Dichtung und Wahrheit im Gerede von der Inflation

In China essen sie Rinder

Dichtung und Wahrheit liegen beim Gerede von der Inflation dicht beieinander. Eine Geldentwertung in großem Maßstab findet in vielen Ländern statt, aber derzeit nicht in Deutschland. Dennoch haben die Lohnabhängigen immer weniger Geld im Portemonnaie.

Seit einiger Zeit werden die Konjunkturprognosen der unternehmernahen Wirtschaftsinstitute düsterer. Gespannt warten wir, ob das Platzen der Spekulationsblase am US-Immbilienmarkt eine Dynamik in Gang setzen könnte, die zu einer weltweiten Rezession führt. Der Anstieg der Lebensmittelpreise in aller Welt verursachte bereits Hungerrevolten in mehreren afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern, und hierzulande macht sich in den Wirtschaftsredaktionen Krisenstimmung breit.

Mit der Inflationsgefahr zu drohen, beginnt zum festen Repertoire der Wirtschaftsprognostik zu werden. Preissteigerungen von 3,7 Prozent im Jah­resmittel in der Eurozone legen das auch durchaus nahe. »Inflation ist heute das Thema, nicht Deflation. Global hat sie sich innerhalb eines Jahres auf fast 4,5 Prozent verdoppelt. Auf den Vorstufen des Wertschöpfungsprozesses nimmt der Kostendruck deutlich zu, einschließlich der Löhne, und die Inflationserwartungen beginnen, aus dem Ruder zu laufen«, schrieb etwa Dieter Wer­muth in der Zeit. Vor allem steigende Öl-, Gas- und Lebensmittelpreise sorgen in der Bevölkerung für Unruhe.
»Das Vermögen retten« titelte der Focus bereits im November vorigen Jahres und gab schon mal Tipps für die Flucht in die Sachwerte: »Gefragt sind vor allem Substanzwerte. Unternehmen mit stabilem Geldzufluss und Produkten, die bei steigenden Teuerungsraten an Wert gewinnen. Da­zu gehören vor allem Öl- und Energiekonzerne sowie Immobilien- und ausgesuchte Konsumwerte.« Auch Gold ist bei den Redakteuren des Focus sehr beliebt. Hektische Anlagegeschäfte im größeren Stil, sonst ein sicheres Anzeichen für eine inflationäre Entwicklung, sind jedoch bisher aus­geblieben.
Eine ausgewachsene Inflation im Sinne einer makroökonomisch wirksamen Geldentwertung jedoch ist in Deutschland, anders etwa als in China, nicht in Sicht. Zwar gibt es derzeit inflationäre Tendenzen in globalem Maßstab, diese wirken sich aber in verschiedenen Sektoren und Weltregionen höchst unterschiedlich aus. Trotz des starken Euro bleiben die Exporte deutscher Unternehmen bisher stabil, und Absatzverluste in den USA können durch vermehrte Exporte nach Osteuropa und in die Euroländer ausgeglichen werden. Allerdings wurden im ersten Quartal 2008 die vom Statistischen Bundesamt ermittelten Lohnsteigerungen der abhängig Beschäftigten von durchschnittlich 2,8 Prozent gegenüber dem Vor­jahreswert von einer Teuerungsrate von 2,9 Prozent überboten. Während also die großen Unternehmen trotz gestiegener Energiekosten mit der momentanen Preisentwicklung durchaus leben können, wird die Situation für Menschen mit geringem Einkommen in Deutschland immer problematischer. Zugleich herrscht in zahlreichen Län­dern der südlichen Erdhalbkugel Inflation, was bewirkt, dass ökonomische Strukturen zerstört werden und die Lebenshaltungskosten enorm ansteigen.

Was auffällt, ist die wachsende Neigung zu einem chauvinistischen Tonfall in der deutschen Wirtschaftspresse, wenn es darum geht, die konkurrierenden Wirtschaftsmächte für alles Übel dieser Welt verantwortlich zu machen. Diese verbale Aggression richtet sich vor allem gegen China.
Tatsächlich ist China für den Trend zur Inflation mitverantwortlich. Seine Reservearmee an billigen Arbeitsmigranten aus den ländlichen Regionen ist inzwischen deutlich geschrumpft, und die Beschäftigten in der Wirtschaft konnten Lohnsteigerungen im zweistelligen Prozentbereich erstreiten – und das bei einer Währung, die nicht mehr weiter abgewertet wird. Dies ist sicherlich einer der Faktoren, die zu inflationären Tendenzen führen. Die bürgerliche Wirtschaftspresse allerdings hat damit bereits ihren Hauptfeind ausgemacht. »Die Chinesen verdienen schon zu viel«, pöbelte der Focus. »Bekam ein Arbeiter im Reich der Mitte vor drei Jahren 100 Dollar im Monat, war das ein sehr guter Lohn. Inzwischen sind 150 Dollar die absolute Untergrenze. Ingenieure in Indien kassieren mittlerweile drei Viertel des Gehalts ihrer Kollegen in den USA. Die großen Schneidereien in Vietnam verlagern ihre Produktion nach Kambodscha – der niedrigeren Löhne wegen. Jahrelang sorgten die Werkstätten der Welt mit ihren Billigprodukten für stabile Preise. Jetzt kämpfen sie selbst mit steigenden Kosten.«
Und auch an den überall steigenden Lebensmittelpreisen sind, glaubt man Markwort und Co., in erster Linie die Chinesen und Inder schuld: »Chinesen trinken plötzlich unsere Milch an Stelle ihres Tees. Sie essen Rind statt Schwein. Wer will es ihnen verdenken? Preisanstiege sind damit aber unausweichlich.« Nicht etwa die Spekulation auf dem globalen Lebensmittelmarkt oder die Nutzung von immer mehr landwirtschaftlichen Flächen für die Produktion von Ethanol für den Weltenergiemarkt, sondern die Ansprüche der abhängig Beschäftigten sind also das Problem. Ob die Focus-Redakteure diesen Unsinn selber glauben, darüber lässt sich nur spekulieren.

Die so genannte Kerninflationsrate in Deutschland, bei der Energie- und Lebensmittelpreise nicht berücksichtigt werden, ist mit etwa 2,4 Prozent trotz eines zu verzeichnenden Anstiegs noch nicht besorgniserregend. Das nützt bloß den Menschen wenig, deren Realeinkommen sinkt, weil die Verbraucherpreise steigen. Bei sinkenden Reallöhnen geht der anhaltende Wirtschaftsaufschwung vor allem zu ihren Lasten. Das Bild vervollständigt sich, betrachtet man die steigenden Lebensmittelpreise, die Hungerkrise und die daraus resultierenden sozialen Kämpfen in vielen Ländern der Erde. Dort, erfahren wir in , wütet ein »Inflations-Tsunami«, der viele Menschen »innerhalb eines Jahres um 25 Prozent ärmer gemacht« habe. »Um einige Banken« – und wir wollen hinzufügen: vor allem die Staaten selbst – »mit billigem Geld vor dem Bankrott zu bewahren«, schreibt Stefan Frank, »nimmt man in Kauf, dass Millionen Menschen verhungern.«
In Mali streiken die Lehrer seit sieben Monaten für Gehaltserhöhungen, die den steigenden Le­benshaltungskosten entsprechen. Während in Europa durchschnittlich 13 Prozent eines Monatseinkommens für Nahrungsmittel verwendet werden (bei den unteren Einkommensklassen ist es deutlich mehr), müssen in den meisten afrikanischen und asiatischen Ländern 90 Prozent des verfügbaren Geldes für die Grundversorgung aufgewendet werden. Auch die in den vergangenen Jahren beispielsweise in Indien entstandenen neuen Mittelschichten sind bereits von der neuen Verarmung betroffen. In Bangladesh etwa verdoppelte sich der Preis für ein Kilo Reis in einer Woche. In Kambodscha liegt er inzwischen bei umgerechnet einem Dollar, während das durch­schnittliche Tageseinkommen bei einem halben Dollar stagniert. In etwa 30 Ländern kam es in den vergangenen Monaten zu Hungeraufständen.

Sollte sich diese Dynamik fortsetzen, könnten die Unruhen irgendwann auch Europa und die USA erreichen. Entscheidend hierbei ist die Frage, ob die krisenhaften Tendenzen das Leben der Menschen mit mittleren und kleineren Einkommen noch mehr beeinträchtigen werden als bisher. In den USA wurden im Zuge der Immobilienkrise bereits mehr als eine Million überschuldete Eigenheime geräumt, die Anzahl der Menschen, die sich keine Krankenversicherung mehr leisten kann, stieg in den vergangenen Monaten auf 58 Millionen.
Ob die Verarmung der Massen perspektivisch zu sozialen Kämpfen führt oder ob es gelingt, die Massen mit patriotischer Rhetorik und symbolischen Gesten ruhig zu halten, ist nicht absehbar. Auf alle Fälle lohnt es sich zu beobachten, welche sozialen Prozesse sich hierzulande in den nächsten Jahren aufgrund der Angleichung der Lebenslagen nach unten abspielen werden.