Die Band Kiss auf Europa-Tour

Horror zum Abschminken

Sie haben den Karneval in die Konzerthallen gebracht und das Merchandising revolutioniert: Kiss sind Amerikas erfolgreichste Rockband. Jetzt touren sie wieder durch Europa.
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Fünfunddreißig Jahre ist es her, dass der Grundschullehrer Gene Klein alias Gene Simmons und der Taxifahrer Stanley Eisen alias Paul Stanley die Plattenfirma Casablanca Records dazu überreden konnten, mit ihrer Band Wicked Lester ein Album aufzunehmen. Was dann folgte, war eine der gigantischsten Erfolgsgeschichten des Rock’n’Roll. Heute stolpert man gleich auf mehreren Fernsehkanälen über Gene Simmons. Der Mann mit der Chamäleon-Zunge bei Kiss – wie Wicked Lester seit 1973 heißen – spricht beispielsweise die Stimme eines Seeungeheuers in der Kinder-Zeichentrickserie »Sponge Bob«. Damit trat er in die Fußstapfen David Bowies oder Isaac Hayes’, die bereits vor Jahren mit ähnlichen Einlagen aufgewartet hatten, doch sein Auftritt sei natürlich einmalig, findet Simmons: »Ich bin für diese Rolle geboren. Ich habe mein ganzes Leben darauf gewartet, ein Seeungeheuer zu spielen, es liegt mir einfach im Blut. Sponge Bob ist zu Recht eifersüchtig. Ich war schlicht und einfach brillant.«
Ähnlich bescheiden gibt sich der New Yorker im Werbe-Trailer zu der derzeit auf dem Vierten laufenden Real-Life-Dokumentation »Gene Simmons Family Jewels«. »Ich bin ein Geschenk Gottes«, tönt der Bassist da zum Entsetzen seines Sohnes. Es stört Simmons sen. dabei keineswegs, dass die »Jewels« ein ebenso offensichtlicher wie schwacher Abklatsch der »Osbournes« sind – jener MTV-Serie, in der Ozzy, der wirklich einmalige Sänger der ebenso einmaligen Black Sabbath, bewies, dass schwerer Alkoholismus und die Spätfolgen des Verschluckens tollwütiger Fledermäuse zwar seine Körpermotorik irreparabel beeinträchtigt haben, aber keineswegs seinen Humor.
Auf den ersten Blick hatten Kiss und Black Sabbath zumindest im Band-Logo eine weitere Gemeinsamkeit: die Verwendung einer etwas entschärften Variante der berüchtigten Sieg-Rune anstelle des Buchstabens S. Bei beiden war es in den Siebzigern kalkulierter Schockeffekt, der den Grusel der visuellen Präsentation verstärken sollte; keinesfalls handelte es sich dabei um ein faschistisches Statement. Jedenfalls gibt es dafür weder in den Teenie-Rock-Texten von Kiss, denen man höchstens ihre monotone Stupidität vorwerfen könnte, noch in den vertrackteren Lyrics von Black Sabbath, die – wenn überhaupt – einen eher antitotalitären Duktus besitzen, irgendwelche Anhaltspunkte. Mit dem Aufkommen neonazistischer Rockmusik verzich­teten Black Sabbath im Gegensatz zu Kiss seit 1976 dann auch wieder auf die Rune. Aber auch Simmons sagte im Januar 2005 dem Stern: »Das hatte nichts mit der SS zu tun. Ich bin schließlich Jude.«
Womit man es auf jeden Fall zu tun hatte, ist Marketing. Kiss hatten klare Vorstellungen davon, wie man mit Rockmusik in den siebziger Jahren Geld verdienen konnte. Zum einen durch schonungsloses Nachäffen (von Alice ­Cooper und Screaming Lord Sutch), zum anderen durch extensives Merchandising. Die Band war in dieser Hinsicht der Trendsetter des popmusikalischen Cross-Selling. Mit dem Markenzeichen der vier markant geschminkten Musikergesichter und dem so charakteristischen wie ge­schmack­losen Logo ließ sich alles verkaufen, was nicht niet- und nagelfest in den Regalen lag. Bereits Ende der siebziger Jahre gab es Kiss-Comics, Kiss-Flipper, Kiss-Brettspiele, Kiss-Masken, Kiss-Puppen und mit »Kiss Meets the Phantom of the Park« einen Kiss-Horrorfilm im Fernsehen.
Zum expansiven Kiss-Geschäftskonzept gehört auch der genussvoll zelebrierte Größenwahn. Nicht nur inszenieren sich Simmons und auch Stanley als Personen auf diese Weise, auch die Band, deren Besetzung abgesehen von ihren beiden Protagonisten des öfteren wechselte, wurde schon immer so präsentiert. Die neue Tournee zum 35jährigen Bandbestehen beispielsweise war bereits ein huge success, bevor sie überhaupt richtig angefangen hatte. Sie steht passenderwei­se unter dem Motto der Welteroberung (»Kiss-Conquers-World«), eine Eroberung, die Kiss bereits 1996 während einer in 58 Länder übertragenen Pressekonferenz in martialischer Umgebung, auf dem Flugzeugträger U.S.S. Intrepid, angekündigt hatten. Auch die Titel ihrer frühen Erfolgsalben »Hotter Than Hell« (1974) und »Dynasty« (1979) künden von großem Selbstbewusstsein. Dazu passten auch die Konzerte in Riesenhallen und Stadien, wo die Massen mit allen Tricks zeitgenössischer Pyrotechnik und Bühnenhydraulik bei Laune gehalten wurden.
Diese Megalomanie ist vielleicht auch der Grund dafür, warum Kiss sich Mitte der Siebziger als Identifikationsfiguren für Jugendliche anboten, die weder schmalzige Disco-Gänger werden wollten noch nihilistische Loser-Punks. Kiss versprachen einerseits den sozialen Erfolg mit minimalen musikalischen Mitteln und zugleich eine gewisse, für jede vernünftige Adoleszenz nötige Distanz zu den Eltern – jedoch mit nur kurzfristiger Schockwirkung. Die Provokation ist nämlich gleich als Spaß, als bloße Maskerade zu durchschauen: als ein Zustand, der jederzeit beendet werden kann und deshalb den ökonomischen Erfolg des einzelnen nie gefährdet.
Kiss, die Band mit den meisten goldenen Schallplatten in den USA, war so jugendkultureller Ausdruck des schleichenden Krisenempfindens der Jahre nach dem so genannten Ölpreis-Schock. Der Kult um die Gruppe gewährte die prekäre Balance zwischen Revolte und Ausbruch einerseits und der gleichzeitigen Versicherung andererseits, dass man ja doch in den nächsten Jahren oder vielleicht schon am nächsten Morgen bereit sei, ohne Maulen zu büffeln, pünktlich und engagiert zu sein und natürlich auch an die Zukunft zu denken. Der Kiss-Kult besaß somit eine ähnliche soziale Funktion, wie sie einst dem traditionellen Fasching eigen war.
Und auch den dazugehörigen Faschingsverein gibt es seit 1975: die Kiss Army, die Gesamtheit der offiziell registrierten Kiss-Fanclubs, die sich insgesamt einer gut sechsstelligen Mitgliederzahl erfreuen sollen. Es waren übrigens Ex-Mitglieder der Kiss Army wie Die Ärzte oder die finnischen Grand-Prix-Gewinner Lordi, die das alte Rezept popmusikalisch – egal, ob nun geschminkt oder ungeschminkt – weiterführen und natürlich in den neunziger Jahren bei der Reanimation des Kiss-Kults mit Tribute-Beiträgen oder gleich als Vorbands mithalfen. Seither können sich Kiss als ihr eigenes Denkmal vermarkten: auf den Kiss Conventions, die eine ganztägige Mischung aus Nostalgie-Messe, Fan-Treffen und abschließenden Kurzkonzerten darstellen. Die derzeitige Kiss-Tour bietet jedoch richtige Konzerte im Stil der Siebziger: mit Funkenregen, Schminke, unglaublichen Plateau-Stiefeln und dem üblichen minimalistisch-trivialen Hard Rock, der schon immer in einem nur scheinbaren Gegensatz zum extravaganten Äußeren der Band stand.