Die Opposition im Iran ist vielfältig, aber zersplittert

Kein Licht im Becher

Mit kultureller Dissidenz, illegalen Streiks und spontanen Rebellionen protestieren Iraner gegen das islamistische Regime. Doch die Gegenseite ist gut gerüstet, und die oppositionellen Strömungen sind zersplittert.

»Meine Eltern lassen mich nicht viel ausgehen. Aber ich will trotzdem an dem teilhaben, was meine Freunde tun, also tue ich es online«, sagt die 19jährige Roya. »Es« ist Cybersex, wenigstens am Anfang, »romantische Begegnungen mit Jungs«, von denen Roya glaubt, dass »die Hälfte von ihnen mir wahrscheinlich falsche Bilder schickt. Aber das ist mir egal.«
Roya soll gar keine Bilder mehr von sich ins Internet stellen oder versenden dürfen, wenn es nach der Regierung geht, jedenfalls keine, die ihr Gesicht zeigen. Auch die Tugendterroristen gehen mit der Zeit. Um ihre Kleidungsvorschriften im Cyberspace durchzusetzen, begannen sie Anfang April eine Einschüchterungskampagne. Eine Abteilung der Sittenpolizei drohte allen, »die auf ihrer Yahoo-Seite 360 unmoralische und unadäquate Bilder veröffentlicht haben«, dass man mit Hilfe der »zugänglichen IP-Nummer gesetzlich gegen Sie vorgehen« werde.
Nicht zu Unrecht fürchten die Ayatollahs, dass die Kommunikation im Internet die Dissidenz fördert. Die US-Anthropologin Pardis Mahdavi interviewte in Teheran Roya und 80 weitere Jugendliche, die Hälfte von ihnen gab an, über das Internet einen Sexualpartner gefunden zu haben. Viele beginnen mit Cybersex, denn so »können wir sicher sein, dass sich das Risiko eines ersten Rendezvous tatsächlich lohnt«, erklärt der Student Gohar. Neben schlüpfrigen Bemerkungen werden auch verbotene Kulturgüter ausgetauscht, zum Beispiel Musik der Rockband O-Hum, die nach Ansicht des Ministeriums für Kultur und Islamische Führung den moralischen Standards nicht genügt. Mahdavi spricht von einer »entstehenden Jugendbewegung«, sogar von einer »sexuellen Revolution«, die »vielen von uns Hoffnung auf einen potenziellen Regime Change gibt«. Die von Mahdavi untersuchte Jugendkultur ist ein Phänomen der Mittelschichten, kaum mehr als zehn Prozent der Iraner haben einen Internetzugang. Doch auch in anderen Schichten regt sich Widerstand.

An Material für die Sperrung der Straßen mangelte es den Arbeitern von Kian Tyre in Teheran nicht. Sie konnten sich in den Lagern der Reifenfabrik bedienen, um Barrikaden zu errichten und anzuzünden. Anfang April traten sie in den Streik, um die Auszahlung der seit Herbst 2007 zurückgehaltenen Löhne zu erzwingen. Als eine Woche später nichts geschehen war, besetzten sie die Fabrik und blockierten die Umgebung. In der Nacht zum 13. April stürmte die Polizei den Betrieb und prügelte die Arbeiter vom Gelände, mehrere hundert Streikende wurden festgenommen.
Im April gab es noch mindestens vier weitere Arbeitskämpfe, viele Streiks werden gar nicht oder erst Wochen nach ihrem Ende bekannt. Das Risiko ist erheblich, Streikenden drohen neben einer Entlassung Haft- und Körperstrafen. So wurden im Februar in Sanandaj fünf Arbeiter ausgepeitscht, weil sie im Vorjahr an einer Kundgebung zum 1. Mai teilgenommen hatten.
Der Streik der Ölarbeiter hatte maßgeblich zum Sturz des Schah-Regimes beigetragen, und es ist den Ayatollahs nie gelungen, die Arbeiter für die »Islamische Republik« zu begeistern. In den Jahren 1991 und 1992 gab es nach offiziellen Angaben 2 000 Streiks. Mit dieser bislang größten Streikwelle reagierten die Lohnabhängigen auf das Ausbleiben der versprochenen »Friedensdividende« nach dem Ende des iranisch-irakischen Krieges. Die derzeitige Situation ist vergleichbar. In den vergangenen zehn Jahren stieg der Ölpreis um mehr als 1 000 Prozent, dementsprechend größer wären die Möglichkeiten des Regimes, die Armut zu mildern. Vor allem dem Versprechen, die Öleinnahmen zur Armutsbekämpfung einzusetzen, verdankte Mahmoud Ahmadinejad seine Wahl zum Präsidenten.
Mit allen Mitteln versucht das Regime daher, die Gründung unabhängiger Gewerkschaften zu verhindern. Das ist bis jetzt gelungen, ebenso wie die Zerschlagung aller anderen Ansätze unabhängiger Organisierung. 1999 und in den folgenden Jahren kam es zu Protesten der Studierenden, deren öffentlichen Aktionen sich häufig andere Iraner anschlossen. Dem Regime ist es jedoch offenbar gelungen, die Strukturen der Bewegung zu zerschlagen. So protestierten zwar im vergangenen Jahr Teheraner Studenten mit Slogans wie »Kein Krieg, kein Faschismus« und »Die Frauen müssen ihr über eigenes Schicksal entscheiden, nicht der Staat« gegen einen Besuch Ahmadinejads an der Universität, doch gibt es derzeit keine Aktionen jenseits des Campus. Ähnlich erging es den Frauen, die im Rahmen einer Kampagne eine Million Unterschriften zur Änderung von diskriminierenden Gesetzen sammeln wollten. Das Regime erklärte sie zu einer Gefahr für die »nationale Sicherheit«, Dutzende Frauen wurden inhaftiert.

Recht häufig kommt es zu spontanen Protesten auf den Straßen, meist werden Polizisten und andere Tugendwächter attackiert, die Passanten wegen ihres angeblich unmoralischen Äußeren belästigen. Auch über den religiösen Gehorsam ihrer Untertanen müssen die Ayatollahs sich Sorgen machen. Einer von Mansoor Moaddel geleiteten Befragung zufolge besuchen nur 27 Prozent der Bevölkerung einmal pro Woche einen Gottesdienst, weniger als in jedem anderen untersuchten islamischen Staat oder auch den USA.
Stille Verweigerung, intellektuelle und kulturelle Dissidenz, sozialer Protest, spontane Angriffe auf die Ordnungshüter – das Widerstandspotenzial im Iran ist ohne Zweifel groß. Doch von der Revolte zur Revolution ist es ein weiter Weg, zumal den Oppositionellen ein effektiv organisierter und ideologisch motivierter Feind gegenübersteht. Neben Polizei, Geheimdiensten und Streitkräften sind dem Regime die paramilitärischen Verbände, vor allem »Revolutionsgarden« und Basiji, zu Diensten.
Die Mitgliederzahl der Basiji wird mit mehr als 12 Millionen angegeben, eine wahrscheinlich übertriebene Zahl, doch sollte die soziale Basis des Regimes auch nicht unterschätzt werden. Neben Gruppen wie den Bazaaris, den Großhändlern, die von den Verhältnissen in der »Islamischen Republik« profitieren, gibt es Millionen von Menschen in den Mittel- und Unterschichten, die dem Regime freiwillig folgen. Reinheit, Opferbereitschaft und Stärke, die Vorstellung, an einem heiligen Ringen mit dem »großen Satan« USA teilzuhaben, all das sind ideologische Motive, für die vor allem junge Männer empfänglich sind. Zu den rabiatesten Tugendterroristinnen gehören jedoch auch ältere Frauen, deren Kinder im iranisch-irakischen Krieg starben und die sich nun berufen sehen, die Ehre ihrer »Märtyrersöhne« zu verteidigen.
Immer stärker stützt sich das Regime auf die militärischen und paramilitärischen Verbände. Ahmadinejad, selbst ein ehemaliger »Revolutionsgardist«, hat Positionen auf allen Ebenen der politischen Hierarchie mit Offizieren besetzt. Die bärtigen alten Männer aus den Moscheen werden verdrängt durch Uniformierte mittleren Alters, die in der Regel noch bornierter sind als die Geistlichen.

Das Regime hat seine ideologischen Möglichkeiten erschöpft. Auf den charismatischen »Revolutionsführer« Khomeini folgten der »Pragmatiker« Hashemi Rafsanjani und der »Reformer« Mohammed Khatami. Dann kam Ahmadinejad, der Sohn eines Schmieds, der sich auf die Ideale der Revolutionszeit berief und versprach, Khomeinis Kampf für die »Entrechteten« wieder aufzunehmen. Es gab leichte Schwankungen in der Intensität des Tugendterrors, an den Prinzipien der islamistischen Herrschaft hat sich jedoch ebensowenig etwas geändert wie an den materiellen Lebensverhältnissen der Bevölkerungsmehrheit.
Die Streitigkeiten unter den islamistischen Fraktionen waren nie grundsätzlicher Art. Vielmehr ging es um die angemessene Reaktion auf die unerwünschten Folgen der kapitalistischen Modernisierungspolitik. Die Ayatollahs stehen hier vor einem Dilemma. Die Notwendigkeit der Bildung, auch für Frauen, sehen sie ein. Dass die Mittel- und Oberschicht Anreize braucht, um zu besonderen Leistungen motiviert zu werden, wissen sie ebenfalls. Doch gebildete Frauen mit einem eigenen Einkommen sind weit eher motiviert und fähig, für ihre Rechte zu kämpfen, und wer mehr Geld hat, als er zum Überleben braucht, wird des recht dürftigen legalen Unterhaltungsangebots im Iran schnell überdrüssig.
Es fehlt jedoch an Ideen und Organisationen, die die diversen dissidenten und oppositionellen Strömungen zusammenführen könnten. Die Klassenspaltung zieht auch kulturelle Grenzen, und die Neidpropaganda des Regimes scheint bei vielen Iranern noch zu verfangen. Wer sich keine Satellitenschüssel leisten kann, wird kaum gegen deren Verbot protestieren.
Unter den Dissidenten wird dieses Problem seit einigen Jahren verstärkt diskutiert. »Warum wir iranischen Blogger Unrecht hatten«, erklärte Nema Milaninia bereits im Jahr 2005 anlässlich der Wahl Ahmadinejads zum Präsidenten auf der Webseite Free Thoughts on Iran: »Die große Mehrheit der Journalisten, einschließlich der Blogger, hat sich auf die Ziele und die Kämpfe der unzufriedenen Teheraner Jugend konzentriert statt auf die unzufriedenen Armen im Iran.« Doch auch arme Iraner interessieren sich für persönliche Freiheit, und die Hoffnungen, die Ahmadinejad bei vielen von ihnen geweckt hatte, dürften mittlerweile verflogen sein.

Es ist den Ayatollahs nicht gelungen, so etwas wie eine »islamische Volksgemeinschaft« herzustellen. Mittlerweile gibt es sogar unter den Geistlichen Dissidenten, die befürchten, das islamistische Regime werde ihren Stand, womöglich gar die Religion diskreditieren. Andere Iraner bedienen sich der keineswegs puritanischen Tradionen des persischen Islam. Hafez, der Ende des 14. Jahrhunderts gestorbene berühmteste Dichter des Landes, schrieb Zeilen wie »Schenk! Erleuchte mit dem Licht des Weins den Becher«. Nicht einmal die Ayatollahs wagen, seine Werke zu verbieten. Wenn O-Hum »Hafez in Love« singen, wird die Veröffentlichung hingegen nicht genehmigt. Bis zur nächsten Revolution haben die Iraner die zweifelhafte Ehre, in einem Land zu leben, in dem mittelalterliche Verse subversive Herausforderungen sind.