Homophobe türkische Jugendliche und die Angst vor Rassismusvorwürfen

Das große Schweigen

»Bist du schwul, oder was?« ist eine beliebte Beleidigung unter Jugendlichen nicht nur, aber auch türkischer Herkunft. Aus Angst vor Rassismusvorwürfen wird das Thema Homophobie unter türkischen Jugendlichen jedoch tabuisiert. Sogar nachdem Gäste des Drag-Festivals in Kreuzberg brutal zusammengeschlagen wurden.
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Der Christopher Street Day (CSD) gilt vielen als schwul-lesbische Variante der Loveparade, als ent­politisierter Partyumzug, und nicht als politische Demonstration. Häufig genug hat sich dies bestätigt. Doch in diesem Jahr gibt es ver­schie­dene CSD-Veranstaltungen, die sich auch brisanter Themen annehmen. Das Motto des Berliner CSD am Samstag lautet »Hass du was dagegen« und wendet sich explizit gegen die inflationäre Verwendung des Wortes »schwul« als Schimpf­wort auf Berliner Schulhöfen und gegen homophoben Hass, der sich »auf der Straße breit macht und immer mehr Anhänger gewinnt«.
Der alternative »Transgeniale CSD« in Berlin hat sich dieses Jahr vorgenommen, »unter anderem homophobe, transphobe und sexistische Übergriffe in Neukölln und Kreuzberg« zu thema­tisie­ren. Der CSD in Köln hat gar das Motto »Null Toleranz – für null Toleranz!«. Im dortigen Aufruf heißt es: »Besonders starke Ablehnung erfahren Schwule, Lesben und Transgender durch die katho­lische Kirche und die weitaus meisten Strömungen des Islam.«

Direkt ausgesprochen wird es nirgends in diesen Verlautbarungen, doch alle wissen, was gemeint ist. Aus Angst, Rassisten eine Vorlage zu geben, wird drumherum geredet, so offensichtlich allerdings, dass man fragen muss, ob Ressentiments durch das stillschweigende Einverständnis, das mit diesem lauten Schweigen hergestellt wird, nicht viel eher bedient werden, als durch eine offene und sachliche Thematisierung der schlichten Tatsache, dass es unter türkischen Jugendlichen eine zunehmende Schwulenfeindlichkeit gibt, die sich nicht nur in schwulenfeindlichen Sprüchen, sondern immer wieder auch in Form von Gewalt äußert.
Dass in den ausländerfreien Zonen der Provinz oder rund um eine Kirche im bayerischen Dorf die Homophobie von Deutschen nicht abgenommen hat und in Deutschland das Hauptproblem bleibt, ist dabei selbstverständlich. Mit einer Fixierung auf Türken als homophobe Täter würde aber auch ein entscheidender Punkt ausgeklammert: Die Opfer türkischer Schwulenfeinde sind sehr häufig auch und gerade Türkinnen und Türken. Gerade durch sie, schwule, lesbische, queere Türken, fühlen sich nationalstolze oder islamistische Türken besonders provoziert. »Die Türken« sind also nicht das Problem, den türkischen Schwulen und Lesben muss vielmehr die Solidarität gelten.
Aber wie, wenn das Thema geradezu tabuisiert wird? Übrigens auch, nachdem brutalen sieben Gäste des Drag-Festivals in Berlin-Kreuz­berg in der vorvergangenen Woche brutal zusammengeschlagen worden waren. Über 2 000 Demons­trantinnen und Demons­tranten fanden sich ein, um nur einen Tag nach dem Angriff zu protestieren. »Smash Homophobia!« war das Motto. Die Empörung war offenbar groß. Mitten in Kreuzberg, auf dem Heinrichplatz solch ein drastischer Überfall – das schockierte nicht nur die schwul-lesbische, sondern auch die linke und linksradikale Szene.
In der Nacht zum Sonntag, dem 8. Juni, waren drei Autos auf dem Heinrichplatz vorgefahren, türkische Männer sprangen heraus und schlugen die aus dem Szeneclub »SO36« kommenden Gäste des Drag-Festivals zusammen. Es hieß, die türkischen faschistischen Grauen Wölfe steckten hinter diesem Überfall, denn am Heck eines der Fahrzeuge war ein entsprechender Aufkleber gesichtet worden. Das Büro der Grauen Wölfe befindet sich direkt am Heinrichplatz, wo auch die Abschlusskundgebung stattfand.
Die Veranstalterinnen des Drag-Festivals, ebenso wie die Betreiberinnen des »SO36«, betonten immer wieder, dass es sich nicht um ein »migrantisches Problem« handele, dass Schwule und Lesben auch von »bierseligen Deutschen« oder »deutschen Fußballfans« beschimpft und bedroht würden. Es wurde sogar eine Stellungnahme veröffentlicht, in der die Berichterstattung der taz kritisiert wurde, die völlig korrekt geschrieben hatte: »Auf dem Festival verbreitet sich die Nachricht, dass ein paar Türken in der Nacht zum Sonntag einige Drag-Kings brutal zusammengeschlagen hätten.« Die Veranstalter dazu: »Derart undifferenzierte Feindbilder aufzubauen, halten wir für höchst gefährlich. (…) Derzeit sind keine weiteren Infos zu den Tätern verfügbar.« Die Hinweise auf die Täter waren allerdings von den Veranstaltern selbst gekom­men, die von dem Aufkleber der Grauen Wölfe berichtet hatten. Weiter in der Stellungnahme: »Der Hinweis, dass es sich bei den Tätern um Mitglieder der Grauen Wölfe gehandelt haben mag (Aufkleber am Auto), verweist auf eine organisierte, rechte Gruppierung und eben nicht auf ›die Türken in Kreuzberg‹. Das ist ein Unterschied.« Wenn, so laviert man herum, es also doch Türken waren, dann Faschisten und nicht »die Türken«. Von einem generalisierenden »die Türken in Kreuzberg« war in dem taz-Artikel aber gar nicht die Rede gewesen.
Dabei ist es doch wohl selbstverständlich, dass Homophobie kein Problem »der Türken« und schon gar kein ausschließlich »migrantisches Problem« ist. Es geht sowieso wohl kaum um Migranten, also Zugezogene, denn die meisten Jugendlichen, die auf der Straße schwulenfeindliche Sprüche klopfen, dürften hierzulande geboren und aufgewachsen sein. Wenn, dann geht es um ein Problem in der türkischen Community, aber auch dabei ist offensichtlich, dass Türken nicht nur Täter, sondern meistens auch die ersten Opfer sind. Es gibt seit Jahren eine Vielzahl migrantischer und speziell türkischer Schwulen-Lesben-Organisationen, und in Kreuzberg findet im »SO36« jeden Monat mit »Gayhane« eine sehr erfolgreiche schwul-lesbische Disko der türkischen Community statt. Gerade auch rund um diese Veranstaltung kommt es im Kreuzberger Kuschelkiez immer wieder zu Übergriffen auf Besucher, in der Regel Türkinnen und Türken. Dabei ist Gayhane gerade auch als »Schutzraum für Frauen, Transen, Schwule und deren Freunde, kurz: für alle, die in der türkischen Kultur Diskriminierungen ausgesetzt sind«, gedacht, wie Veranstalterin Fatma Souad sagt. Schwu­le und transsexuelle Türken, die das »Männlichkeitsbild in Frage stellen«, erklärt sie, gelten in der Community schnell als »Nestbeschmutzer«.

Derartige Übergriffe sind seit Jahren immer wieder ein Thema in der Schwulen- und Lesbenszene, allerdings jedes Mal auch Ausgangspunkt heftiger Debatten. Als das Berliner Café Positiv Ende 2004 wegen der beständigen Drohungen im Schöneberger Kiez und einer Reihe von Angriffen auf das Ladenlokal sich einen neuen Standort suchte, wurden die Betreiber mit Rassismusvorwürfen überhäuft. Sie bereuen den Umzug, an einen Ort ein paar Straßen weiter, jedoch nicht. Seitdem habe sich »alles verändert«, erklärt Michael Grady vom Café Positiv: »Hier haben wir es einfach mit anderen Anwohnern zu tun«, das Problem am alten Standort seien türkische und arabische Nachbarn gewesen, denen jeder »Respekt« vor Homosexuellen gefehlt habe. Grady sagt, wenn das Café in einem Ostberliner »Bezirk wie Lichtenberg oder Hohenschönhausen liegen würde und wir lauter Rechtsex­tremisten als Nachbarn hätten, dann wäre sicher das das Problem, hier in Schöneberg sind es aber nun mal Türken und Araber«.
So ist es auch in Hamburg im schwul geprägten Multikulti-Viertel St. Georg. Dort wurde im vergangenen Jahr ein schwules Pärchen von einer Gruppe Männer bedrängt, weil sie in Sichtweite der Moschee Händchen gehalten hatten. »Ihr beleidigt den Islam«, wurde ihnen unter anderem entgegengebrüllt. Der grüne schwule Politiker Farid Müller beklagt seit längerem eine wachsende Zahl von Übergriffen in St. Georg. Auch im Berliner Bezirk Neukölln, so berichten Schwule und Lesben, würden sie in bestimmten Gegenden nicht mit ihrer Partnerin bzw. ihrem Partner Händchen halten. Im Sommer 2004 wurden dort Mitglieder des LSVD, die Plakate mit der Aufschrift »Kai ist schwul – Murat auch« in türkischen und arabischen Läden aufhängten, von einer Gruppe Jugend­licher beschimpft und bedroht. »Mach unsere Leute nicht schlecht«, war dabei die harmloseste Äußerung, wenngleich eine ziemlich aussagekräftige. Denn sie erklärt vielleicht auch den Überfall auf das Drag-Festival in Kreuzberg.
Nur ein paar Stunden vorher hatte in Kreuzberg eine Demonstration gegen die angeordnete Schließung des schwul-lesbischen Ladens Lambda in Istanbul stattgefunden, bei der auch ein Transparent mitgeführt wurde, auf dem auf Türkisch stand »Gewöhnt euch an die Transsexuellen!«. Dies soll von türkischen Beobachtern am Straßenrand als Provokation empfunden worden sein und, wie die taz die Veranstalter des Festivals zitierte, die »Atmosphäre im Kiez aufgeheizt« haben. Das allerdings klingt beunruhigend, denn auch wenn eine Mehrheit der deutschen Normalbürger sich längst nicht an Transsexuelle gewöhnt hat, kann man sich kaum eine andere Umgebung vorstellen, in der solch ein harmloses Transparent die »Atmosphäre im Kiez aufheizt«. Ausgerechnet in einem Kiez, in dem Toleranz eine der wichtigsten Polit-Floskeln ist. Höchstens im tristesten Plattenbauverlies Ostdeutschlands könnte man mit solch einem Spruch wohl noch für Aufsehen sorgen.

Ob es in Deutschland tatsächlich ein spezifisches Problem mit Homophobie unter türkischen Jugendlichen gibt, damit haben sich in den vergangenen Jahren vor allem zwei größere Studien beschäftigt. An einer Befragung des Berliner Anti-Gewalt-Projekts Maneo, das ein »Schwules Überfalltelefon« betreibt, bei dem sich Opfer homophober Gewalt melden können, beteiligten sich 24 000 Personen, davon berichtete jeder Dritte von Gewalterfahrungen im zurückliegenden Jahr. Es wurde auch nach den Tätern gefragt. 49 Prozent der Opfer kreuzten »nicht weiter auffällig« an, was zeigt, das Homophobie keinesfalls ein Randgruppenphänomen ist. Sieben Prozent nannten »rechtsradikale Deutsche« als Täter, zwei Prozent »Fußballhooligans«, und 16 Prozent trugen in ein freies Feld ein, die Täter seien »nichtdeutscher Herkunft« gewesen. »Hätten wir nach dieser Tätergruppe gefragt, hätten wir mehr Nennungen gehabt«, ist sich der Sprecher von Maneo, Bastian Finke, sicher.
Die so genannte Simon-Studie der Christian-Albrechts-Universität in Kiel kam im Sommer 2006 zu dem Ergebnis, dass unter russischen und türkischen Gymnasiasten und Gesamtschülern an elf Berliner Schulen homosexuellenfeindliche Einstellungen »wesentlich stärker verbreitet sind als in der deutschen Vergleichsgruppe«, wobei in allen Gruppen die Mädchen und Frauen wesentlich weniger homophob erschienen. Zu den Ursachen erklärte die Studie, dass es viele Faktoren gebe, am deutlichsten sei aber der Zusammenhang mit Religiosität und der »Akzeptanz traditioneller Männlichkeitsnormen«. »Je religiöser sie sind, desto homosexuellenfeindlicher sind sie«, hieß es in der Studie.
Die Aussage über den Zusammenhang zwischen Religiosität und Homophobie lässt sich sicherlich für alle großen Religionen treffen. Vor allem der Islam jedoch gewinnt derzeit an Popularität, radikalisiert sich und baut seinen Einfluss auch in den Communitys der Diaspora aus, was durchaus erklären könnte, dass Schwulenfeindlichkeit dort virulenter wird.
Letztlich ist die Frage, ob im Durchschnitt mehr türkische Jugendliche schwulenfeindlich sind als deutsche, aber nicht entscheidend. Tatsache ist, dass in den meisten Städten dieselben Viertel, die schwul-lesbisch geprägt sind, auch »migrantisch«, sprich türkisch oder arabisch, geprägt sind. Und dass Schwule und Lesben in jenen, »ihren«, Stadtvierteln immer wieder Probleme vor allem mit nichtdeutschen Nachbarn haben. Dass es keine monokausale Erklärung gibt, kann nicht bedeuten, das Problem zu tabuisieren, wenn man die Losung »Fight Homophobia!« ernst meint. Schon allein deshalb, weil man damit die türkischen Schwulen, Lesben und Queere allein ließe. Fatma Souad sagte der Jungle World, selbstverständlich müsse man darauf achten, nicht in einen rassistischen Diskurs zu verfallen, und sie legt Wert darauf, dass in anderen Vierteln eben andere homophobe Tätergruppen das Problem sind: »Für Transen ist Straßenland überall Feindesland.« Wenn man dies berücksichtige, könne und müsse man aber auch die Situation in Kreuzberg thematisieren. Sie selbst will nun versuchen, eine Übersicht über die Übergriffe der letzten Zeit zusammenzustellen. In der Stellungnahme der Veranstal­ter des Drag-Festivals heißt es: »Sorgfältige Sprache ist dabei wichtig, um nicht in die einfache ›die-sind-schuld‹-Logik des rassistischen Alltags, der uns alle umgibt, zu fallen.« Damit haben sie Recht, Schweigen ist allerdings das Gegenteil einer »sorgfältigen Sprache«.