Zum 15. Jahrestag der weitgehenden Abschaffung des Asylrechts

Die Zeit der Bescheidenheit

Flüchtlingsarbeit ohne Flüchtlinge: Die weit­­gehende Abschaffung des Asylrechts vor 15 Jahren hat die Bedingungen für antirassistische Initiativen grundlegend und dauerhaft verändert.

Der »Wille des Volkes« lässt sich nicht aufhalten. Das mussten 10 000 Demonstranten am 26. Mai 1993 in Bonn erfahren. Sie blockierten damals das Regierungsviertel. Vergebens versuchten sie, die Parlamentarier daran zu hindern, »Volkes Wille« zu vollstrecken. Doch diesem Willen, der sich kurz zuvor in den rassistischen Pogromen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, in den rassistischen Mordanschlägen von Mölln und Solingen und an zahlreichen anderen Orten manifestiert hatte, standen die 10 000 antirassistisch gesinnten Demonstranten hilflos gegenüber: In der Parlamentsabstimmung wurde das Asylrecht weitgehend abgeschafft.
»Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« – das hatte bis dahin im Artikel 16 gestanden, der als Konsequenz aus den Verbrechen der Nationalsozialisten 1949 ins Grundgesetz aufgenommen worden war. CDU/CSU, FDP und SPD machten ihn mit einem im so genannten Asylkompromiss beschlossenen Zusatzartikel so gut wie ungültig. Durch die Einführung des Artikels 16a genießen seitdem nur noch Flüchtlinge Asyl, die nicht aus einem »sicheren Herkunftsland« kommen. Und »sicher« ist es in recht vielen Ländern, zumindest überall dort, wo Regierungen foltern, die der Bundesregierung freundschaftlich verbunden sind. Wer doch aus einem Land kommt, dessen schreck­liche Verhältnisse sich gar nicht leugnen lassen, und es bis Deutschland schafft, den trifft meist die so genannte Drittstaatenklausel des Artikels 16a: Wer über ein sicheres Land einreist, darf keinen Asylantrag mehr stellen.

Dass es sich nicht verhindern ließ, dass mit dem Paragrafen 16a die »Asylanten-raus«-Rufe des rassistischen Mobs gleichsam ins Grundgesetz geschrieben wurden, war auch für die antirassistische Bewegung eine Zäsur. »Mit dem so genannten Asylkompromiss hat die Bewegung auf alle Fälle einen schweren Schlag erlitten«, erinnert sich etwa Biplab Basu, der sich schon vor 1993 bei der Antirassistischen Initiative (ARI) in Berlin engagierte. Nach dem Asylkompromiss wurden die Rechte von Flüchtlingen weiter eingeschränkt, so etwa im Asylbewerberleistungsgesetz von 1997, ohne dass es dagegen noch nennenswerten Widerstand gab. »Ob die Grundgesetzänderung der Bewegung das Genick gebrochen oder sie einfach ihren Zenit überschritten hat, weiß ich nicht«, sagt Basu.
Ein Grund für ihre sinkende Bedeutung mag sein, dass die »Flüchtlingsarbeit« seit 1993 fast ohne Flüchtlinge auskommen muss. Während 1992 angesichts der Kriege im zerfallenden Jugoslawien und dem Ende des Ostblocks etwa 440 000 Menschen Asyl beantragt hatten, fiel durch die Gesetzesänderung von 1993 die Zahl der Asylbewerber schlagartig um ein Drittel. »Neues Asylrecht trägt zum inneren Frieden bei«, »weniger Bewerber, mehr Abschiebungen«, vermeldete die Nachrichtenagentur DPA.
Die Asylbewerberzahlen sind seither weiter gesunken. Im vergangenen Jahr beantragten nur noch 19 000 Menschen Asyl – das ist die niedrigste Zahl seit 31 Jahren. »Früher gab es in jedem Kreis Dutzende von Wohnheimen und Flüchtlingslagern, so dass es relativ viele Anlässe gab, mit Flüchtlingen in Kontakt zu kommen«, sagt Bernd Mescovic, der Pressesprecher von Pro Asyl. Heutzutage scheitern die Flüchtlinge dagegen schon an den Außengrenzen der EU. So gibt es kaum noch unmittelbare Begegnungen mit Flüchtlingen, die für einen Anflug von Empathie sorgen könnten.
Die Regelung mit den sicheren Herkunftsländern und Drittstaaten erwies sich auch deshalb als ungemein praktisch und funktioniert auf der EU-Ebene bestens: Wer in Libyen im Auffanglager sitzt, bietet weichen Herzen geringeren Anlass zur Nächstenliebe als die traumatisierten Tamilen im benachbarten Asylbewerberheim. »Die Flüchtlinge sind unsichtbar geworden«, sagt Biplab Basu.

Aber auch das Mitleid der Öffentlichkeit mit denen, die es wider Erwarten doch nach Deutschland schaffen, hält sich in Grenzen. »Der normale Flüchtling, der auf eigene Faust kommt, ist mittler­weile zum Skandalon geworden«, sagt Mesco­vic von Pro Asyl. Wer alle Hürden genommen habe, stehe unter Generalverdacht, dass »das nur Missbrauch« sein könne. »Um Nachahmer abzuschrecken, richtet man diesen Flüchtlingen das Leben dann so schlecht ein, wie es nur geht«, sagt Biplab Basu. Und gegen dieses Vorgehen gebe es außer einigen Gruppen leider keine nennenswerte Bewegung.

Dabei sind die Menschen, die sich für ein Recht auf Asyl engagieren, »absolut widerborstig«, wie Bernd Mescovic von Pro Asyl betont. »Die Konstanz derjenigen, die sich für Flüchtlinge engagieren, ist bewundernswert hoch«, sagt er. Das stimmt wohl. Aber die gesellschaftliche Resonanz, auf die ihr Engagement trifft, ist gering. Auch der Berliner Pfarrer Jürgen Quandt, der 1983 das erste Kirchenasyl gründete, kann es bestätigen: Das Thema habe seit der Asylrechtsänderung eine schwindende, öffentliche Aufmerksamkeit erhalten, auch wenn die Debatte über das Asylrecht von 1993 dazu geführt habe, dass das Kirchenasyl »auch von der Kirchenleitung als legitime Praxis anerkannt wurde« und die Anzahl der Fälle, in denen Kirchenasyl gewährt wurde, bundesweit zunahm.
Ein Grund für das öffentliche Desinteresse an dem Thema ist Biplab Basu zufolge der Regierungswechsel von 1998. »Als die rot-grüne Koalition an die Macht kam, waren wir irgendwie verwirrt«, erinnert er sich. Die außerparlamentarische Bewegung habe ihre Bündnispartner schließlich immer in der parlamentarischen Opposition gehabt. Aber diese war in Gestalt der Grünen plötz­lich an der Regierung. »Komischerweise taten die Grünen dann aber gerne weiter so, als wären sie noch Opposition«, sagt Basu. »Wenn es eine Demo gegen Abschiebung gab, dann kamen auch ein paar Grüne, um mitzudemonstrieren, obwohl ihre Partei in der Regierung das Abschiebe- und Lagersystem doch mitverantwortete«, blickt er zurück. Die Antira-Aktivisten waren verwirrt, und die linksliberalen Wähler von SPD und Grünen hielten das Thema nach dem Wahlerfolg sowieso für erledigt, obwohl die Abschiebepolitik weiterging.

Dass Asylfragen keine große gesellschaftliche Diskussion mehr erzeugen, liegt Stephan Dünnwald vom Bayrischen Flüchtlingsrat zufolge auch daran, dass sich deutsche Politiker nach 1993 seltener zu eindeutig rassistischen Kampagnen hinreißen ließen. »Statt der rassistischen Parolen gab es später nur noch die Erfolgsmeldungen der Innenminister über die gesunkenen Asylbewerber­zahlen«, sagt er. Davon ließ sich die linksliberale Öffentlichkeit nicht mehr provozieren oder gar anstacheln, auf die Straße zu gehen. »So schlimm die Debatte Anfang der Neunziger war – es war wenigstens eine Debatte«, urteilt Dünnwald.
Derzeit haben die Flüchtlingsinitiativen dagegen große Schwierigkeiten, »die da draußen« zu erreichen: diejenigen, die mit dem antirassistischen Kosmos nichts zu tun haben. »Wenn wir eine Demo machen zum Thema Abschiebelager, kommen wohl so 20 Leute, und die kennt man dann alle«, sagt Stephan Dünnwald. So wichtig die radikale Kritik an der europäischen Flüchtlingspolitik auch sei: »Wer kennt schon Frontex?«

Über die jährlichen Grenzcamps, die Ende der neunziger Jahre aufkamen und seither jährlich an verschiedenen EU-Grenzen die »Festung Europa angreifen«, berichtet meist nur Indymedia. Der große Teil der Öffentlichkeit interessiert sich nur in geringem Maß für solche Veranstaltungen. Und wenn doch einige Artikel über die unmenschliche Behandlung von Flüchtlingen in Griechenland erscheinen, dann mussten »Flüchtlingsorganisationen vorher massiv Pressearbeit leisten«, weiß Dünnwald. »Die Artikel sind dann ja gar nicht schlecht«, sagt er, aber so recht zufrieden ist er mit der Aufmerksamkeit der Presse nicht. So eindringlich das Schicksal der Flüchtlinge auch dargestellt werde: Die oft tödlichen Hindernisse aus Stacheldraht und die Maßnahmen der Grenzpolizei erschienen eher als schicksalhafte Naturgewalten denn als politisch gewollte Methoden, die sich auch ändern ließen.
Um zu unterstreichen, dass der Flüchtlingsschutz für die politische Seite machbar wäre, hat der bayrische Flüchtlingsrat eine Kampagne begonnen. In ihr werden die Behörden in München aufgefordert, passend zur 850-Jahr-Feier der Stadt 850 Flüchtlinge aufzunehmen. »Das ist die konservativste Kampagne, die wir je gemacht haben«, sagt Dünnwald angesichts der Anbiederung an das Münchner Stadtjubiläum. »Aber wir erhoffen uns, so auch Resonanz bei denen zu bekommen, die man auf keiner No-Border-Demo trifft«, gibt er zu bedenken. Man wolle mit der Kampagne »Save Me – München sagt ja« endlich aus der Defensive kommen. Dünnwald ist bescheiden: »Wenn wir in München eine öffentliche Debatte zum Thema Flüchtlingsschutz anstoßen, wäre ich schon zufrieden.«