Wo andere nur drüberfliegen – Der US-Bundesstaat Nebraska

Unten im Fly-over-Country

Den US-Bundesstaat Nebraska sehen die meisten Reisenden nur durchs Flugzeugfenster. So entgehen ihnen 22jährige Veteranen, glühende Anhänger von Barack Obama und Frauen, die 105 Stunden pro Woche arbeiten.

Tracy ist 28 Jahre alt und wiegt gut zwei Zentner. Sie arbeitet als Managerin der Lakeway Lodge am Ortsrand von Ogallala, Nebraska. Montags bis sonntags, von sieben Uhr morgens bis zehn Uhr abends.
»Was passiert, wenn mal jemand mit dir ausgehen möchte?« will ich wissen. Tracy grinst schief. »Wenn es wichtig ist, kommt meine Mutter und springt ein.« Vielleicht grinst sie auch deshalb schief, weil sie die Frage nicht versteht. Immerhin ist sie Managerin, da arbeitet man eben ein bisschen mehr.
Wären die Handtücher, die Tracy uns reicht, po­litische Gefangene, dann müsste man angesichts ihres Zustands dringend Amnesty International informieren. Und dass ein Jahrzehnte lang tropfender Wasserhahn Löcher in das Waschbecken unter ihm schlagen kann, war mir bislang auch unbekannt. Aber das Zimmer in der Lakeway Lodge kostet lächerliche 25 Dollar pro Nacht, da will man nicht meckern. Tracy stellt als Erste die Frage, die wir in den nächsten Tagen oft hören werden: »Was macht ihr denn hier?!«

Fotograf Thomas Linkel und ich haben ein paar Tage Zeit zwischen Terminen in den Bergen ­Colo­rados und in Chicago. Nebraska gehört zu den Staaten dazwischen. Es ist halb so groß wie Deutsch­land und hat 1,8 Millionen Einwohner, knapp 90 Prozent davon sind weiß. Auf je einen Menschen kommen vier Rinder. Am östlichen Ende befindet sich Omaha, die einzige Stadt im Bundesstaat, von der wir jemals gehört haben. Am entgegengesetzten Ende beginnt der Teil der USA, den man aus Westernfilmen kennt. »Fly-over-country« nennt man in den USA den Mittleren Westen. Bis auf die Bewohner des Mittleren Westens natürlich. Die sagen »Heartland«. Gleich weit entfernt von den Großstädten an beiden Küsten, und auch nach Denver, Colo­rado, der ein­zig nennenswerten Metropole auf halbem Weg, braucht man von Nebraska aus mindestens einen Tag mit dem Auto.
Dennoch macht man es sich zu einfach, den Staat als tumbe Redneck-Hochburg abzubuchen. Traditionell ist Nebraska zwischen Demokraten und Republikanern einer der umkämpftesten Staa­ten des ganzen Landes. Und bei den demokratischen Präsidentschaftsvorwahlen im Fe­bruar gab es auch eine Überraschung: Barack Oba­ma besiegte Hilary Clinton mit 68 zu 32 Prozent. Nebraska schien ein seltsames Niemandsland zu sein. Keiner unserer Freunde oder Kollegen war jemals dort gewesen. Deswegen sind wir hier.

Früh am nächsten Morgen steigen wir ins Auto und fahren Richtung Osten. Nach wenigen Meilen beginnt die Landschaft, für die Nebraska bekannt ist: die Sandhills. Von Horizont zu Horizont erstrecken sich grasbedeckte Dünen. Es sieht aus, als hätte jemand versucht, mitten in der Wüste einen Golfplatz anzulegen – doch die Halme krallen sich in nur wenige Zentimeter Erdkrume. Ein kräftiger Regenguss reicht aus, diese abzutragen.
Bis ins späte 19. Jahrhundert waren die Sand­hills unbesiedelt. Während eines Blizzards im Jahr 1888 kam es in einer Rinderherde, die von Texas nach Norden getrieben wurde, zur Stampede. Die Tiere verschwanden in der Graswüste und galten als verloren. Erst Jahre später trauten sich ein paar verwegene Cowboys, nach den Tieren zu suchen. Und stellten fest: Die Rinder lebten nicht nur, sondern hatten sich mit anderen ausgerissenen Tieren zu mächtigen, verwilderten Herden gesammelt, die frei durch die Sand­hills streunten. Nun kamen Siedler ins Land und nahmen die herrenlosen Tiere in Besitz, indem sie ihre Weidegründe einzäunten.
Bis heute ist ein Leben in den Sandhills hart. Im Sommer können die Temperaturen um die 40 Grad Celsius erreichen. Um im Herbst plötzlich zu stürzen. Fünf Monate lang dauert der Win­ter, dann liegt der Schnee so hoch auf den Straßen, dass man sie nur noch per Raupenfahrzeug befahren kann.
Gegen Abend erreichen wir Burwell. 2 000 Einwohner hat diese Metropole von Zentral­nebras­ka. Im Juli ist sie wegen ihres Rodeos über­laufen, doch jetzt finden wir ohne weiteres Betten in einem Motel an der Hauptstraße.
»Pink!« ruft Chloe und hält uns Freude strahlend einen gelben Stift entgegen, den sie vom Rezeptionstresen gerissen hat. Chloe ist die zweijährige Tochter der Motelbesitzerin. »Pink« ist das Wort, das sie heute gelernt hat, und deshalb ist für den Rest des Tages alles pink. Lynn, ihre Mutter, sagt etwas anderes: »Was wollt ihr denn hier?!« Vielleicht erstmal was essen.
»Die Steaks im Restaurant neben der Post sind gut«, empfiehlt sie. »Die haben lange geöffnet. Bis halb neun oder so.«
Die Steaks sind wirklich gut. Unser Kellner heißt Jamie. Je länger wir uns unterhalten, desto aufmerksamer schaut er zu uns herüber. Als er den Kaffee serviert, fragt er: »Deutsch?« Wir nicken. »Kenne ich«, sagt er. »Ich war drei Monate in Ram­stein.« Außer uns ist niemand mehr im Lokal. Neugierig geworden bitten wir Jamie an unseren Tisch. Er erzählt, dass er 17 war, als er sich in der Schule für die US Army gemeldet hat. Als Gegenleistung für vier Jahre Dienst sollte er eine kostenlose Ausbildung als Physiotherapeut erhal­ten. »Wenn du 17 bist und in Burwell wohnst, hältst du das für ein Geschenk«, schnaubt Jamie. »Dann denkst du nicht daran, dass du ein paar Monate später vielleicht mit einem Gewehr in der Hand auf der anderen Seite der Welt im Dreck liegst.« Er war kaum mit der Schule fertig, als der Krieg im Irak ausbrach. »Meine Freundin war schwanger, als ich eingezogen wurde. Anderthalb Jahre habe ich gekämpft. Dann wurde ich an­geschossen und in Ramstein zusammengenäht. Ich kam nach Hause kurz nach dem ersten Ge­burts­tag meines Sohnes.« Nun ist Jamie 22 und studiert Medizin. Als Kellner jobbt er nur in den Semesterferien. »Wenn der Krieg lange genug dauert, kann ich die anderen Verletzten flicken. Ja, Scheiße!« Dann muss er schließen. Es ist schon fast neun, und seine Freundin wartet mit dem Kleinen.
Vor der Tür ist es mittlerweile ganz dunkel geworden. Rund um den Hauptplatz von Burwell stehen hübsche kleine Häuser. Die Fundamente sind aus Stein, Aufbauten und Verschalungen aus Holz. Aus den Fenstern strömt gelbes, warmes Licht, in dem man Staubkörner tanzen sieht. Ein leichter Wind trägt den Grasgeruch der Sandhills heran. Kollege Linkel packt seine Kamera aus und macht ein paar Bilder dieser Idylle. Nach wenigen Minuten rollt ein Wagen um die Ecke. Polizei. Ein Sheriff steigt aus. Lächelnd, aber mit der rech­ten Hand in der Nähe des aufgeknöpften Pisto­lenhalfters kommt er auf uns zu.
»Wir haben gerade einen Anruf bekommen, dass Fremde sich auf dem Platz aufhalten«, sagt er bedächtig. »Was machen Sie hier?« In Deutsch­land würde ich jetzt einen blöden Witz machen, in dem Wörter wie »Taliban« und die »Post spren­gen« vorkämen. Aber hier? Wenn der Mann mit der Hand an der Waffe keinen Spaß versteht, bin ich in fünf Minuten im Gefängnis. Oder in fünf Sekunden tot. Kollege Linkel sieht das genauso. »Wir machen Fotos«, gesteht er. »So was wie hier gibt es in Europa nicht.« Der Sheriff ist geschmeichelt. Schaut sich um. Nach einer Weile intensiven Nachdenkens kann er anscheinend kein Vergehen finden, dessen wir uns schuldig machen. Dann zeigt er auf unseren Wagen. Den einzigen, der um diese Zeit am Platz geparkt ist. »Ihr Auto steht auf einem Behindertenparkplatz«, mahnt er. Stellen Sie den bitte sofort um, sonst muss ich Ihnen einen Strafzettel geben.« Wir verschieben den Wagen um 30 Zentimeter. Der Sheriff grüßt lässig und fährt weg. Ein gutes Gefühl, wenn die Ordnung wieder hergestellt ist.

»Andaquarter andahalf – andaquarter anda­fuulll­fiive! Andaquarter andahalf – andaquarter andafuulllsixxx!«
Was in der Auktionshalle des Ortes Bassett geschieht, ist für Außenstehende nur in gröbsten Zügen zu verstehen. Fest steht: Auf den Rängen eines kleinen Amphitheaters sitzen etwa zwei Dutzend Männer. Alle tragen entweder Cowboyhut und Boots oder Baseballkappe und schwere Arbeitsschuhe. Von Zeit zu Zeit werden einige Rin­der unter Peitschengeknall in die Arena getrieben. Auf einer Anzeigentafel erscheinen kryptische Zahlen, und der Auktionator leiert in irrsinniger Geschwindigkeit Laute herunter, die wohl Preise sein sollen. Die Männer schauen auf die Rinder. Kratzen sich am Knie oder wedeln Fliegen weg. Plötzlich hört der Auktionator dann auf zu leiern, und die nächste Herde wird hineingeführt. Wer hier wie sein Gebot abgegeben hat, ist nicht auszumachen. Aber die Männer scheinen sich lange zu kennen, also wird schon alles seine Richtigkeit haben.
Vor der Halle staubt Bassett in der Nachmittags­sonne vor sich hin. Wir schlendern ein paar hundert Meter, bis wir zum einzigen Hotel dieses 712-Seelen-Örtchens kommen. Die Bassett Lodge and Range Café, ein zweistöckiges Gebäude, das mit einer gerundeten Ecke den Abschluss seines Straßenblocks bildet, war uns bei der Durchfahrt aufgefallen. Es sah viel zu stylish aus, um hier, mitten in der Einöde, zu stehen. Bei Kaffee und Pfannkuchen schien sich der Eindruck zu bestätigen. Offensichtlich war hier ein Deli aus den fünfziger Jahren liebevoll nachgebaut worden, mit einem Tresen wie in Edward Hopper-Gemälden und Singleschallplatten an der Wand.
Doch irgendwann kam Mike an unseren Tisch. Ein Mittfünfziger mit Brille und gestutztem Haar. Der Besitzer der Lodge. »Das alles hier sieht nicht aus wie aus den Fünfzigern. Das ist aus den Fünf­zigern«, erklärt er nicht ohne Stolz.
Die Bassett Lodge wurde 1951 eröffnet und nie renoviert. Bis vor einigen Jahren Mike aus Denver kam. Dessen Freund stammt aus Bassett und wollte zurück in die Heimat. Mike kam der Liebe wegen mit. Als er die Lodge sah, kriegte er vor Freu­de fast einen Herzanfall. Er ließ das Interieur im Café genauso wie es war. Auch die Zimmer mit ih­ren tiefen Teppichen und wild gemusterten Tapeten, die aussehen wie aus einem Film von David Lynch oder den Coen-Brüdern in die Wirklichkeit entführt, ließ er unverändert. Gerade wird die Lodge mit Privatgeldern sehr vorsichtig renoviert. 3 500 Dollar kostet die Patenschaft für ein einzelnes Zimmer, und tatsächlich verkünden etliche Schilder mit Mäzenaten-Namen an den Türen, dass dieses Geschäft funktioniert.
Abends, als wir vor dem Café an der Straße sitzen, gesellen sich Mikes Kellner Damian und sein Kumpel Jeff zu uns. Beide sind 18. »Was macht ihr hier?« dreht Kollege Linkel den Spieß um. Bei­de gehen noch bis zum Sommer in die Schule. Jeff spielt Gitarre und will später Musiklehrer wer­den. Damian zeichnet. Davon zu leben, ist sein Traum. Beide zusammen haben eine Rockband, die manchmal auf Partys in der Umgebung spielt. »Und nach dem Abschluss haut ihr hier ab, nach Denver oder Chicago?« mutmaße ich. Beide winken gleichzeitig und entschieden ab. Warum, erfahre ich ein paar Minuten später. Als ich erzähle, dass ich von der Nordsee komme, aus einem Kaff mit 60 000 Einwohnern, zuckt Damian deut­lich zusammen. »Wow, 60 000. Das wäre mir viel zu groß!«. Während unseres Gesprächs fahren immer wieder Autos im Schritttempo an der Lodge vorbei. Natürlich schaut auch hier der She­riff nach uns. Aber andere Wagen sehen wir ebenfalls drei oder vier Mal. »Die wollen euch nur mal angucken«, erklärt Damian. »Fremde sind hier selten.« Dann schaut er auf die Uhr. Schon kurz nach zehn! Höchste Zeit, ins Bett zu gehen!
Am nächsten Morgen, 20 Meilen von Bassett entfernt, fällt uns ein verlassenes Farmgebäude auf. Die Fenster sind längst zerbrochen, im verwilderten Vorgarten rosten Autowracks. Dazwischen grasen Schafe, die so lange nicht geschoren wurden, dass ihnen ihr Fell wie ein Mantel bis zu den Hufen hängt. Eines dieser unwirklichen Tie­re schlurft schwerfällig auf uns zu und glotzt. »Wenn das Schaf uns fragt, was wir hier machen, fall’ ich tot um«, kündigt Kollege Linkel an.
»Dann lass uns lieber abhauen.« Und das tun wir auch. Abends sind wir in Omaha und machen richtig einen drauf. Mindestens bis viertel nach elf!