Der Niedergang der SPD

Die toten Roten

Die traditionellen Wähler und Koalitionsmöglichkeiten sind den Sozialdemokraten in der von ihnen geschaffenen Armuts­öko­nomie abhanden gekommen. Ihre Programmatik zeugt von Ratlosigkeit und Verwirrung. Übernimmt die einst so große SPD bald die Rolle der FDP als bloße Mehrheitsbeschafferin?

Seit fast zehn Jahren ist die Sozialdemokratische Partei Deutschlands als Kanzlerwahlverein unter Rot-Grün oder Juniorpartner in der Großen Koalition an der Bundesregierung beteiligt. Und seit beinahe zehn Jahren wird die SPD von zahllosen Nachrufen begleitet, sei es wegen der häufigen Wechsel ihrer Führungsriege – vier Vorsitzende hatte die deutsche Traditionspartei seit dem spektakulären Rücktritt von Oskar Lafontaine im Jahre 1999 – oder wegen der dramatischen Mitglieder- und Stimmenverluste während der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder von 1998 bis 2005. In derzeitigen Umfragen erhält die SPD kümmerliche 20 Prozent. Gerade einmal elf Prozent der Stimmen bekäme der SPD-Vorsitzende Kurt Beck, träte er als Kanzlerkandidat gegen Angela Merkel an. Und nach einer im Stern veröffentlichten Umfrage haben in den vergangenen Monaten über 36 Prozent der SPD-Mitglieder darüber nachgedacht, ihr Parteibuch abzugeben.

Kurt Beck, der die Bürde des Nachlassverwalters trägt, hat allerdings kaum Anlass zu Überraschung oder Panik, wenn der SPD auch nach ihrem »Zukunftskonvent« Anfang Juni auf den Meinungsseiten von der Bild-Zeitung bis Spiegel online der Totenschein ausgestellt wird. Denn die derzeitige Krise hat eine lange Vorgeschichte: Seit 1990 verlor die SPD über 40 Prozent ihrer Mitglieder, 22 000 alleine im vergangenen Jahr. In Sachsen bewegt sich die SPD auf dem Niveau der Neonazis von der NPD, wie Umfragen und die jüngste Kommu­nal­wahl zeigen. Nicht nur dort sieht es schlecht aus für die Partei. Die deutsche Sozialdemokratie trägt schwer am Abschied vom verklärten »rheinischen Kapitalismus« der alten Bundesrepublik, an den jüngsten sozialstrukturellen Umbrüchen sowie der Entwicklung zu einem Fünfparteiensystem, das wohl zumindest vorübergehend von der Partei »Die Linke« geschaffen wird – eine »neue« linke Partei, die sich aus der Konkursmasse der Agenda-SPD vorläufig zur bundesweiten Kraft entwickelt hat.
Dabei gehören Krisen und Brüche zur 145jährigen Geschichte der SPD, die bislang alle großen Abspaltungen und anschließenden Parteineugrün­dungen von USPD bis KPD überlebt hat. Doch unter Gerhard Schröder verschwanden schließlich auch die Sozialdemokraten aus der SPD. Wer außer den Berliner Netzwerkern und Anhängern der Agenda 2010 blieb, stellt in der so genannten SPD-Linken die eigene Leidensfähigkeit auf die Probe.
Angesichts der derzeitigen Krise ist es nebensächlich, dass das Umfrageinstitut Forsa und sein als Kronzeuge der SPD-Kritiker in Politik und Presse auftretender Leiter, Manfred Güllner, mit auffälliger Regelmäßigkeit die SPD schlechter bewerten als konkurrierende Institute. Die Demoskopen von Forsa erfüllen ihren Zweck als Materialsammler im Dauerwahlkampf der Berliner Republik. Mit jeder neuen Umfrage läutet Forsa ein Requiem für die SPD ein. Dass Kurt Becks »Linkskurs« verantwortlich sei für die Lage der Partei, ist dabei eine Täuschung, auf deren Wahrheitsgehalt sich alle Diagnostiker in den bürgerlichen Medien mit dem verkrachten Sozialdemokraten Güllner durch die ständige Wiederholung des Befunds geeinigt haben. Und das, obwohl Beck vor über 3 000 Funk­tionären auf dem »Zukunftskonvent« die Agenda 2010 ausdrücklich verteidigt hat. Wie es um den gefühlten »Linksruck« in Deutschland tatsächlich bestellt ist, zeigte auch das Geschrei der Leitartikel­schreiber der großen Verlagshäuser, als die Sozialdemokraten 2007 ankündigten, einige Hinweise auf ihre Tradition wie etwa eine schüchterne Anspielung auf Karl Marx und die beiläufige Erwähnung des Ziels vom »demokratischen Sozialismus« in ihr »Hamburger Programm« aufzunehmen.

Gejagt wird ein Gespenst. Dass die SPD längst eine geschichtslose Partei geworden ist, zeigt eine Randnotiz: Als Mitte März der linkssozialistische Politikwissenschaftler und ehemalige niedersächsische SPD-Kultusminister Peter von Oertzen starb, widmete die Partei, der der profilierte Theoretiker der Arbeiterbewegung bis zu seinem Übertritt zur Wasg über 50 Jahre lang anangehört hatte, ihrem einstigen Mitglied eine uninspirierte Kurzmeldung. Der auf dem Onlineportal des SPD-Traditionsblatts Vorwärts veröffentlichte winzige Nachruf las sich, als habe ein Praktikant kurz vor Redaktionsschluss mal eben im Netz gestöbert. Tatsächlich wurde als Quellenangabe für die biografischen Details das Online-Lexikon Wikipedia angegeben.
Der Abschied der Sozialdemokraten von den Traditionen zeigt sich derzeit sehr deutlich anhand der Karriere von Frank-Walter Steinmeier. Der Außenminister, ein Mann des Apparats unter Gerhard Schröder, gilt als möglicher Kanzlerkandidat der SPD. Dass er 2009 ein vielleicht katastrophales Ergebnis erzielen wird, dürfte den amtierenden Vizekanzler kaum stören. In einer fortgesetzten Großen Koalition würde Steinmeier, ebenso wie Steinbrück und andere »Modernisierer«, seine eigene Politik weitaus besser durchset­zen können als in einer ungeliebten rot-rot-grünen. Steinmeier steht dabei für die »moderne« SPD und ihre diffusen machtpolitischen Strate­gien, für die ein parteiinternes Kontrollorgan oder ausgefeilte Partizipationsmöglichkeiten nur störend wären. Die SPD durchläuft spätestens seit Schröder den Wandel zu einer Partei, für die der Ortsverein nichts und die Talkshow alles bedeutet.
Der vorherrschende politische Bezug auf die »Mitte« bleibt dabei ein modisches Konstrukt von Sozialplanern. Bereits die seit dem Schröder-Blair-Papier 1997 beschworene »Neue Mitte« war eine Chimäre, die von den Sozialdemokraten eher auf dem Papier erschaffen, denn wirklich vorgefunden wurde. Zur Hochzeit der New Economy wurde ein vielfältig nach Bildungsgrad, Mentalität und Einkommen fragmentiertes Sozialmilieu zur »Neuen Mitte« erklärt, das der Träger moderner, sozialdemokratischer Politik unter den Bedingungen der Globalisierung sein sollte. Nach der Kapitalvernichtung auf den Finanzmärkten und Konten der Start-Up-Unternehmer entdeckte die der SPD nahestehende Friedrich-Ebert-Stiftung plötzlich das »abgehängte Prekariat«. Die Konsequenzen der von Rot-Grün betriebenen Politik des »Aufbruchs« für die allseits beschworene »Mitte« der Gesellschaft lassen sich schlicht im neuen Armutsbericht der Bundesregierung anhand nüchterner sozio-ökonomischer Daten ablesen. Denn der »Aufschwung«, den die sozialdemokratischen Agenda-Reformer gerne als ihre Errungenschaft darstellen, hat eine in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der BRD ungewöhnliche Pointe: Die Nettolöhne der lohnabhängig Beschäftigten sanken während eines positiven Konjunkturzyklus, der Anteil der Lohnabhängigen am gesellschaftlichen Gesamtvermögen fiel von 68 auf 64 Prozent. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) kommt zu der ernüchternden Erkenntnis: »Etwa 14 Prozent der Mittelschicht des Jahres 2002 befand sich 2006 im Bereich der Armutsgefährdung.«

Die auf Rot-Grün zurückgehende neue Armuts­ökonomie hat nicht die optimistische, moderne »Mitte«, sondern ein Sozialmilieu hervorgebracht, das derzeit der »Linken« ihre Wahlerfolge auch im Westen beschert und so die Entwicklung eines Fünf-Parteien-Systems begünstigt. Die desillusionierten Angehörigen der alten und neuen Mittelschicht sind ebenso wie das heterogene, zwischen politischer Apathie und Protest schwankende »abgehängte Prekariat« die Bezugsgrößen der zweiten deutschen Sozialdemokratie unter Oskar Lafontaine und Gregor Gysi. Gerade im Westen ist die »Linke« ein Wiedergänger jener SPD, die mit dem Begriff »Reform« noch nicht die Enteignung der Erwerbslosen meinte.
Die Krise der SPD ist dabei der Ausdruck des Verschwindens ihrer traditionellen Stammwählerschaft und des Wegfalls der klassischen Koalitions­möglichkeiten. Sich eindeutig auf ein Bündnis festzulegen, scheitert an der Spaltung der Partei, die von Wolfgang Clement bis Ottmar Schreiner Kapital und Arbeit unter einem Dach versammelt. Ausdruck der inhaltlichen Verwirrung ist die derzeitige Patchwork-Programmatik mit Forderungen nach einer neuen »Aufstiegskultur«, mit denen der mögliche Koalitionspartner FDP umgarnt werden soll, für den der Mindestlohn bekanntlich keine sonderlich große Herzensangelegenheit ist. So bot die SPD auf ihrem »Zukunftskonvent« den Konzernen den Ausbau der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und den Gewerkschaften die Rückkehr zur Vollbeschäftigung an. Im parteiinternen Paralleluniversum der Jusos fordert man derweil, »dass der Kapitalismus überwunden werden muss«.
Jenseits der Programmdebatten wird die SPD im neuen Fünf-Parteien-System zerrieben. Strategisch muss sie auf Länderebene zwangsweise die Optionen wählen, die sich anbieten: in Berlin mit der Linken, in Bremen mit den Grünen, in Schleswig-Holstein, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt in einer Großen Koalition mit der Union. Es scheint, als sei die laufende hessische Komödie nur das Vorspiel für die Zeit nach den Wahlen 2009, in der die Sozialdemokraten die Rolle der FDP als Mehrheitsbeschaffer übernehmen könnten. Hegemonie­fähig ist Kurt Becks SPD zurzeit nur auf rheinland-pfälzischen Weinfesten.

Siehe auch Disko Seite 18