Das Inzesturteil des Bundesverfassungsgerichts

Hauptsache gesund

Die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik hat die Bekräftigung des Inzestverbots durch das Bundesverfassungsgericht kritisiert: Die Richter hätten sich Argumente aus der Eugenik bedient. Die Sorge um die »Volksgesundheit« hat tatsächlich eine lange Tradition.

In der derzeitigen Debatte um die rechtlichen Rahmenbedingungen der genetischen Forschung und Diagnostik, die im Bundestag und in den Medien geführt wird, ist ein Argument aufgetaucht, das auf den ersten Blick paradox wirkt. Ausgerechnet die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik (GfH) hat in der vergangenen Woche in einer Stellungnahme zum Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts vom März, in dem das Gericht das Inzestverbot unter Geschwistern bekräftigte, nachdrücklich empfohlen, »auf der Ebene höchst­richterlicher Rechtssprechung auf eugenische Begriffe und Argumentationen zu verzichten«.

Die GfH bemängelt, dass die Verfassungsrichter sich in ihrer Urteilsbegründung auf »eugenische Gesichtspunkte gestützt« und »auch dem Schutz der Volksgesundheit ein legitimierendes Gewicht« zugeschrieben hätten. Paradox erscheint die Argumentation der GfH nicht wegen ihres Inhaltes, sondern wegen der Institution selbst. Die GfH wehrt sich gegen weitere rechtliche Einschränkungen der genetischen Forschung und Diagnostik, wie sie etwa im Entwurf eines Gesetzes über genetische Untersuchungen beim Menschen geplant sind.
Dennoch sieht die Gesellschaft durch die eugenische Argumentation des Verfassungsgerichts die Möglichkeit gegeben, der Diskriminierung von Menschen und Familien, die mit Erbkrankheiten belastet sind, Vorschub zu leisten und damit die »Entrechtung von Menschen mit Erbkrankheiten und Behinderungen« zu wiederholen. Damit haben die Humangenetiker einerseits sachlich recht, andererseits verweisen sie auf eine Gesetzeslücke, die die Geburt noch ganz anderer Monster ermöglicht, als sie britische Forscher kürzlich mit einer Chimäre aus menschlichem Erbgut und den Eizellen von Kühen geschaffen haben. Die Herstellung von Mensch-Tier-Hybriden war auch in England umstritten, ist mittlerweile aber gesetzlich erlaubt, während sie hierzulande noch verboten ist.
In der eugenischen Argumentation der Verfassungsrichter und ihrer Sorge um die so genannte Volksgesundheit zeigt sich eine historische Kontinuität, die sogar noch vor die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik zurückreicht: auf die so genannte Sozialhygiene, einen Abkömmling der sozialistischen Eugenik in der Weimarer Republik.
Ihr Begründer, der linke Sozialdemokrat Alfred Grotjahn (1869 bis 1931), hat 1926 mit einem Lehrbuch mit dem Titel »Die Hygiene der menschlichen Fortpflanzung – Versuch einer praktischen Eugenik« das Standardwerk einer Disziplin geschaffen, die die Nationalsozialisten dann aufs Grausamste praktizierten. In dem Buch finden sich Sätze wie der folgende: »Sollte aber die Fortpflanzung innerhalb der Kulturvölker auch weiterhin so sehr sich selbst überlassen bleiben wie gegenwärtig, dann kann allerdings das schließliche Ergebnis nur auf eine allgemeine Entartung hinauslaufen.« Eine Methode, wie dieser Entwicklung zu begegnen sei, entwickelte Grotjahn dann von der Diagnostik bis zur »Auswahl«, worunter er »die bewusste und planmäßige Beeinflussung« der Fortpflanzung durch Eugenik verstand. Er führte seine Ideen so detailliert aus, dass die Fortpflanzungsanweisungen mit dem Begriff »Sozialtechnologie« verharmlosend umschrieben wären.

Wie weit Grotjahns Thesen damals akzeptiert waren, ist bereits an dem Verlag ersichtlich, in dem sein Lehrbuch erschien. Grotjahn veröffentlichte es bei Urban & Schwarzenberg, einem in Berlin und Wien ansässigen Verlagshaus, das auch die Bücher bedeutender Psychoanalytiker und Sexualwissenschaftler im Programm führte. Das mag lange zurückliegen. Dennoch sollte man diese historischen Tatsachen berücksichtigen, wenn man die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und den Fall des Leipziger Vaters beurteilen will, der wegen der vier Kinder, die er mit seiner Schwester gezeugt hat, ins Gefängnis muss.
Als der Anwalt der Mannes und eine Psycho­analytikerin in der Sendung von Günther Jauch im März den Fall diskutierten, begrüßte die Analytikerin das Urteil gegen den Vater mit unverhohlener Freude, ohne der tatsächlichen Situation auch nur ein Wort der Analyse zu gönnen. »Unsere Kultur«, so wiederholte sie ständig, basiere auf dem Inzesttabu. Da sei »so etwas« nicht zu dulden, sonst gehe die ganze Kultur zugrunde. Die Frau berief sich also auf die vor allem von dem Ethnologen Claude Levy-Strauss betonte Ent­deckung, dass es in allen menschlichen Kulturen ein Inzesttabu gebe, das der entscheidende Unterschied zwischen Mensch und Tier sei.
Diese Behauptung lässt sich heutzutage, wie alle anderen Unterscheidungen zwischen Mensch und Tier auch, freilich nur noch schwer aufrechterhalten. Zum einen findet man auch bei bestimmten Affen Strategien, den Inzest zu vermeiden. Zum anderen haben sich mit der modernen Genetik schlicht die Kriterien verändert, die die Verwandtschaft definieren. Gegen eine weit verbreitete Ansicht lässt sich die genetische Verwandtschaft nämlich nicht an der sichtbaren Oberfläche eines Körpers ablesen. Als verwandt empfand man deshalb vor dem Aufkommen der Genetik in der Regel die Leute, mit denen man aufwuchs und zusammenlebte. Und für diese galt auch das Inzesttabu.
Mit der tatsächlichen Verwandtschaft im genetischen Sinn musste das, zumindest wenn es um den Vater ging, nichts zu tun haben. Eines der weisesten Gesetzbücher der Neuzeit, der Code Napoleon, verbot darum ausdrücklich die Suche nach dem Vater. Und genau auf diesen Sachverhalt wies bei Günther Jauch der Anwalt der Familie immer wieder hin. Da die Geschwister getrennt aufgewachsen seien, könne man sie eben nicht wegen eines Verstoßes gegen das Inzestverbot für schuldig befinden. Der Mechanismus nämlich, der normalerweise Eltern oder Geschwister füreinander sexuell unattraktiver erscheinen lässt, als es Menschen außerhalb der Familie für sie sind, hätte sich bei dem betreffenden Paar gar nicht entwickeln können.

Diese Argumentation war so sachlich und auf den tatsächlichen Fall bezogen, dass dagegen das Beharren der Psychoanalytikerin auf dem kulturstiftenden Inzestverbot wie der reine Horror wirkte. Dieser Horror hat allerdings seine Wurzeln auch in den sozialen Bewegungen der Weimarer Republik. Die soziale Umwelt müsse durch eine Verallgemeinerung hygienischer Fürsorge von allen krankheitserregenden und gesundheitsschädigenden Bedingungen bereinigt werden, hieß es nicht nur bei Grotjahn. Dieser Tonfall durchzieht zurzeit unter anderem auch die Anti-Raucher-Kampagnen. Der ausdrückliche Bezug auf eugenische Gesichtspunkte im Urteil der Verfassungsrichter zum Inzestverbot ist der bisherige Höhepunkt. Da wirkt die Warnung der Humangenetiker vor eugenischen Argumenten wie ein kleiner Schein der Vernunft im Dunkel der so genannten Kultur.