Neue Besetzungen und Demonstrationen in Oaxaca

Die Megamarcha der Maestros

Knapp zwei Jahre nach der Niederschlagung des Aufstands im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca häufen sich erneut Besetzungen und Demonstrationen.

Im Duft dichter Blumenrabatten kann man all­abend­lich Kostproben lokaler Folklore oder globaler Klassik genießen und danach einen Tequila Sunrise in einem schicken Straßencafé trinken. Noch vor ein paar Wochen erinnerte im Zentrum von Oaxaca-Stadt kaum etwas an die sozialen Kämpfe, die vor knapp zwei Jahren hier losbrachen. Der brutale Polizeieinsatz gegen ein Protestcamp der Lehrergewerkschaft Sección 22 löste damals zunächst in der Provinzhauptstadt und später in vielen weiteren Regionen einen Aufstand aus. Barrikaden, Straßenblockaden, Massendemonstrationen – in einer der ärmsten Regionen Mexikos versagte plötzlich die erprobte staatliche Politik der Repression und Kooptierung.
»Die anfänglichen Forderungen der Maestros (Lehrer) nach besseren Lehrbedingungen und Löhnen katalysierten damals schnell viel grundlegendere Bedürfnisse«, erinnert sich Lupita vom Frauenrat Coordinadora de Mujeres Oaxaqueñas »Primero de Agosto«. »Wir gründeten gemeinsam mit NGO, Vertretern lokaler indigener Gemeinden, politischen Dissidenten und Basisgruppen die Versammlung der Bevölkerung Oaxacas, die Appo.« Fast ein halbes Jahr lang koordinierte dieses Bündnis Besetzungen, Beratungen und Demonstrationen, brachte die Regierung von Gouverneur Ulizes Ruiz von der Partei der Institutionellen Revolution (Pri) ins Wanken. Seine Schlägertrupps und paramilitärischen Helfer konnten das allgemeine Aufbegehren nicht stoppen.
Erst nachdem 23 Menschen getötet worden waren, reagierte die mexikanische Bundesregierung schließlich. Doch statt Gouverneur Ruiz zu entmachten, schickte der scheidende konservative Präsident Vicente Fox im November 2006 Verstärkung. Die Bundespolizei PFP vertrieb die Appo mit Schlagstöcken und Tränengas aus dem Zentrum von Oaxaca-Stadt, besetzte den Zócalo, den zentralen Platz, und inhaftierte Hunderte.

Doch nun spannen sich seit dem 19. Mai über den hohen Blumenrabatten des Zócalo erneut Transparente der Sección 22 und der Appo. Graffiti zu übertünchen, ist für die Besitzer anliegender Cafés und Läden wieder zu einem Thema geworden. Noch im März fragte die linke mexikanische Tageszeitung La Jornada: »Und die Appo?« Mittlerweile belagern Demonstranten tagelang den ört­lichen Flughafen, blockieren Zufahrtsstraßen zu einem Öldepot des staatlichen Energiekonzerns Pemex und »entführten« nach Angaben der Provinzzeitung Notícias am vergangenen Wochenende auch einige Autobusse.
Die plötzliche Wiederauferstehung der Appo sei aber eigentlich gar keine, meint Lupita vom Frauenrat. »Schließlich haben wir nie aufgehört zu demonstrieren, für die Freilassung der politischen Häftlinge und für eine Verurteilung der Mörder und Helfershelfer der staatlichen Repression. Im Kleinen läuft seit knapp zwei Jahren alles wie gehabt. Auch die Repression hat nie wirklich aufgehört.« Dann erzählt sie von der Ermordung der beiden jungen Radiomacherinnen Teresa Bautista Flores und Felicitas Martínez Sánchez aus der indigenen Gemeinde der Triquis in San Juan Copala am 7. April, »erschossen, in ihrem Auto, während der Rückkehr von einem Treffen«.
Angriffe auf entlegene oder selbstregierte Gemeinden und Basisradios sind nur ein Teil des andauernden Kampfs zwischen regierungstreuen lokalen Machthabern, den paramilitärischen Weißen Brigaden von Gouverneur Ruiz auf der einen Seite und einer Vielzahl oppositioneller Akteure auf der anderen. Sicherlich lässt sich nicht jeder Konflikt in Oaxaca diesem Schema zuordnen. Doch auch die Zivile Internationale Menschen­rechtskommision (CCIODH) kommt in ihrem aktuellen Bericht zu dem Schluss, dass in Oaxaca »eine Züchtigung der Zivilbevölkerung stattfindet, um sie von jeglicher Art Dissidenz abzubringen, eine Strategie, die an die Handbücher der Aufstandsbekämpfung erinnert, traditionell gegen bewaffnete Gruppen angewandt, um den Fischen das Wasser wegzunehmen«. Sie richte sich jedoch gegen ein soziales Bündnis mit einem »offenen und pazifistischen Charakter«.

Angebliche enge Kontakte zwischen der Appo und der Revolutionären Volksarmee (EPR), einem Guerillaverband, der unter anderem auch in Oaxaca aktiv ist, sollen das gewaltsame Vorgehen gegen die Bewegung rechtfertigen. Seit dem vergangenen Jahr bezichtigt die EPR die Provinzregierung von Ulises Ruiz und das mexikanische Militär, die beiden Kombattanten Edmundo Reyes Amaya und Gabriel Alberto Cruz verhaftet und getötet zu haben bzw. an einem geheimen Ort ver­steckt zu halten. Die Dementis beantwortete der Guerillaverband mit Bombenanschlägen auf staatliche Ölpipelines und verlangte Aufklärung. Im April dieses Jahres wurden schließlich sieben Polizisten und Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft in Oaxaca verhaftet, die im Verdacht stehen, an dem Verschwinden der Guerilleros beteiligt zu sein, unter ihnen auch Romeo Ruiz, ein Neffe des Gouverneurs.
Die robuste und erfolgreiche »Öffentlichkeitsarbeit« der EPR stieß in der mexikanischen Bevölkerung überwiegend auf Ablehnung. Die Appo, wie kürzlich in einer Reportage des TV-Senders Canal 40, als »zivilen Arm der EPR« darzustellen, scheint daher ein Manöver, um die soziale Bewegung in Misskredit zu bringen. »Dabei hat sich die Appo öffentlich immer gegen die Anschläge der EPR ausgesprochen«, empört sich Lupita. »Wir haben keine Verbindungen zur Guerilla. Wir respektieren andere Kampfformen, aber keine Gewalt.«
Aber die Schlagzeilen beherrscht der »Krieg gegen die Drogen«, die Berichte darüber haben zumeist nationalistisch-militaristische Untertöne. Die neuerlichen Proteste in Oaxaca wurden in den überregionalen Medien kaum wahrgenommen – verglichen mit stundenlangen Feuergefechten zwischen Drogenkartellen, Polizei und Militärs im nordmexikanischen Sinaloa erscheinen sie unspektakulär. Weniger von Interesse sind der monatelange Streit und die erfolglosen Gespräche zwischen dem Bildungsministerium Oaxacas, der nationalen Lehrergewerkschaft (SNTE) und deren abtrünnigem Flügel Sección 22, die zur erneuten Besetzung des Zócalos geführt haben. Die SNTE weigert sich nicht nur, die Ausschreibung für die überfällige Neubesetzung des Direktoriums der Sección 22 zu organisieren, sondern ver­sucht auch erneut, die Lehrergewerkschaft Sección 59 als einzige offizielle Vertretung in Oaxaca durchzusetzen.
Die Forderungen der Maestros sind ansonsten die gleichen geblieben. Weiter verschärft hat sich angesichts steigender Benzin- und Lebensmittelpreise lediglich die soziale Ungleichheit. Der konservative Erzbischof von Oaxaca-Stadt, José Luis Chávez Botello, wies am vorletzten Wochenende in seiner Sonntagspredigt darauf hin, dass Oaxaca »eine Ernährungskrise und eine unglaubliche Verteuerung der Grundnahrungsmittel« erlebe. Botello warnte von der Kanzel aus jedoch auch vor einer erneuten »Politisierung und sozialer Unverantwortlichkeit«. Einige Tage zuvor hatte bereits Präsident Felipe Calderón in einer Fernseh­ansprache versucht, Unruhen wie während der »Tortillakrise« im vergangenen Jahr vorzubeugen. Calderón versprach ab sofort eine monatliche Unterstützung von 7,50 Euro pro Kopf, von der das ärmste Viertel der mexikanischen Bevölkerung profitieren soll.
Lupita hat der Diskussion um die staatlichen Almosen kaum Beachtung geschenkt. Sie sieht im Thema Ernährungssicherheit und in den Pro­testen gegen mehr private Beteiligung im staatlichen Ölsektor eher eine gute Basis für eine Neuorientierung der Appo über die Aktionen und Demonstrationen der vergangenen Monate hinaus, die vor allem darauf zielten, die politischen Gefangenen der Bewegung freizubekommen. Im Mai wurde einer der bekanntesten Köpfe der Appo, Flavio Sosa, ehemaliger Abgeordneter der linken Partei der Demokratischen Revolution (PRD), aus der Haft entlassen. »Natürlich werden wir nicht unsere sieben Compañeros vergessen, die noch nicht freigekommen sind. Und doch werden wir nun mehr Zeit haben, wieder offensiver zu arbeiten«, kündigt Lupita an. »Ich denke, dass wir eine Neuausrichtung der Bewegung erleben werden. Dass die Sección 22 jetzt wieder mehr Druck macht, ist gut für uns, denn die 70 000 Lehrer sind ohne Zweifel das Rückgrat der Appo.«

Der Zócalo in Oaxaca-Stadt bleibt bis auf weiteres besetzt. Und damit es nicht wieder heißt, die Streiks der Lehrer würden zulasten der Kinder gehen, wechseln sich die Pädagogen ab, minimieren so den Unterrichtsausfall. Auch ein Versuch der Regierung Ruiz, die Geschäftsleute rund um den Zócalo durch eine Vollsperrung des Zentrums gegen die Besetzer aufzubringen, ist vorerst gescheitert. Ebenso wenig fruchtete der Plan, regierungstreue Straßenhändler als Provokateure in die Menge der Protestierenden zu schicken.
Am 14. Juni jährt sich zum zweiten Mal die erste Straßenschlacht zwischen Polizei und Lehrergewerkschaft, die den Aufstand auslöste. Die Appo hat eine »Megamarcha«, eine Riesendemonstration, angekündigt. Nicht entschieden wurde bislang über einen möglichen Boykott der alljährlichen Guelaguetza, des wichtigsten kul­turellen Ereignisses Oaxacas, das eine der größten Einnahmequellen der örtlichen Tourismusbranche ist.
Doch die Appo hat auch sonst genug zu tun. Immer noch sind Dutzende Schulen in regierungstreuen Gemeinden und Städten besetzt, unterrichten teils ehemalige Polizisten und eigens abgestellte Bürokraten die Schüler. Zuletzt gelang es einer Gruppe von über 800 Lehrenden und anderen Mitgliedern der Appo, ein Bildungszentrum im Dorf Santa María El Tule zurückzuerobern. Die von dem Lokalpolitiker Teófilo Chávez Calderón angeführten Besetzer waren zahlenmäßig unterlegen und wurden schlichtweg überrannt.