Die SPD ist tot, aber immer noch zu lebendig

Längst verloren

Die SPD gibt es schon seit langem nicht mehr. Dass sie theoretisch immer noch auf 40 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung kommt, ist allerdings beunruhigend.

Die SPD war die erste aller Facharbeiterparteien. Und ein paar Facharbeiter sind ja übrig geblieben, auch Lehrer und Gewerkschafter bekommt man hier und da zu sehen: eben die 20 Prozent der Wahlbevölkerung, die noch zur SPD stehen, mit deutlicher Tendenz Richtung »Projekt 18«. Dazu darf man die zehn Prozent der sozialdemokratischen Regionalabspaltung »Die Linke« rechnen sowie ein Potenzial von ebenfalls zehn Prozent SPD-affinen Nazi- bzw. Nichtwählern: solche, die die SPD im Osten, etwa in Sachsen, nach 1989 nie gewinnen konnte, und solche in den westlichen Kernregionen, die sich abgewandt haben.
Theoretisch steht die SPD damit immer noch bei 40 Prozent. Zusammen mit den Liberalen (Grüne/FDP) könnte sie also auch außerhalb der Großen Koalition Regierungspartei werden, vorausgesetzt, sie böte den Nazis das, was die immer brauchen – Heimat, also Identität, also Feind­bild: Muster wäre hier die italienische »Lega Nord«, die es mit viel folkloristisch-fremdenfeindlichem Geklingel zur Arbeitnehmerpartei Nummer eins in der Poebene gebracht hat.

Weil diese mögliche Entwicklung die unangenehmste ist, wird sie wahrscheinlich eintreten. Besser also, die Rechte am Label »SPD« werden freigegeben. So bewahrte man wenigstens die Erinnerung an die durchaus vorhandene Würde der alten Nachkriegs-SPD, diesem institutionalisierten Aufstand der Anständigen, der moralischen Mindestabstandshaltervereinigung zur per Definition korrupten Staatspartei CDU/CSU.
In meinem engeren Milieu gab und gibt es keine SPD-Wähler. Inzwischen sind sowieso alle Nichtwähler. Die Leute haben andere Sorgen, Bedürfnisse und Ansprechpartner: entweder ihren Großkunden, den sie auf keinen Fall verlieren dürfen, oder das Jobcenter, mit dem sie irgendwie klarkommen müssen. Den Staat und seine Parteien erlebt man nur noch als patriarchalische Organisationen zwischen Finanzamt und Mittelstandsförderung.
Die einzige mir nahe SPD-Stammwählerin war meine Oma, eine Frau mit altpreußischen Werten. Aus ästhetischen Gründen hätte sie keinen Kohl oder Strauß wählen können, aus politischen keinen Willy Brandt. Stattdessen wählte sie den Oberleutnant Helmut Schmidt, den coolen Weltstaatsmann mit der ewigen Kippe im Mund. Damit trug meine Oma als Typus entscheidend zum Niedergang der SPD bei. Denn Schmidt hat es selbst gesagt: Hätte es mit der SPD nicht geklappt, wäre er eben in die Wirtschaft gewechselt. Das war damals, würde man heute sagen, ›revolutionär‹. Schmidt zeigte erstens, dass man keinerlei ›linke‹ Überzeugungen brauchte, um in der SPD etwas zu werden; und zweitens gelang es diesem langweiligsten aller Aufschneider, sich als moralische Instanz zu gerieren, obwohl er doch seine große Chance, etwas wirklich Vorbildhaftes zu leisten, bis heute unbedauert, verstreichen ließ: die Desertion aus der Naziwehrmacht.
Mit Schmidt wandelte sich die SPD zur Ersatzstaatspartei und blieb nach 1983 für immerhin 16 Jahre auf der Ersatzbank sitzen. Wie mir mein Vater – CSU-Mitglied – vor 20 Jahren geduldig erklärte: »In eine Partei musst du. In Bayern verteilt die CSU zwei Drittel der Posten, die SPD ein Drittel – dafür geht es in der SPD schneller« (und ich glaubte ihm natürlich nicht). Dann wurde Schröder eingewechselt, als sozial getarnter Abräumer des Sozialstaats, und zerlegte damit die Partei.

Wenn nun in letzter Zeit besonders auf Kurt Beck herumgehackt wird, dann deswegen, weil Beck die kleine in der SPD verbliebene Minderheit repräsentiert – die meisten, denen ihr Posten nicht unbedingt sitzenbleibenswert erschien, sind schon längst via Wasg bei den »Linken« –, die aus dem überzeugungsstarken Urschleim des SPD-Kernmilieus stammt. Er sucht eine Mitte, die es nicht mehr gibt, übrig bleibt die SPD als Partei der Abgrenzung gegen alles, was den Nimbus der Staatspartei gefährden könnte. Und tatsächlich hat es ja mal eine »Deutsche Staatspartei« gegeben, deren Wahlergebnisse gegen Ende der Weimarer Republik auch der letzte linke Student im Geschichtsatlas nachschlagen kann.
Dieses Schicksal würde man der SPD eigentlich gern ersparen. Hermann Gremliza hat 1989 der SED geraten, die Grenzen der DDR für die Erniedrig­ten aller Kontinente zu öffnen und damit den realen Sozialismus in die Hände derer zu geben, die schon damals wussten, was man an ihm haben konnte. Ob die SED dieser Ratschlag erreicht hat, ist ungewiss; sicher ist, dass die einheimische Restbevölkerung die Zuwanderer umstands­los totgeschlagen hätte. Auch der Apparat der SPD wird sich lieber auf die Seit’ an Seit’ angrenzenden Parteien verteilen, als sich auf den mühseligen Weg an die dunklen Orte zu machen, an denen für eine zeitgemäße Version von »Brüder zur Sonne zur Freiheit« durchaus Zuhörer zu finden wären.