Seit 100 Jahren dürfen Frauen offiziell in Deutschland studieren

200 Semester studieren

Über den Zugang von Frauen zu den Universitäten wurde lange gestritten. Bevor sie in die Hörsäle einziehen konnten, wurden Abhandlungen darüber verfasst, ob ihre körperliche und geistige Verfassung ein Studium überhaupt zulässt.

Frauen verursachen den Regierenden in Deutschland nichts als Sorgen: Sie weigern sich, ausreichend Kinder zu bekommen, um die Rentenversicherung zufrieden zu stellen. Insbesondere die jüngeren wandern aus den neuen Bundesländern einfach ab und lassen Heerscharen von frustrierten jungen Männern ohne Freundin zurück. Sie werden seltener kriminell, Mädchen lernen fleißiger. »Die Hörsäle deutscher Hochschulen füllen sich«, meldete am 5. März Spiegel online, »und zwar mit Frauen. Die Zahl der Berufsanfängerinnen wächst ständig.«
Schlimmste männliche Befürchtungen sind also wahr geworden. Und zwar in den vergangenen 100 Jahren, denn so lange ist es her, dass Frauen sich erstmals ordnungsgemäß an einer preußischen Universität immatrikulieren durften. Zehn Jahre länger, also bis 1918, sollte es dauern, bis ihnen auch Zugang zu Kunstakademien gewährt wurde, denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte man sich große Sorgen um die Moral der Frauen gemacht, die sich dem Aktstudium widmen wollten.
Die ersten Impulse kamen aus Russland. Dort hatte der Direktor der Petersburger Universität der jungen Natalia Korsini im Jahr 1858 erlaubt, an juristischen Lehrveranstaltungen teilzunehmen. Aber Natalia Korsini stellte schnell fest, dass ihr im Vergleich zu den männlichen Kommilitonen Basiswissen fehlte, deshalb gründete mit ihrer Freundin Antonia Blummer eine Sonntagsschule für Frauen. Dieser Gründung folgten weitere, und bereits 1861 forderte der Polizeichef Fürst Dolgorukow die Regierung auf, »nicht zu dulden, dass die Hälfte der Bevölkerung von Leuten unterrichtet werde, die nicht im Staatsdienst stünden, nicht kontrolliert werden könnten und unter denen sich mit Sicherheit viele radikale Elemente befinden«.
Die Möglichkeiten für Frauen, eigene Schulen und Bildungseinrichtungen zu gründen oder sich als Hörerinnen an Universitäten einzufinden, wur­den wieder beschnitten. »Die Folge war«, schrieb die russische Frauenrechtlerin Nadja Strasser in ihrem 1917 erschienenen Buch »Die Russin«, »dass die Frauen bald einzeln, bald in Scharen die ausländischen Universitäten bezogen. Die Schweiz wurde nun das Sehnsuchtsland jedes gebildeten russischen jungen Mädchens.«
Nadezda Suslova, Tochter eines ehemaligen Leibeigenen, kam 1865 als erste Frau an die Universität von Zürich, um dort ihr in Russland begonnenes, dann verbotenes Medizinstudium fortzusetzen. »Um wenigstens etwas in meinem Leben zu erringen«, schrieb sie, »bereitete ich mich auf den Kampf für die Gleichheit der Rechte vor. Mit dem Banner, auf dem diese Losung steht, werfe ich mich in den Kampf gegen die Mächtigen dieser Welt. Wie er enden wird, weiß ich nicht. Eines weiß ich jedoch bestimmt: Ich werde die Waffen nicht aus der Hand geben, da ich überzeugt bin, für eine gerechte Sache zu kämpfen, die aufzugeben schmählich wäre.«
Suslova hatte Glück: An der Universität in Zürich unterrichtete eine große Anzahl deutscher Liberaler, die nach der Niederschlagung der Revolution von 1848 in die Schweiz gegangen waren und gegen die Teilnahme einer Frau keinen Widerspruch einlegten. Zwei Jahre später, 1867, promovierte Suslova als erste Frau der europäischen Medizingeschichte. Und: »Sobald bekannt wurde«, schrieb Fürst Pjotr Kropotkin schon bald darauf über ihre russischen Geschlechtsgenossinnen, »dass ein Professor an einer deutschen Universität in seinem Hörsaal auch Frauen zuließ, klopften sie an seine Tür und wurden zugelassen. Sie studierten Rechtswissenschaften und Geschichte in Heidelberg und Mathematik in Berlin; in Zürich studierten mehr als hundert russische Mädchen und Frauen an der Universität und am Polytechnikum.«
Im deutschen Kaiserreich setzten arrogante Professoren bildungshungrigen Frauen aber auch massive Widerstände entgegen. So erklärte der Historiker Heinrich von Treitschke, der nicht nur als Frauenfeind, sondern auch als Antisemit in die Geschichte eingegangen ist, der jungen Helene Stöcker, die ihn 1895 darum bat, seine Vorlesungen besuchen zu dürfen: »Die deutschen Universitäten sind seit einem halben Jahrtausend für Männer bestimmt, und ich will nicht dazu helfen, sie zu zerstören.« Und zu Hildegard Wegschneider, der ersten Frau, die in Preußen im Fach Philosophie promovierte, sagte er im Folgejahr: »Ein Student, der nicht saufen kann, (…) niemals!«
Dennoch: Helene Stöcker und Hildegard Wegschneider setzten sich durch und hörten bei anderen Professoren. Maria Montessori gelang es 1896, in Rom ein Medizinstudium abzuschließen. Im Wintersemester 1899/1900 nahmen fünf Frauen ein Studium an der Universität von Freiburg im Breisgau auf. Alice Salomon promovierte an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin mit einer Untersuchung über die unterschiedliche Entlohnung von Frauen und Männern. Allerdings legte sie ihre Prüfung ohne jeden Rechtsanspruch auf Gültigkeit ab, denn Frauen waren – noch – ausschließlich als Gasthörerinnen zugelassen.
Die russische Regierung machte es den Frauen, die zum Studium in die Schweiz gegangen waren, so schwer wie möglich. »Im Sommer 1873«, schreibt Wera Figner in ihren Erinnerungen »Nacht über Russland«, »wurde von der russischen Regierung ein Ukas an die Studentinnen der Universität Zürich erlassen, diese Universität unverzüglich zu verlassen, bei Strafe der Nichtzulassung zu den Staatsprüfungen in Russland. Wir waren aufs höchste betroffen. In der Begründung wurde gesagt, dass die Studentinnen sich sozialistischen Idee widmeten. In einem andern Punkt, der geeignet war, uns Frauen in hohem Maße zu verletzen, hieß es, dass die russischen Frauen sich unter dem Vorwand des Studiums den Gelüsten der ›freien Liebe‹ im Ausland hingäben.«
Für eine Weile versiegte der Strom der Studentinnen, um zwischen 1880 und 1914 erneut anzuschwellen, bestehend aus lernbegierigen jungen Frauen, die mit anarchistischem und sozialrevolutionärem Gedankengut sympathisierten. Auch viele in Russland diskriminierte Jüdinnen kamen nach Zürich, um dort zu studieren. Manche von ihnen hatten eine Schein­ehe eingehen müssen, um reisen zu können. In Zürich tummelten sich die zukünftigen Störenfriede diverser europäischer Länder wie die spätere Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé oder die Mitbegründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands, Rosa Luxemburg. Und die spätere Sozialistin Angelica Balabanoff zog in Europa umher: In Brüssel promovierte sie in den Fächern Literatur und Philosophie, dann hörte sie Nationalökonomie in Leipzig, in Berlin und in Rom und ging schließlich in die Schweiz, um in diesem Fach auch abschließen zu können.
Nach der Jahrhundertwende war es dann so weit: An der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin durften sich Frauen aufgrund eines Erlasses vom 18. August 1908 ordnungsgemäß immatrikulieren. Bis sich eine auch mal habilitieren durfte, mussten allerdings weitere zwölf Jahre vergehen. Manch einer wird die Lust dazu vergangen sein, denn die charmanten männlichen Kommilitonen sorgten dafür, dass das Fräulein Blaustrumpf sich nicht wohlfühlte an der Uni: Sie trampelten mit den Füßen, wenn eine Frau den Raum betrat; sie zischten, wenn sie zu reden begann, und machten obszöne und herablassende Bemerkungen.
Und wie wütend sie wurden, als die Studentinnen sich mit dem Studium nicht zufrieden gaben, sondern – wie in Zürich – gar in den Studentenkonvent gewählt werden wollten! »Der durchschnittliche Schweizer Student«, schrieb der Zürcher Arzt und Anarchist Fritz Brupbacher in seinen Lebenserinnerungen, »interessierte sich für sein Examen, für Karriere, Bier, Kellnerinnen-Popos. Er war ein ganz guter Techniker in seinem Fach. Sobald er sich von seiner Fachtechnik entfernte, war es mit ihm nicht auszuhalten. Er war Chauvinist, Militarist, Antifeminist, Antisemit und schüttelte den Kopf zu allem, was nicht traditionell und konventionell war. Er war naiv in Weltanschauungsfragen bis zur Kindlichkeit. Mit der ernstesten Miene der Welt hatte er gegen das Frauenstimmrecht eingewendet, dass die Frauen nicht in den Studentenkonvent gehörten, weil sie nicht an Fackelzügen teilnehmen könnten, und dass es auch unschicklich wäre, wenn sie an Festlichkeiten teilnehmen würden, an denen gekneipt würde. Als ob die Hauptaufgabe der Studentenschaft wäre, Fackelzüge und Kneipereien zu veranstalten.«
Auch außerhalb der Universitäten tobte der Geschlechterkampf. Den ersten Bildungsbestrebungen von Frauen im deutschen Kaiserreich hatte Paul Möbius im Jahr 1900 sein berühmtes Buch »Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes« entgegengeworfen, das bis 1919 immerhin elf Auflagen erlebte. 1903 war Otto Weinigers antisemitische und frauenverachtende Tirade »Geschlecht und Charakter« gefolgt. Eine Flut von Schriften, in denen die Verfasser nachzuweisen versuchten, dass die Frau geistig und charakterlich unterlegen sei, ergoss sich in die Buchhandlungen und Bibliotheken.
In der Schweiz ärgerte man sich außerhalb der Universitäten bald über kompetente Frauen, so über die dritte Ehefrau Fritz Brupbachers, die Russin Paulette Raygrodski, die es geschafft hatte, in Genf gleich zweimal zu promovieren. Die Philosophin und Ärztin entwickelte in den zwanziger Jahren gemeinsam mit ihrem Mann eine rege Vortragstätigkeit zu den Themenbereichen Geburtenkontrolle, Sexualreform und Frauenrechten – und bekam kurzerhand den Mund verboten. Der Kanton Glarus erließ ein generelles Redeverbot für sie, der Kanton Solothurn zog nach, denn, das rief der damalige Regierungs­rat zur Begründung aus: »Wir haben es nicht nötig, uns Aufklärung zu verschaffen von einer aus Russland dahergelaufenen Frau.«
Obgleich Zürich die erste, die fortschrittlichste Universität war, die Frauen zum Studium zuließ, tat sich die Schweiz ansonsten recht schwer mit Frauenrechten: Erst 1971 erhielt die Schweizerin das Stimmrecht auf Bundesebene. Im Kanton Appenzell sollte es sogar bis ins Jahr 1987 dauern, bis sie an kantonalen Wahlen teilnehmen durfte.
Eine der Vorkämpferinnen des Frauenstudiums, die in Zürich Medizin studierte und dann in Deutschland praktizierte, war Agnes Bluhm, an die sich eine andere Pionierin der Frauenbewegung, Ilse Reicke, erinnert. »Sie hatte sich«, schreibt Ilse Reicke in ihrem Buch »Die großen Frauen der Weimarer Republik« über Bluhm, »bereits seit Jahren einer noch jungen Wissenschaft, der Erbforschung zugewandt, als ich sie damals in ihrem Laboratorium besuchte.« In diesem Laboratorium züchtete Frau Bluhm Mäuse, sie erforschte, schreibt Reicke, »wie verschiedene Stoffe, vor allem auch die Genussgifte, auf das Erbgut einwirkten«.
Agnes Bluhm war eine große Gegnerin von Alkohol, Nikotin, Kaffee. Darüber hinaus beschäftigte sie sich mit einem anderen Thema, das Ilse Reicke eher am Rande erwähnt, sie schreibt: »Das Gespräch geriet auf einen Gegenstand, der damals kein Tabu war: auf Rassenkreuzung. Sie bewerten? – Also fördern oder verhindern? – Solch ein Recht stünde nur jemandem zu, der entweder in sich alle oder gar keine Rasse besitze – und den gebe es nicht. Nur ein Gesichtspunkt habe Geltung, habe ein Recht: die Verantwortung für ein bevorstehendes Geschöpf.«
Dass der Gegenstand »Rassenkreuzung« heute ein Tabu ist, geht mit auf Agnes Bluhm zurück, die Mitbegründerin der »Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene« von 1905, deren Vorstellungen in die nationalsozialistische Gesetzgebung zur »Rassenhygiene« eingeflossen sind. Und eine der ersten Frauen, die in Deutschland studiert haben, war Else Croner, die sich dann in ihrem 1933 erschienenen Buch »Die Psyche der weiblichen Jugend« gegen den so genannten erotischen Typ ihrer Geschlechtsgenossin wandte und schrieb: »Soweit es sich hier um eine nicht korrigierbare Triebhaftigkeit handelt, die auf geistiger Minderwertigkeit beruht, müssen wir diese Mädchen als Schädlinge betrachten. Im Interesse des Volksganzen ist Sterilisation hier die einzig wirksame Abwendung der Gefahr.«
Obwohl sie Jüdin war, versuchte Croner, sich der nationalsozialistischen Ideologie anzubiedern und stand bei weitem nicht allein damit. Frauen erwiesen sich in den vergangenen 100 Jahren also nicht unbedingt als bessere Menschen. Dass sie in den Hörsälen mittlerweile aber die Mehrheit stellen, findet seine Gründe – auch – darin, dass man sie so lange daran hat hindern wollen. Im August dieses Jahres wird das Recht der Frauen, ein ordentliches Studium aufzunehmen, 100 Jahre alt. Wir dürfen gespannt sein, ob es gefeiert wird.