Die französische Debatte um die Annullierung einer Ehe unter Muslimen

Ein Stückchen Haut zu wenig

Ein französisches Gericht hat eine Ehe ­unter Muslimen für ungültig erklärt, da die Frau über ihre nicht vorhandene Jungfräulichkeit gelogen habe. Das sorgt für Empörung.

Das Urteil fiel am 1. April, es war allerdings sehr ernst gemeint. Doch erst vor einigen Tagen be­gan­­nen die erregten Diskussionen um den Richter­spruch. Gestützt auf eine Veröffentlichung in einer juristischen Fachzeitschrift, berichtete die ­Pariser Tageszeitung Libération Ende Mai, ein Gericht im nordfranzösischen Lille habe eine Ehe­schließung annulliert – also rückgängig gemacht –, weil die Braut keine »Jungfrau« mehr gewesen sei.
Sofort entbrannte ein Entrüstungssturm gegen das »Skandalurteil«, wie es in vielen Medien genannt wird. Als erste reagierte die Philosophin Elisabeth Badinter: Sie »schäme« sich für die französische Justiz. Und sie fügte hinzu: »Die Sexualität der Frauen in Frankreich ist eine Privat­angelegenheit und absolut frei.« Die Wochenzeitung der linksradikalen LCR Rouge versah einen Leitartikel mit dem Titel: »Sexistische Justiz«. Die konservative Staatssekretärin Valérie Létard, die innerhalb der Regierung für die Einhaltung der Rechte der Frauen zuständig ist, konstatierte eine »Regression des Status der Frau«. 73 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen erklärten in einer Umfrage, sie seien empört über das Urteil.
Was war passiert? Im Juli 2006 heiratete ein 30jähriger Ingenieur in Nordfrankreich eine damals 23jährige Krankenpflegeschülerin. Sie stammt aus einer muslimischen Familie. Er hingegen war erst als Erwachsener zum Islam konvertiert – was man freilich erst bei sorgsamer Recherche in Erfahrung bringt. Konvertiten sind bekanntlich oftmals die schlimmsten Fanatiker. Der Mann legte größten Wert darauf, das muslimische Recht genau zu nehmen, und verlangte, dass seine Angetraute »unberührt« und »jungfräulich« in die Ehe gehe. Sie war ihm, unter Freunden, als junge Frau von »guter Moral« empfohlen worden.

Allem Anschein nach ließ er dies seine Auserwählte auch wissen. Die Frau versicherte ihm jedoch, sie erfülle die Bedingung – und sie ging anscheinend selbst davon aus, dass diese Voraus­setzung für den Verlobten wichtig genug sei, um, wenn sie nicht erfüllt sei, das Zustandekommen der Ehe zu verhindern. Nur sagte sie nicht die Wahrheit, da sie zuvor bereits mit einem anderen Mann sexuelle Beziehungen unterhalten hatte.
In der Hochzeitsnacht fühlte der Bräutigam sich dann »betrogen«. Es gab nicht das geforderte »blutige« Bettlaken als Beweis für die Jungfräulichkeit, das man der versammelten Hochzeitsgesellschaft hätte präsentieren können. Sofort ließ er die Braut zu ihren Eltern zurück begleiten. Einige Zeit später forderte er vor einem Gericht in Douai (Nordfrankreich) die Annullierung der Ehe. Ein ungewöhnliches und eher seltenes Verfahren, denn üblicherweise verlangen mit ihrem Partner unzufriedene Eheleute eher die Schei­dung. Aber der Code Civil, das aus der Napoleon-Ära stammende Bürgerliche Gesetzbuch Frankreichs, enthält dennoch einen Paragraphen, der die Rückgängigmachung einer Ehe erlaubt. Vor 1975 war es schwer, eine Ehe scheiden zu lassen. Deshalb erlaubte der historische Code Civil zumindest, sich aus der Bindung durch eine bestehende Ehe zu lösen, wenn schwerwiegende Grün­de dafür sprachen, ihr die Gültigkeit zu verweigern.
Als Annullierungsgründe wurden bislang akzeptiert: wenn ein Ehepartner seine Vergangenheit als Prostituierte oder Strafgefangener verheimlichte oder seine Impotenz. Es gab auch einen Fall während des Kriegs, in dem ein Deutscher eine Französin geheiratet und ihr seine Nationalität verschwiegen hatte, indem er sich als Elsässer ausgab. Nicht vorhandene Jungfräulich­keit gehört bisher nicht zu den Annullierungsgründen. Ein Urteil des Obersten Gerichtshofs hatte dies 1965 sogar explizit von den Anfechtungs­gründen ausgeschlossen. Im Vergleich zur Scheidung ist eine Annullierung ungleich grundsätz­licher, denn sie sorgt dafür, dass die Ehe als »nie geschlossen« gilt und beide Partner so behandelt werden, als seien sie nie verheiratet gewesen. Es entstehen keine gegenseitigen Ansprüche, Verpflichtungen oder Rechte.
Da ihr versichert wurde, die Sache ginge so schneller zu Ende als bei einem Scheidungsprozess, willigte die gedemütigte Frau nach anfäng­lichem Widerspruch schließlich in die Prozedur eines Annullierungsverfahrens ein. Nachdem die Anwälte sich untereinander geeinigt hatten, forderte sie ihrerseits nun auch, dass die Ehe rückgängig gemacht werde. Aus diesem Grund stimmte die Vorsitzende Richterin ohne Bedenken der rückwirkenden Auflösung der Ehe zu, da diese der gemeinsame Wille beider sei.
Die Richterin – die dem Justizministerium zufolge inzwischen zahlreiche Drohbriefe erhalten hat – machte sich zwar nicht die Auffassung zu eigen, die Ehe sei ungültig, weil die Braut nicht jungfräulich gewesen sei. Aber sie begrün­dete die Ungültigkeit der Ehe damit, dass die Frau »über eine wesentliche Eigenschaft«, also über die verlorene Jungfräulichkeit, gelogen habe, wes­wegen die Heirat nicht auf ein Vertrauensverhält­nis gegründet werden könne. Die Richterin stützte sich zudem darauf, dass die Auflösung der gemeinsame Wille aller Parteien sei und dass ihrer Auffassung nach auch der Frau nicht der Fortbestand der Ehe gegen den Willen beider Beteiligten zugemutet werden könne. Die betroffene Frau hat sich inzwischen auch in diesem Sinne zu Wort gemeldet: Sie ließ von ihrem Anwalt erklären, sie sei erschöpft und wolle, dass das Ganze endlich beendet werde.

Freilich droht das Urteil zum Präzedenzfall für eine Flut weiterer Verfahren zu werden. Männer könnten aufgrund von »Lügen« vor der Ehe eine Annullierung fordern. Aus diesem Grunde ist die Empörung in Frankreich groß. Denn einerseits meinen die meisten Franzosen, Jungfräulichkeit als Voraussetzung für eine Eheschließung sei eine grundsätzliche Diskriminierung von Frauen gegenüber Männern. Nach Auffassung religiöser Krei­se dürfen zwar Männer ebenso wie Frauen keinen Sex außerhalb oder gar vor der Ehe haben. Nur lässt sich das bei ihnen bekanntlich nicht feststellen. Auf der anderen Seite nimmt in den vergangenen Jahren der Druck auf die Frauen in dieser Frage konstant zu – nicht nur, aber vorwiegend von muslimischer Seite. Das führt etwa dazu, dass die Industrie für Jungfräulichkeitsope­rationen floriert: Betroffene Frauen können etwa für 1 250 Euro inklusive aller Kosten nach Tunesien reisen, wo es darauf spezialisierte Kliniken gibt. Ähnlich wie es früher einen »Abtreibungstourismus« in die Niederlande gegeben hat. In Frankreich werden auch derartige Operationen angeboten, sie sind allerdings viel teurer.
Inzwischen haben sich fast alle muslimischen Verbände und Websites von dem Urteil distanziert. Auf der Website Oumma.com begann sogar eine sehr offene Diskussion um Fragen der Se­xua­lität und Jungfräulichkeit. Wobei sogar eine Eheberaterin zu Wort kommen durfte, die dies als »Privatangelegenheit« einstufte. Auf der Website afrik.com äußerten sich westafrikanische – etwa senegalesische – Muslime konsterniert über das Urteil und den »Jungfräulichkeitsfimmel« und wiesen darauf hin, dass »auch der Prophet Mohammed Nicht-Jungfrauen geheiratet« habe.
Am Donnerstag will der Präsident des Gerichts die einstweilige Vollstreckung des Urteils aufheben. Was der betroffenen Frau gar nicht gefällt, da sie, wie sie gegenüber den Medien beton­te, ein »Leben in Ruhe« führen wolle. Die für ungültig erklärte Ehe bleibt erst einmal bestehen.