung sind die Proteste ein Ärgernis, weil sie die Inszenierung der Olympischen Spie­le beeinträchtigen. An den Verhältnissen in Tibet ändert das nichts, die chinesische Führung kann sich weiterhin Einmischung in die »inneren Angelegenheiten« verbitten und die Krise aussitzen.