Der neue Armuts- und Reichtumsbericht

Keine Schlossallee ohne Badstraße

Der neue Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung verfehlt sein Thema gekonnt.

Dem neuen Armuts- und Reichtumsbericht zufolge sind 13 Prozent der Deutschen »von Armut betroffen«. Die sozialen Leistungen des Staats verhindern, dass es doppelt so viele werden. Nach einer Definition der Europäischen Union ist von Armut bedroht, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in seinem Land verdient – in Deutschland 780 Euro netto pro Monat. Als »reich« wird eingestuft, wer als Alleinlebender über mehr als 3 418 Euro im Monat netto verfügt.

So hört es sich an, wenn das gesellschaftliche Phänomen Armut von der EU untersucht und das Ergebnis von Bundesarbeitsminister Olaf ­Scholz (SPD) präsentiert wird. Die sich anschließende Debatte ist entsprechend ein Austausch weiterer technokratischer Floskeln. Das Handelsblatt folgert: »Der eigentliche Skandal ist die Beharrlichkeit, mit der sich die Parteien bequemen Verteilungsdebatten hingeben.« Die Zeitung interpretiert den Armutsbericht, wie es auch die FDP und die CDU/CSU tun, als »Mahnung, die Steuer- und Abgabenlast der Mittelschicht zu senken«.
Olaf Scholz wirbt dagegen für den Mindestlohn, und »Die Linke«, die Grünen und die Sozialverbände fordern zusätzlich die Erhöhung des Arbeits­losengeldes II auf 420 Euro. Die Grünen sagen, dass der Anstieg der Kinderarmut in dem Bericht verharmlost werde. Denn nach den Ergebnissen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ist die Armutsquote bei Kindern auf 26 Prozent gestiegen und nicht, wie im neuen Armutsbericht, auf zwölf Prozent zurückgegangen. Auch Armutsforscher wie der Ökonom Richard Hauser kritisieren das Datenmaterial der »Statistik der Europäischen Union über Einkommen und Lebensbedingungen« als fehlerhaft. Die Armutsquote bei der Bevölkerung sei gemäß den Daten des »Sozio-ökonomischen Panels« bereits auf 18,3 Prozent gestiegen.
Das Eingeständnis, dass der Regelsatz von 347 Euro ALG II plus Unterkunftskosten nicht ausreicht, um menschenwürdig zu leben, ist bei der Großen Koalition nach wie vor offenbar nicht zu erwarten. Und das, obwohl die Sozialpolitik zaghaft wiederentdeckt wird: Erste Mindestlöhne sind eingeführt, die Bezugsdauer des höheren Arbeitslosengeldes I ist verlängert, die Renten steigen etwas, das Wohngeld wird erhöht. Doch die Verbesserungen werden in der Regel nicht mit der wachsenden Armut generell, sondern mit der wachsenden Armut unter den Erwerbstätigen begründet. So sagt etwa Olaf ­Scholz: »Besonders bedrückend bleibt für mich, dass die Zahl derjenigen, die arbeiten und sich trotzdem im Armutsrisikobereich befinden, größer geworden ist.« Armut allein scheint derzeit nicht auszureichen, um eine Kampagne zu starten. Die Vermutung liegt nahe, dass Armut weniger als gesellschaftliche Disziplinierungsmaßnahme, also eine Form der Gewalt, sondern als das Ergebnis individuellen Verschuldens gedacht wird.
Deshalb kann die Debatte auch nahezu ausnahmslos über die konkreten Lebenssituationen von Armen hinweggehen. Es ist keine Rede von überschuldeten Menschen, deren Probleme am häufigsten von Arbeitslosigkeit oder Krankheit herrühren und die in der Folge oft permanent überfordert sind. Viele Arbeitslose bringt bereits eine notwendige Anschaffung wie der Kauf einer Waschmaschine oder von Medikamenten in die roten Zahlen. Auf die Dauer ist es zermürbend, wenn man für Kinderschuhe mit einem monatlichen Satz von 3,65 Euro oder für Spielzeug mit 1,41 Euro rechnen muss.
Die mangelnde Grundversorgung ist das eine. Die eingeschränkte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ist das andere. Kinobesuche fallen weg. Nie kann man vom letzten Wochenendausflug erzählen. Viele von Armut Betroffene verlieren ihre sozialen Kontakte und ihre Tatkraft und verinnerlichen das Gefühl der Abhängigkeit, welches ihnen die staatliche Armutsverwaltung vermittelt. Die Selbstachtung schwindet, und man ist nichts anderes mehr als arm. Nur wenige finden eine Strategie, der strukturellen Gewalt etwas entgegenzusetzen.

Von Armut Betroffenen zu helfen, bedeutet deshalb zuerst, ihre unmittelbare materielle Not zu beseitigen. Es führt kein Weg daran vorbei, das Portemonnaie zu öffnen. Als zweites bedeutet es, die Betroffenen nicht als Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfänger zu betrachten.
Die umfassende Kritik an den Hartz-Gesetzen und die Skandalisierung der sich seit den achtziger Jahren vergrößernden Distanz zwischen Arm und Reich können allerdings auch zu dem Trugschluss führen, dass es früher besser gewesen sei. Das war es zum Beispiel mit der alten Sozialhilfe keineswegs. Wenn man die soziale Ungleichheit nur mit einer bestimmten Arbeitsmarktreform begründet oder nur in der gegenwärtigen Epoche ansiedelt, verkennt man die Tatsachen. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler weist etwa auf eine Untersuchung des Ökonomen Wilhelm Krelle aus den sechziger Jahren hin. Krelle ermittelte damals, dass 1,7 Prozent aller Haushalte 74 Prozent des Produktivvermögens und 35 Prozent des Gesamtvermögens besaßen. Heutzutage ist dieses Verhältnis ähnlich. Im Jahr 1950 erhielt das oberste Fünftel 45,2 Prozent des Gesamteinkommens, 1990 waren es 43,5 Prozent. Soziale Hierarchien sind nicht neu.
Allein die Verteilungssphäre oder die (ebenfalls nicht neue) internationale Dimension des Wirtschaftens für Armut und soziale Unterschiede verantwortlich zu machen, ebnet sogar den Weg für banale Ressentiments. Das zeigte etwa die NPD, die der Regierung im Zusammenhang mit dem Armuts- und Reichtumsbericht vorwarf, der »regierungspolitisch forcierten Globalisierung« nichts entgegenzusetzen, »jeglichen ordnungspolitischen Gestaltungsauftrag aufzugeben und Politik nur noch als Hofberichterstattung der globalen Marktmacht zu verstehen«.

Es lohnt sich, die Verteilungsfrage grundsätzlicher zu betrachten. Einerseits wäre dem Gejammer über die angeblich leere Staatskasse die Tatsache entgegenzuhalten, dass alle Bundesbürger (inklusive Kinder) im Durchschnitt ein Geldvermögen von 58 000 Euro haben, Immobilien und Güter nicht einberechnet. Bloß besitzt das reichste Zehntel der Bevölkerung eben über circa 60 Prozent der Gesamtsumme. Existierte der Wille, die Armut von Staats wegen zu beseitigen, wäre finanzieller Spielraum vorhanden.
Doch selbst die Forderung nach Umverteilung greift zu kurz. Sogar wenn per Handstreich alle Menschen dieselbe Menge Geld hätten, würde der Neuanfang bei den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen, ähnlich wie bei einer Partie Monopoly, bald wieder sehr Arme und sehr Reiche hervorbringen. Zum Verständnis sind einige Verse aus dem Gedicht »Alfabet« von Bertolt Brecht hilfreich: »Reicher Mann und armer Mann / Standen da und sahn sich an. / Und der Arme sagte bleich: / ›Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich.‹«
Armut besteht immer auch relativ zur umgebenden Gesellschaft. Dabei geht es um materielle wie um immaterielle Dinge, etwa die Teilhabe an Rechten, Einfluss, sinnvoller Tätigkeit, kurz, an »Verwirklichungschancen«, wie es der Ökonom Amartya Sen nennt.
Wird die staatliche Armenfürsorge grundsätzlich akzeptiert, akzeptiert man auch den Fort­bestand der Kontrolle und den Umstand, dass den Betroffenen zugeschrieben wird, Bittsteller zu sein. Erst wenn Armut als gemeinsames Problem erkannt und Arme als Individuen ernst genommen würden, ließe sich die Situation grundlegend verändern. Aber auch kleine Verbesserungen erzielen Arme nur, wenn sie sich der strukturellen Machtlosigkeit nicht ergeben, sondern den Besitzenden unangenehm zu werden drohen.