Gewalt gegen Migranten in Rom

Römische Proletenprosa

In Rom häufen sich Übergriffe auf Migranten, auch in linksalternativen Stadtteilen wie im Arbeiterviertel Pigneto. Wie wird diese neue Entwicklung in der Öffentlichkeit diskutiert? Wie reagiert die Linke darauf?

Freitag, kurz vor den Abendnachrichten. An einer Ecke parkt eine Polizeistreife und daneben ein Übertragungswagen. Vier Beamte lehnen mit dem Rücken zur Fußgängerinsel an der Motorhaube ihres Dienstwagens und unterhalten sich. Das Fernsehteam bereitet sich auf die Live-Schaltung vor.
Wir sind im Pigneto, einem Stadtteil, der im Osten Roms liegt und seit einiger Zeit als besonders hip gilt. Auf der verkehrsberuhigten Hauptstraße des kleinen Viertels haben Bars und Kneipen ihre Tische aufgestellt. Vor dem Pizza- und Falafel-Laden bildet sich eine Schlange. Die meisten Geschäfte sind bereits geschlossen. Auf den Türschwellen hocken Migranten in kleinen Gruppen vor den heruntergelassenen Rollläden. Einige Studenten haben sich direkt auf den noch warmen Asphalt gesetzt und spielen Schach. Unzählige Hunde strolchen durch die Gegend.
Warum ist dieses unspektakuläre Bild plötzlich interessant geworden für die Medien, mag man sich fragen, wenn man nicht weiß, was vor knapp einer Woche hier passierte. In zwei Nebenstraßen wurden drei Geschäfte überfallen, die von Migranten geführt werden. Eine Horde junger Männer hatte die Schaufensterscheiben und Glastüren zweier indischer und bengalischer Lebensmittelläden mit Schlagstöcken und Holzlatten eingeschlagen und einen angrenzenden Telefonladen verwüstet. Die Angegriffenen konnten in Hinterzimmer oder unter die Ladentheke flüchten und blieben unverletzt.

Für Pigneto war das ein Schock. Denn gerade dieses Viertel galt bisher als Hort geglückter Inte­gra­tion. Immerhin serviert hier die Osteria Mimi & Coccò ihre traditionellen Bucatini all’ama­triciana in friedlicher Nachbarschaft zur Hinterhofmoschee. Der nach dem klassischen Muster faschistischer Schlägertrupps ausgeführte Überfall schreckte die Anwohner auf. Anders als an anderen Orten, in denen in den vergangenen Wochen rassistische Übergriffe stattfanden, kam es hier spontan zu einer Solidaritätsdemonstration.
Dass die Aufregung anhält und die Journalisten sich weiterhin zahlreich im Viertel aufhalten, liegt daran, dass der Italiener, der als Anführer der Bande gesucht wurde, sich einige Tage nach dem Überfall in einem Interview mit der Tageszeitung La Repubblica als »Junge aus dem Pigneto« zu erkennen gab. »Ernesto«, so lässt er sich im Interview nennen, wolle mit der Polizei seine Situation klären, davor aber möchte er der Öffentlichkeit zeigen, dass er kein Rassist, erst recht kein Fascho sei.
Zum Beweis zeigt er seinen rechten Unterarm, auf dem er eine Che-Guevara-Tätowierung trägt. »Mit Politik und Rassismus hat das Ganze einen Scheißdreck zu tun!« Er habe nur »Respekt« einfordern wollen, weil seiner Freundin in einem der später überfallenen Lebensmittelläden in der via Macerata der Geldbeutel geklaut wurde und ihr die Ausweispapiere nicht wie versprochen zurückgegeben worden seien. Mit den Jugendlichen, die anschließend in der parallel verlaufenden via Ascoli Pisceno zwei weitere Geschäfte angegriffen haben, habe er nichts zu tun. Trotzdem ist er sich sicher: Auch diese »Jungs« seien keine Faschisten. »Die haben nur ein Problem: Es geht ihnen auf den Sack, dass sie abends nach Hause kommen und ihre Mutter, Schwester oder Großmutter heulen sehen, weil sie ein feiger Hund angespuckt oder ihrem Hintern hinterhergepfiffen hat.«
Ernestos Monolog ist ein Glanzstück römischer Proletenprosa, er bringt die ganz normale, alltägliche Wut und den dazugehörenden Hass auf die Fremden, die »Anderen« zum Ausdruck. Seit dem umfassenden Wahlsieg der Rechten zeigt sich die Ranküne offen, sie marschiert ungeniert auf und tritt hemmungslos nach. Nur drei Tage nach dem Überfall im Pigneto wurden an der Universität La Sapienza linke Studenten mit Eisenstangen und Messern angegriffen, die Plakate für eine revisionistische Konferenz der rechtsextremen Forza Nuova überkleben wollten.
Nach dem Interview stellte sich »Ernesto« der Polizei. In Wirklichkeit heißt der »Junge aus dem Pigneto« Dario Chianelli und ist ca. 50 Jahre alt. Sein Bild war auf der Titelseite vieler Tageszeitungen, und im Fernsehen war auch zu sehen, wie er sich im Trainingsanzug der italienischen Fußballnationalmannschaft zum Polizeipräsidium begab. Seit Tagen lautet die Frage: Ist er nun ein Faschist oder ein Linker? Die Verwirrung ist groß. Weil er die linke Revolutionsikone auf seinem Unterarm trägt, schimpft ihn die Rechte einen Linken. Die Distanzierung ist nötig, um den offensichtlichen Vormarsch der Rechtsextremen zu verharmlosen und letztlich zu rechtfertigen.
Die Linke hat diesem schlauen Manöver nichts entgegenzusetzen. Weil sie die »Ängste« und die »Sorgen« der »einfachen Leute« ernst nehmen will, tut sie sich schwer, Chianelli als »Neofaschisten« zu bezeichnen, kritisiert aber gleichzeitig die »faschistischen Methoden« seiner Aktion.
Sinistra Critica, eine Linksabspaltung der Rifon­dazione Comunista, lädt für diesen Abend zur Diskussion. Am Ende der Fußgängerinsel, wo sich die Straße zu einem kleinen Platz erweitert, wird »Nazirock« gezeigt, einen Dokumentarfilm über die italienische neofaschistische Szene und ihre bevorzugten Rockbands. Der Film hat keinen nationalen Verleih gefunden und wird deshalb seit mehreren Wochen auf öffentlichen Plätzen und in kleinen Zirkeln gezeigt. Ob die Vorführung schon länger geplant oder erst anlässlich der Überfälle organisiert worden ist, vermag der Aktivist hinter dem parteieigenen Büchertisch nicht zu sagen. Jedenfalls sind alle Stuhlreihen besetzt, und die Zuschauer werden immer mehr. Den äußersten Ring des im Halbkreis stehenden Publikums bilden junge migrantische Männer.

Youssuf kommt aus Marokko. Der Film interessiert ihn nicht. Er fängt an, einen Joint zu bauen. Weil er sich sein Zimmer in der via Campobasso, der nächstgelegenen Querstraße, mit drei anderen Marokkanern teilen muss, sitzt er lieber jeden Abend bis spät auf der Piazza. Er erzählt von Schikanen der Wohnungseigentümer, aber solche Typen – er deutet mit einer Kopfbewegung Richtung Filmleinwand – seien ihm im Pigneto noch nicht begegnet.
Nach dem Abspann wird eine Vollversammlung improvisiert. Michele, vom nahe gelegenen Centro Sociale CSOA Ex Snia Viscosa, ergreift als erster das Wort. Er betont immerhin, dass ein tätowiertes Che-Konterfei aus Chianelli noch keinen Linken mache und dass sich an der ursprünglichen Verurteilung des Angriffs nichts geändert habe. »Auch wenn die Absichten nicht direkt rassistischer Natur waren, so hat sich Dario doch faschistischer Methoden bedient, die nicht zu rechtfertigen sind«, sagt er. Als »Konsequenz von bestimm­ten politischen Entscheidungen« rechtfertigt Michele den Überfall dann aber doch. »Die Kommerzialisierung des Viertels hat das soziale Gefüge verändert«, erklärt er. »Die vielen bis spät in die Nacht geöffneten Lokale führen zu erheblichen Unannehmlichkeiten und treiben die Anwohner in die Verzweiflung. Das Viertel darf nicht weiter in ein Schaufenster der römischen movida (etwa: des Partylebens, A.d.R.) verwandelt werden. Es geht darum, den Ausverkauf unseres Viertels zu stoppen.«
Noch hallt der Sound der neofaschistischen Rockband Legittima Offesa nach. »Unser Hass«, haben die Glatzen eben noch von der Leinwand gegrölt, »ist die Folge legitimer Beleidigung.« Dem compagno scheint völlig zu entgehen, wie nah er in seiner Rede zur Verteidigung »seines Viertels« den nationalistischen Hetzgesängen kommt.
Nach ihm ergreifen Vertreter einiger Migrantengruppen das Wort. Vladimir, aus Albanien, hält eine trozkistische Kampfrede. Senghor, der, wie so viele Immigranten einen einfachen, italienischen Namen gebraucht und sich deshalb zunächst als »Sergio« vorstellt, ist in der senegalesischen Community organisiert und beteuert, die »Ängste« der Einheimischen, insbesondere von älteren Menschen, zu verstehen.
Das seit über einem Jahr geforderte Ausschank­verbot wurde noch nicht durchgesetzt, in Mus­tafas Lebensmittelladen kann man sich ein Bier holen. Nach dem Überfall wurde das Glas in der Ladentür, wie vom neuen römischen Bürgermeister Gianni Alemanno, einem ehemaligen faschistischen Schläger, versprochen, auf Kosten der Stadtverwaltung ersetzt.
Daniele Pifano, ein ergrauter ehemaliger Pro­ta­gonist der römischen Autonomiebewegung der siebziger Jahren, steht schweigend im Publikum. Er ist im Stadtteilkomitee und im Ex Snia aktiv und hat bereits vor dem Film eine Art Pressekonferenz abgehalten. Chianelli hatte ihn im Interview als Zeugen angerufen, Pifano müsse doch wissen, dass er kein Neofaschist sei. Tatsächlich ist Pifano nun um eine Klarstellung bemüht: »Ich habe nie behauptet, dass der Überfall von organisierten Neofaschisten durchgeführt worden ist.« Die Geschichte mit dem geklauten Geldbeutel hält er für plausibel. »Meiner Meinung nach hat Dario nichts mit den Faschisten zu tun.« Auch Pifano tendiert dazu, den Vorfall mit politischen Fehlentscheidungen in der großangelegten Stadtteilsanierung zu erklären.

Das Pigneto entstand als eigenständiges Stadtviertel im Zuge der italienischen Industrialisierung am Ende des 19. Jahrhunderts. Unmittelbar hinter der aurelianischen Stadtmauer, zwischen den beiden antiken Ausfallstraßen, der via Casilina und der via Prenestina, siedelten sich entlang der Eisenbahnlinien Rom-Pescara Arbeiter an, die mit ihren Familien vor allem aus dem Süden des Landes kamen. Noch heute prägt die Industriearchitektur jener Zeit das gesamte Viertel. Doch die Fabriken sind längst stillgelegt. In der ehemaligen Viskosefabrik befindet sich mittlerweile das Centro Sociale CSOA Ex Snia Viscosa. Das einst die via del Pigneto dominierende Gebäude der Medikamentenfabrik Serono ist inzwischen ebenso zum umstrittenen Bauprojekt geworden wie das stillgelegte Depot der römischen Verkehrsbetriebe Atac. Hinter einem geöffneten Tor im Seitenflügel der Serono ist eine riesige Baugrube zu erkennen, die geplante Errichtung einer Tiefgarage und eines Luxushotels hat bereits begonnen. Dagegen ist der Streit um die Zukunft des ehemaligen Atac-Geländes noch nicht entschieden.
Pifano und die Aktivisten des quartiere, die anfangs die Pläne zur »Requalifizierung« des Pigneto unterstützten, beklagen heute die typischen Folgen der Gentrifizierung: Mietpreiserhöhungen, Szenelokale und eine neue Stadtteilklientel. Die »Leute« aus dem Viertel kämpfen gegen »Spekulanten« und Nachtschwärmer. »Wir veranstalten keine Hexenjagd, aber wir fordern die Einführung einer Sperrstunde und eine regelmäßige Straßenreinigung«, erklärt Pifano seine Vorstellungen von Ruhe, Ordnung und Sauberkeit. Chianelli und seine Freunde müssten ihre Methoden verändern, denn Strafaktionen seien »objektiv faschistisch«. Der Antrieb der Bande scheint aber auch Pifano verständlich: »Die Alten erkennen ihr eigenes Viertel nicht wieder.«
Der etwa 70jährige Buchhändler im Antiquariat »Freibeuter« würde ihm jetzt wahrscheinlich widersprechen. An den Wänden des Ladens hängen Portraits von Pier Paolo Pasolini. Sein Film »Accattone« wurde im Pigneto gedreht, ebenso wie Rober­to Rossellinis neorealistischer Klassiker »Roma, città aperta«. Der alte Mann erzählt ohne Nostalgie. »Das Viertel ist multikulturell geworden.« Er kennt das Zauberwort, aber man merkt, dass es ihm fremd ist. Die zerbrochenen Bierflaschen vor der Ladentür, »ach ja, sie sind ein Ärgernis, aber ich will mich nicht daran aufhalten«. Dafür gebe es die Kinos. Schräg gegen­über den Cineclub Grauco und vorn an der Hauptstraße das Nuovo Cinema Aquila, ein wirkliches Schmuckstück. Vom Pornokino Avorio, nur wenige Hausnummern weiter, erzählt er nichts. Der Wahlsieg der Rechten sei für die veränderte Stimmung verantwortlich, denen seien die Projekte aus der linksliberalen Ära ein Dorn im Auge: »Die müssen nun zeigen, dass sie die neuen Herren sind.«

In der aktuellen öffentlichen Aufregung um das Pigneto stehen durchweg Männer im Mittelpunkt der Berichterstattung, als ginge es tatsächlich um einen Streit zwischen neuen und alten Hausherren. Dagegen gibt es im Viertel viele von Frauen gegründete und organisierte Einrichtungen: das sizilianische Spezialitätengeschäft »Cento Passi«, die Lesbenbar »Punto G«, die Kunstgalerie »Gerdaphoto« und nicht zuletzt den erst vor wenigen Monaten eröffneten Sexy-Shop »Tuba«, eine kleine Bar mit Buchladen und einem noch schüchternen Sortiment an Erotikartikeln für Frauen. Die beiden Inhaberinnen, Barbara und Barbara, wurden bisher noch nie belästigt. Über Chianelli, der vorgibt, seine Freundinnen und Schwestern verteidigen zu wollen, und Pifano, der sich um die alten Frauen des Viertels sorgt, können sie nur lachen. »Der Diskurs von Männern, die vorgeben, ihre Frauen beschützen zu müssen, ist ja altbekannt. Im Pigneto kommen die Frauen aber ganz gut alleine zu recht.«
Das bestätigt auch Vladimir Luxuria, die bis vor kurzem als erste transsexuelle Abgeordnete für die Kommunisten im Parlament saß und seit 20 Jahren im Pigneto wohnt. Sie will aber nicht als Stadtteilikone vereinnahmt werden, deshalb spricht sie lieber über den anstehenden Gay Pride und die Schikanen, denen die Veranstalter ausgesetzt sind. Im ganzen Viertel hängen schon Plakate aus, auf denen vor dem Hintergrund eines besonders hohen und spitzen Stöckelschuhs zur Teilnahme mobilisiert wird. Passend zur kämpferischen Stimmung zeigt das improvisierte Straßen­kino auf der Fußgängerinsel in seiner nächsten Vorstellung »Stonewall«, den Klassiker der militanten Schwulenbewegung.