Konflikte zwischen Uribe, Chávez und den USA

Ein Dolchstoß und ein Rückzieher

Hugo Chávez sorgt für Überraschungen, nicht nur mit seinen Äußerungen zur Farc, sondern auch mit der Rücknahme seines Geheimdienstgesetzes. Aber nicht nur für ihn, auch für die kolumbianische und die US-amerikanische Regierung ist die Situation in der Region tricky.

Es waren starke Worte. »Die Erklärungen von Chávez sind nicht nur ein Dolchstoß für die Moral der Kombattanten der Guerilla, die sie mehr als je zuvor braucht, um das faschistische Regime in Bogotá zu stürzen, die Erklärungen von Sonntag demoralisieren und irritieren auch Millionen von Chavistas in Venezuela selbst, die in den kolumbianischen Guerilleros wahre Bolivaristen sehen, die den Imperialismus und den kolum­bianischen Militarismus nicht fürchten«, schrieb der schwedische Journalist Dick Emanuelsson fassungslos, kurz nachdem Hugo Chávez die kolumbianische Guerilla Farc aufgefordert hatte, Geiseln ohne Gegenleistung frei zu lassen und den bewaffneten Kampf einzustellen.
Doch es war nicht die einzige Überraschung, für die der venezolanische Präsident in den vergangenen Tagen gesorgt hat. Ende Mai hatte er per Dekret ein neues Geheimdienstgesetz in Kraft gesetzt, das zu einem Aufschrei bei Oppositionellen und Menschenrechtlern in Venezuela führte. Nun hat er es zurückgezogen, es soll überarbeitet werden. Es sei »nicht schlecht«, enthalte aber »einige Elemente, die der Gegner benutzt, um Angst zu verbreiten«, sagte Chávez nach Angaben des ORF.
Das »Gesetz für Nachrichtendienst und Spionageabwehr« hatte es in sich. Es sollte die venezo­lanische Geheimpolizei und den militärischen Geheimdienst durch neue Institutionen ersetzen, diesen die Möglichkeit einräumen, Telefonanrufe ohne richterliche Genehmigung abzuhören. Basisorganisationen sollten für die Aufgaben der Geheimdienste einsetzbar sein, was an die berüchtigten »Nachbarschaftskomitees zur Verteidigung der Revolution« in Kuba erinnert, Staats­bürger und Ausländer sollten verpflichtet sein, mit den neuen Geheimdiensten zusammenzu­arbeiten, bei Weigerung drohten ihnen bis vier Jahre Haft. Ärzte, Angestellte des Justizapparats, Journalisten sollten sich nicht mehr auf die beruf­liche Schweigepflicht oder den Quellenschutz berufen können.
Das Gesetz schütze vor »imperialistischen Angriffen« und »Rebellionen in den Streitkräften«, hatte Chávez zunächst erklärt. Von Kritikern hingegen wurde es schnell als »ley Sapo« – sapo ist die Kröte, im übertragenen Sinn der Spitzel – oder gar als »ley Getsapo« bezeichnet.

Wie lassen sich die spektakulären Äußerungen des venezolanischen Präsidenten erklären? Auf außenpolitischer Ebene ist die Situation in der Region tricky. Für Kolumbien ist Venezuela der größte Handelspartner, Kolumbien für Venezuela nach den USA der zweitgrößte – allein im vorigen Jahr wuchs der Handel zwischen beiden um 25 Prozent –, in Venezuela leben zudem rund vier Millionen Kolumbianer, weshalb beide Seiten an einer wesentlichen Verschlechterung der bilateralen Beziehungen nicht übermäßig interessiert sein können. Dementsprechend kündigte die Regierung in Bogotá am Samstag ein Gipfeltreffen für den 15. Juli an, um »die Beziehungen zu normalisieren und die bilateralen Fragen erneut durchzusehen«.
Auch die USA stecken im Hinblick auf Chávez in einem gewissen Dilemma. Zwar erklärte der Sprecher des State Department, Sean McCormack, zu den umstrittenen Dateien, die auf dem angeblichen Laptop des getöteten Farc-Kommandeurs Raúl Reyes gefunden wurden und die eine Zusam­menarbeit zwischen Chávez und den Farc belegen sollen: »Dies sind ernste Anschuldigungen über Venezuela als Waffenlieferant und Unterstützer einer terroristischen Vereinigung.« Aber welche Kon­sequenzen könnte die US-Administration daraus ziehen? Schließlich liefert Venezuela rund 15 Prozent der US-amerikanischen Ölimporte und kontrolliert die größten Ölreserven der Hemisphäre. Würde die US-Regierung Venezuela auf die Liste der Staaten setzen, die den Terrorismus unterstüt­zen, könnte Chávez dies als Aggression gegen Venezuela bewerten und mit der Drohung kontern, die Öllieferungen einzustellen – trotz der voraussichtlichen desaströsen Konsequenzen für die ve­ne­zolanische Wirtschaft. »Chávez mag das nicht wahr machen«, schrieb Tim Padgett Mitte Mai im Time-Magazine, »aber im Lichte der gegenwärtigen Energiekrise würden nur wenige in Washington bereit sein, dies als Bluff zu bezeichnen.« Im Übri­gen muss die US-Administration Vorsicht walten lassen, weil der von ihr unterstützte Überfall der kolumbianischen Streitkräfte auf das Farc-Camp in Ecua­dor in der ganzen Region für Furor gesorgt hat.
Für Chávez ist die Situation ebenfalls unübersichtlich. International hat sein Standing vor allem durch das Bündnis mit den iranischen Mullahs gelitten. Seine Äußerungen zur Farc könnten bedeuten, dass er den Bündnissen mit den latein­amerikanischen Regierungen, die eine ähnliche sozialdemokratisch-autoritäre Verteilungspolitik wie er anvisieren, absolute Priorität einräumen will. Und auch wenn er die Dateien auf dem Laptop als Fälschung bezeichnete, ist es nicht ausgeschlossen, dass er weiß, dass sie zumindest teilweise authentisch sind.

Seit Chávez im Dezember das Verfassungsreferendum verloren hat, das u.a. dem Präsidenten die unbegrenzte Wiederwahl und die Verlängerung der Amtszeit auf sieben Jahre einräumen sollte, ist er zudem innenpolitisch geschwächt. Sein Projekt der Sozialistischen Einheitspartei Venezuelas mit ihm selbst als Vorsitzenden steckt in der Krise. Zudem schwächelt die venezolanische Wirtschaft. Das Wachstum liegt nach Angaben von Le Monde bei 4,8 Prozent im ersten Trimester 2008, gegenüber 8,8 Prozent ein Jahr zuvor, obwohl die Öleinnahmen in dieser Periode um 80 Prozent gestiegen sind, die Inflationsrate hat im Lauf der vergangenen zwölf Monate 31 Prozent erreicht. Und im November finden in Venezuela Wahlen der Bürgermeister und Gouverneure statt. Sowohl die Äußerungen zur Farc als auch die Suspendierung des Geheimdienstgesetzes könnten daher auch den Zweck haben, vorbeugend das aus dem Weg zu räumen, was der Opposition zur Kritik dienen könnte.