Erick Zoncas Film »Julia«

Eiskönigin bei 40 Grad

Erick Zoncas schildert in »Julia« die wüste Geschichte einer Trinkerin. Tilda Swinton spielt die Rolle, dass einem schwindlig wird.

ulia (Tilda Swinton), Mitte 40, ist eine Säuferin, von abends bis morgens und zurück. Abends trinkt sie für die Männer, morgens für sich. Wer neben ihr liegt, ist ihr reichlich egal. Nur soviel ist gewiss: Ohne den nächsten Schluck kann sie nicht auf der Arbeit erscheinen. Mit aber auch nicht. Arbeitgeber mögen keine Menschen. Und Menschen, die trinken, mögen sie folglich auch nicht.
Erick Zoncas Film »Julia« folgt zunächst der klassischen weiblichen Säuferbiografie. Job weg, noch mehr trinken, lügen und betrügen, zynisch sein. Man kann davon ausgehen, dass das Trinken früher mehr Spaß gemacht hat, als es noch um die Party ging. Julias Trinken ist aber keine Party mehr. Es ist unangenehm. Sie müsste jetzt jemand anderes werden, eine drogenfreie Zone erreichen, das sähen auch die sorgenvollen Freunde, die immer weniger werden, gern. Dieser notwendige Umbauprozess der Persönlichkeit setzt aber nicht ein. Julia wehrt sich gegen die vermeintlich unnötige Anpassung. Als Trinkerin hat sie eine Direktverbindung zum Jenseits, Betrunkene blicken durch. Wie kann sie sich im Diesseits Vorschriften machen lassen? Frauen können genauso gut saufen wie Männer. Mit Trotz wird auf die vielen kummervollen Blicken reagiert.
Frauen, so der Stand der Forschung, trinken Alkohol anders als Männer: öfters allein und in geringeren Mengen. Julia setzt noch was drauf: oft allein und in größeren Mengen. Die Alkohol­abhängigkeit entwickelt sich bei Frauen schneller. Alkoholabhängige Frauen, heißt es aber auch, suchen früher Hilfe als Männer.
Julia geht zwar regelmäßig zu den Anonymen Alkoholikern, ist aber nicht bereit, auf den Alkohol zu verzichten. In dieses Stadium des Trinkerinnen-Lebenslaufs mag sie nicht eintreten.
Interessant findet man Filme zumeist dann, wenn die Figuren eine irgendwie geartete Entwicklung zeigen. Julia ist jedoch deshalb interessant, weil sich die Figur keinen Millimeter entwickelt. Julia-Darstellerin Tilda Swinton fühlt sich in ihrem Element. Die Figur der Julia, sagt Swinton, bringe das »animalische Wesen« des Menschen zum Ausdruck, für sie als Schauspielerin sei das großer Sport: große Reden schwingen, Höschen im Auto vergessen, Betten durchwühlen, kotzen, würgen, nackt vor der Kamera herumlaufen.
Es stimmt: Dies ist das animalische Wesen eines Menschen, vielleicht das der Schauspielerin Tilda Swinton, die es eher gewöhnt ist, Eisköniginnen zu spielen. In »Julia« herrschen 138 Minuten lang geschätzte 40 Grad. Die Explosion ist nötig. Die Rolle der Trinkerin bietet vieles. Ein Tier würde auf das meiste davon verzichten. Das zoon ethanolicon aber nicht.
»Das? Ich bin aus Versehen gegen die Tür gelaufen«, »Ich brauche Geld, und zwar schnell« lauten die Sätze, mit denen sie sich den wenigen Freunden mitteilt.
Die große Frage, die der Film stellt: Was war zuerst da, der Suff oder die Probleme? Es gibt in »Julia« keine Alternative zum Trinken. Schon weil sich Stressereignis an Stressereignis reiht. Oder ist der Stress hausgemacht? Und: Würde das etwas ändern? Nein. Das Leben im beschleunigten Kapitalismus gönnt sich keine Ruhe. Immer nüchtern – wie sollte man mithalten?
Das fragen sich auch die Leute, die man bei den Anonymen Alkoholikern so trifft: Die wie Julia ebenfalls bis zum Hals mit Schnaps und Problemen abgefüllte Mutter Elena (Kate del Castillo), die ihr Kind in einem Sorgerechtsverfahren verloren hat, steckt so voller Schmerzen, dass sie der milde Wahnsinn ergriffen hat. Ihre wirre Geschichte, wonach der Großvater ihr Kind entführt hat, hat einen Nachteil: Sie stimmt mehr oder weniger. Das Kind gibt es.
Der Film macht eine krasse Wendung: Julia sieht auf einmal die Chance, sich ein für alle mal – wenigstens finanziell – zu kurieren. Als Elena, die keinen Wagen hat, ihr einen Deal vorschlägt, der die gemeinsame Heimholung des Kindes beinhaltet, kassiert sie den aufsässigen Zwerg alleine ein. Der Großvater soll Lösegeld zahlen. Ein Road-Movie beginnt mit einer Kriminellen und ihrem Opfer, das sich in etwa so gefangen fühlen mag wie die entführte Frau bei King Kong auf den Dschungelpfaden. Der TV-Reporter bei »Natural Born Killers«. Harvey Keitel in Rodriguez’ »From Dusk Till Dawn«. Dass Julia über die mexikanische Grenze gehen wird, nutzt Regisseur Zonca zur Konstruktion seines Bildes von Amerika: Alle Menschen müssen hier Verbrecher werden. Oder Schlimmeres.
Julia benimmt sich kein bisschen anders als sonst. Das Kind, Tom (Aidan Gould), wird gefesselt, im Motel an den Heizkörper, es liegt verschnürt im Kofferraum. Wie entführt man kind­gerecht? Verirrte Muttergefühle machen sich breit. Verantwortung, Erziehung, pünktlich schla­fen gehen, das ganze Programm. Julia hat sich darüber nicht die Bohne Gedanken gemacht, wie sie mit dem Jungen all die Zeit verbringt. Sie merkt nur, dass es zunehmend schwieriger wird.
Auf der anderen Seite gibt es da die Angst eines Kindes. Ohne Alkohol ist seine Quälerin ein noch unangenehmerer Mensch. Nun nimmt die Angst zwar nie ab, aber sie weicht, je länger die Tortur dauert, hin und wieder einer gewissen Gerissenheit, mit der der Junge seine Flucht plant – er führt Krieg. So drückt der Schuh von allen Seiten: Julia ist zu paranoid, um die Geldübergabe abzuwickeln, das Opfer macht zusätzlich Druck, Ungeschick verschärft die Situation. Die Geldübergabe floppt. Vom Alkoholdrama des ersten Teils löst sich der Film beinahe völlig. Die Trinkerin hat viel Wichtigeres zu tun als sich zu betrinken. Action hilft.
Die ist zwar ins Absurde weitergetrieben, aber hier werden durchaus ernsthaft die Zustände beschrieben, denen sich der Durchschnittsüchtige auch zu stellen hat. Würde man das Format zurechtstutzen, käme der Film weniger tumultuös daher, würde Julia sich im täglichen Einerlei aufreiben – Behördengänge, Geldmangel, Beziehungsprobleme. Nun, wer würde das sehen wollen? Zu Recht werden die dramaturgischen Schrauben angezogen, bis es mit mexikanischen Profi-Entführern zum Showdown kommt.
Der Plot des zweiten Filmteils ist nicht stringent, wirre und irre Einfälle dominieren. Am Schluss stehen alle verzweifelt mit der Knarre auf dem Grünstreifen einer Autobahn.
Auf den zweiten Blick macht dieser Bruch im Film aber Sinn: Er verweist auf die Grundlage und gesellschaftliche Funktion des Trinkens. Denn »Julia« ist eine Studie über unangenehme Gefühle. Als Film über eine Alkoholikerin, der dann aber abrupt in eine kriminelle Realität aufbricht, gibt er eine schöne, fiese Botschaft von sich: Das passiert, wenn man sich nicht unter Kontrolle hat. Die Trinkerei spielt nicht die geringste Rolle. All dies passiert auch so.

»Julia« (F 2008). Regie: Erick Zonca. Start: 19. Juni