Russische Arbeiter protestieren gegen niedrige Löhne

Schicht im Schacht

Immer mehr russische Lohnabhängige weh­ren sich gegen niedrige Löhne und schlech­te Arbeitsbedingungen. Die meisten Streiks sind illegal.

Glücklich sind die Russen nicht. Im europäischen Vergleich liegt das Maß an Zufriedenheit der russischen Bevölkerung mit den Arbeits- und Lebensverhältnissen am untersten Ende der Skala. Nur die Bulgaren sind noch schlechter dran. Dies jedenfalls besagen die Ergebnisse einer im Frühjahr veröffentlichten soziologischen Vergleichsstudie.
Mit 95 Prozent gibt es zudem nirgendwo in Europa so viele abhängig Beschäftigte wie in Russland. Nur wenige verdienen gut, der Niedriglohnsektor ist groß, während die Preise für Lebensmittel und andere Waren hoch sind. Das ist nicht der einzige Grund für die Unzufriedenheit. Auch die Arbeitsbedingungen lassen zu wünschen übrig. Insofern nimmt es kaum Wunder, dass immer mehr russische Lohnabhängige ihre Interessen offensiv vertreten.

Häufig allerdings müssen sie um das Wenige kämp­fen, das ihnen eigentlich zusteht. Bei den gegenwärtigen Arbeitskämpfen spielt das für die neunziger Jahre typische Phänomen der Lohnrückstände noch eine Rolle. Nach Angaben der Statistikbehörde Rosstat halten russische Unternehmen seit über zwei Jahren Lohnzahlungen von umgerechnet über 50 Millionen Euro zurück. Etwa 800 000 Euro schuldet etwa das Papierkombinat in Krasnowischersk im Permer Gebiet, wo der Durchschnittslohn knapp über 140 Euro liegt, seinen Beschäftigten. Die Belegschaft entschied sich Ende Januar, in den Hungerstreik zu treten, um die ausstehenden Löhne einzufordern. Bislang allerdings ohne Erfolg.
Wesentlich mehr Aufmerksamkeit der Medien erregte der Konflikt im Schacht »Rotkäppchen« in der Stadt Severuralsk, in dem Bauxit für die russische Aluminiumholding Rusal abgebaut wird. Ende März weigerten sich über 100 Berg­arbeiter, nach Beendigung der Nachtschicht den Schacht zu verlassen, solange ihnen nicht die geforderte Lohnerhöhung zugesagt wird. Nach der Beendigung der Aktion eine Woche später traten 41 Arbeiter in den Hungerstreik, den sie am 18. April schließlich einstellten. Am Folgetag gelang es der Belegschaft, nach einer Reihe geschei­terter Versuche eine Vollversammlung einzuberufen, auf der unter anderem die Forderung nach einer 50prozentigen Lohnerhöhung erhoben wurde.
Die Unternehmensleitung von Sevuralboksitruda, dem Rusal zugehörigen Betreiber des als un­rentabel deklarierten Schachts, gibt einen Durchschnittslohn von etwa 810 Euro an. Der Vorsitzen­de der unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft NPG, Walerij Zolotarjow, spricht indes von 500 Euro inklusive aller Prämien und Lebensmittelzuzahlungen für Schwerstarbeit; manche Bergarbeiter müssten sich auch mit Monatslöhnen von knapp über 200 Euro begnügen. In dem Schacht fehlen mittlerweile qualifizierte Arbeitskräfte, wer kann, sucht sich eine Arbeit in der Uralmetropole Jekaterinburg beim Metrobau. Wer dort arbeiten will, benötigt eine Unterkunft. Die Mieten sind hoch, und für den Preis einer Wohnung in Severuralsk kann man in der Großstadt bestenfalls ein Zimmer bekommen. Wer eine Familie hat und kein Risiko eingehen will, bleibt notgedrungen zurück.

Der Streik bei »Rotkäppchen« verstoße gegen die geltende Arbeitsgesetzgebung, entschied Ende vergangener Woche das Swerdlowsker Kreisgericht. Dies war zu erwarten, da die gesetzlichen Anforderungen an einen legalen Streik kaum erfüllbar sind und auch von den streikenden Bergarbeitern nicht fristgerecht eingehalten werden konnten. Neben vielen anderen Bedingungen braucht es die Zustimmung der Mehrheit der Gesamtbelegschaft. Eine solche Zustimmung einzuholen, scheitert im Regelfall bereits am Widerstand der Betriebsleitungen, die Vollversammlungen mit allen Mitteln zu unterbinden versuchen. Über 90 Prozent der Gerichtsentscheide in Hinblick auf die Streiks der vergangenen Jahre fielen zu Ungunsten der Lohnabhängigen aus.
Die Bergarbeitergewerkschaft NPG ihrerseits hät­te indes allen Grund, selbst gegen Sevuralboksitruda vor Gericht zu ziehen. Offenbar aus Angst vor Solidaritätsaktionen und einer unvermeidlichen Ausweitung des Arbeitskonfliktes veranlasste die Betriebsleitung während des Streiks die vorübergehende Schließung aller vier Bauxitschächte in der Region. Die NPG sieht das als gesetzlich unzulässige Aussperrung.
Die Vorgeschichte des Streiks spiegelt die Verhältnisse in vielen russischen Betrieben wider. Mitglieder der NPG berichteten von zahlreichen Versuchen der Betriebsleitung, Druck auszuüben. So verhinderte das Management die Versetzung einzelner Arbeiter auf höher dotierte Posten, unterband Zusatzschichten zur Lohnaufbesserung und verhängte eine Urlaubssperre in den Sommer­monaten. Per Telefonanruf sollten Gewerkschafts­mitglieder zum Austritt aus der NPG bewogen werden. All dies löste letztlich spontane Proteste aus und ließ sogar die Mitgliederzahl der NPG spürbar anwachsen.

Für Schlagzeilen sorgt in Russland derzeit auch der Nestlé-Konzern. Die Betriebsgewerkschaft im Werk in der Stadt Perm forderte im vergangenen Dezember eine Lohnerhöhung um 48 Prozent, da das reale Einkommen der Belegschaft seit Jahren sinkt. Das Management veranlasste eine Anhebung um 15 Prozent und stellte weitere 1,5 Prozent in Aussicht, während die Gewerkschaft auf weiteren 6,5 Prozent besteht. Nestlé spricht von einem Durchschnittslohn von etwa 510 Euro, während die Betriebsgewerkschaft bei den bestbezahltesten Arbeitern einen Höchstlohn von 400 Euro ermittelte. Seit vier Monaten verlaufen die Gespräche mit der Betriebsleitung ergebnislos. Larisa Seliwanowa, die Vorsitzende der Betriebsgewerkschaft, wirft dem Management unlautere Verhandlungsmethoden vor. Informationen, zu deren Freigabe der Konzern verpflichtet sei, würden mit Verzug oder gar nicht bereitgestellt. Die letzte der im monatlichen Rhythmus durchgeführ­ten und mit der Leitung abgestimmten Betriebsversammlungen wurde verhindert, da das Manage­ment den Beschäftigten untersagte, den Arbeitsplatz zu verlassen. »Wir denken inzwischen über einen Streik nach«, sagte Larisa Seliwanowa der Jungle World. »Aber ohne einen Streikfonds können wir es uns nicht erlauben zu streiken. Den müssen wir noch haben.«
Anders als Arbeitskämpfe in russischen Betrieben erregte der Konflikt bei Nestlé internationale Aufmerksamkeit, die für die Beschäftigten nützlich sein könnte. Am 5. Mai wird sich die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Genf mit den Vorgängen in Perm auseinandersetzen.