Die politische Lage in Kenia nach den Kämpfen im April

Die Ernte wird schlecht

Bis April wurde in Kenia zwischen Anhängern des Präsidenten und des Premierministers gekämpft, 1 500 Menschen kamen ums Leben. Die daraufhin gebildete Große Koalition sollte die Situation entspannen, ist aber gespalten. Nun diskutiert das Esta­blishment über eine Amnestie, während sich die soziale Lage der Bevölkerung verschlechtert.

Eine Handgemenge zwischen den Bodyguards der beiden höchsten Staatsmänner? Auch das gibt es. Ein hoher Militäroffizier beendete unlängst eine handgreifliche Auseinandersetzung zwischen den Bodyguards des kenianischen Präsidenten Mwai Kibaki und ihren Kollegen, die für die Sicherheit des Premierministers Raila Odinga zuständig sind. Nun ja, wirkliche Kollegen sind sie nicht, denn während Kibakis Sicherheitspersonal in Bel­gien oder den USA exzellent ausgebildet wird, wurden die Bewacher Odingas von lokalen Sicher­heitsfirmen angeheuert. Die beiden Staatsmänner befanden sich anlässlich der Feierlichkeiten zum 45. Jahrestag der eigenständigen Regierung Kenias auf dem Weg in das Nyayo National Stadium in Nairobi, an dessen Eingangstor es zu der Auseinandersetzung kam.
Die Schlägerei an dem ansonsten mit euphorischen Reden über die glorreiche Zukunft des Landes gefeierten Madaraka Day charakterisiert die aktuelle politische Situation in Kenia treffend. Die Regierung, die als Grand Coalition, als Große Koalition ein wenig nach deutschem Vorbild, nach der Eskalation der Gewalt im April gebildet wurde, ist tief gespalten.
Der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan hatte sich lange vergeblich bemüht, zwischen den rivalisierenden Parteien, dem Orange De­mocratic Movement (ODM) Odingas und Kibakis Party of National Unity (PNU), zu vermitteln. Deshalb erschien die Bildung der Großen Koalition als der einzige Weg, um die starrköpfigen alten Männer und die eskalierende Gewalt in Kenia unter Kontrolle zu bringen, die zwischen Ende Dezember und April rund 1 500 Todesopfer gefor­dert und rund 350 000 Menschen zu Vertriebenen gemacht hatte. Doch die anfängliche Erleichterung, die viele Kenianer nach diesem Abkommen verspürten, hielt sich nicht lange.
Die Hoffnung, dass diese Abmachung nicht gleich wieder in die Brüche gehen würde und damit noch mehr Menschen der Willkür marodierender Gangs und unkontrollierter Sicherheitskräf­te ausgesetzt wären, beruhte einzig auf der Annahme, dass die Gier nach Macht und Pfründen die Kontrahenten schon zusammenschweißen würde. Als die Ministerzahl auf 40 verdoppelt und die Posten gleichmäßig unter den Parteien aufgeteilt wurden, schien sich zu bestätigen, was andere befürchtet hatten: Der Preis des vermeint­lichen Friedens ist hoch.
So regen sich die Kommentatoren der Tageszei­tung Daily Nation regelmäßig über die aufwändigen Wahlpartys der Abgeordneten und Minister in ihren Wahlbezirken auf. Statt an der dringend benötigten neuen Verfassung zu arbeiten, den ver­sprochenen Wahrheitsfindungs- und Versöhnungs­prozess zu unterstützen oder die drohende Lebensmittelkrise einzudämmen, schmiedeten die Politiker schon wieder neue Pläne, wie die Wählerstimmen im Jahr 2012 zu gewinnen seien.

Seit einigen Wochen dominiert der Streit über ei­ne mögliche Amnestie für die während der Ausschreitungen und Unruhen Verhafteten die politische Debatte. Odinga fordert die Freilassung der inhaftierten Jugendlichen, denn sie seien keine Mörder, vielmehr hätten sie sich gegen ein unrechtmäßiges Wahlergebnis gewehrt und ledig­lich für die Demokratie demonstriert.
Der Minister für Innere Sicherheit, George Saitoti, und die Justizministerin, Martha Karua (PNU), stellen sich hingegen auf die Seite Kibakis und lehnen eine Amnestie mit der Begründung ab, dass damit die Justiz als Teil einer funktionierenden Demokratie faktisch unterlaufen würde und der Staatsverfall vorprogrammiert. Gewalt wäre dann legitimiert und eine weitere Eska­lation unabwendbar, wenn etwa die Flüchtlinge in die Nachbarschaft amnestierter Täter zurückgeschickt würden.
Eine erneute Eskalation könne es aber ebenso geben, argumentieren wiederum die Anhänger Odingas, wenn die Flüchtlinge, von der Regierung mit Startkapital versehen, in jene Dörfer zu­rückgeschickt würden, deren Jugend von den Sicherheitskräften schikaniert wurde und in deren Kugelhagel geriet. Eine Strafverfolgung der uniformierten Täter und Hilfe für die Traumatisierten seien aber nicht in Sicht.
Bisher wurden der Polizei zufolge 4 690 geringfügige Anklagen behandelt, während 7 310 Ver­brechen noch nicht geklärt und rund 550 Verdächtige noch gar nicht gefasst seien. Nach Anga­ben der ODM steht ein einziger Polizist unter Anklage, der zufällig gefilmt wurde, als er demonstrierende Jugendliche erschoss und in die toten Körper trat.

Die faktische Straffreiheit für das Militär und die Polizei nährt bei vielen ein Gefühl der Ohnmacht. Die meisten Kenianer erwarten, dass die Mehrzahl derer, die jugendliche Demonstranten angestachelt und einige Gangs auch bezahlt haben, freigesprochen gar nicht erst vor Gericht gestellt wird, weil sie die Richter unter Druck setzen oder bestechen können. Die Forderung nach einer Amnestie für die verhafteten Jugendlichen erscheint vielen dann als ein Gebot ausgleichender Gerechtigkeit. Wenn die Justiz »die da oben« nicht verfolgt, sollen auch gewalttätige Jugendliche nicht belangt werden. Einer Umfrage zufolge unterstützen mehr als die Hälfte der Kenianer die Amnestieforderung.
Das verheißt nichts Gutes. Viele derer, die ein gerechtes, auf legitimen Regeln beruhendes Rechts­system nach internationalen Standards gefordert hatten, scheinen ihre Hoffnung nun aufgegeben zu haben. Annans Forderung nach einem Prozess der Wahrheitsfindung und Versöhnung ist mit dem Streit im politischen Establishment über die Amnestie aus der offiziellen Debatte ver­schwunden. Eilig wurden wenige Tage vor dem Madaraka Day am 1. Juni Flüchtlinge mit Geld aus­gestattet, um ihnen so die Entscheidung zur Rückkehr in die teils ausgebrannten Häuser in ihren Dörfern etwas zu erleichtern.
Konkrete Maßnahmen zur Verhinderung neuer gewaltsamer Konflikte gibt es nicht, abgesehen von der Stationierung des Militärs. Die Armee werde sich nicht aus Mount Elgon zurückziehen, sondern dort eine Garnison errichten, sagte Generalstabschef Jeremiah Kianga am Dienstag der vergangenen Woche. Am Mount Elgon im Westen Kenias hat die Miliz der Sabaot Land Defence Force in den vergangenen zwei Jahren mindestens 600 Menschen umgebracht und hunderte gefoltert, die sich weigerten, sie zu unterstützen. Doch auch das Militär hat zahlreiche Menschenrechtsverletzungen begangen, Misshandlungen und Folterungen durch Soldaten sind mehrfach dokumentiert. Der kenianische Menschenrechtsrat (KNCHR), der seit Monaten eine Kampagne ge­gen die Straflosigkeit der Militärs führt, fordert nun, die Vergehen der Sicherheitskräfte vor Gericht zu bringen.
Im Nyayo Stadium kündigte Kibaki indes feierlich an, das Wirtschaftswachstum künftig auf zehn Prozent anheben zu wollen, um die Millenium Development Goals zu erreichen und in den Kreis der Schwellenländer vorzupreschen. Abgesehen von derlei euphorischen Prognosen hat der Präsident der Mehrzahl der Kenianer, die mehr denn je mit dem täglichen Überleben beschäftigt ist, wenig zu bieten. Die Lebensmittelpreise haben sich verdoppelt, die Transportkosten sind auf das Dreifache gestiegen.
An den höheren Ölpreisen verdient der Staat zwar mit 30prozentigen Steuern nicht schlecht, doch eine Subventionierung der Lebensmittel oder besser der Kleinbauern aus diesen Einnahmen ist nicht in Sicht. Die Kleinbauern können sich den Dünger infolge einer fast 250prozentigen Preissteigerung nicht mehr leisten, oft nicht einmal das Saatgut, viele Felder liegen in der Regenzeit brach. Die fruchtbaren Gegenden Kenias im Rift Valley und der Western Province werden dieses Jahr nur wenig zur Ernte beitragen, eine landesweite Lebensmittelknappheit ist die wahrscheinliche Folge. Gegen den Hunger und die Untätigkeit der Regierung streikende Studenten wurden verhaftet.
Lohnarbeit ist eine schlechte Alternative. Die Ge­werkschaft der Teepflücker konnte sich mit der Forderung, nur noch sechs statt wie bisher sieben Tage pro Woche zu arbeiten, nicht durchsetzen. Tee gehört zu den wichtigsten Exportgütern des Landes, doch die Teefabrikanten können auf billige Aushilfskräfte zurückgreifen, um die noch nicht zurückgekehrten 5 700 Teepflücker zu ersetzen, die in Flüchtlingscamps oder bei Verwandten leben.

Viele Familien verschulden sich, bar jeder Einkommensquelle, über die als entwicklungspolitisches Instrument gepriesenen Kleinkredite bei den Banken. Sie können das Geld nicht investieren, denn sie benötigen es, um ausstehende Rech­nungen für die Schulausbildung zu begleichen, damit die Kinder wieder zur Schule gehen dürfen. Für die Grundschulbildung und auch die Sekundarstufe werden offiziell keine Gebühren erhoben, doch das berücksichtigt weder alte Schulden und Bücher noch Uniformen, weder Unterbringung noch Verpflegung.
Bei Klassengrößen bis zu 120 Schülern wird sicher nicht die von Kibaki prognostizierte Bildungselite hervorgebracht, die dem Land dann den Aufschwung bescheren soll. Die von der Regierung vorgeschlagene Erhöhung des Rentenalters ist für die teilweise gut gebildete Jugend, die dennoch mit selbst gebastelten Fahrradtaxis oder durch den Verkauf von Abfällen an Tierzüchter ein kleines Taschengeld verdient, auch nicht gerade eine vielversprechende Perspektive.
Ihre Situation macht es offensichtlich: Die Spal­tung in Kenia verläuft nicht entlang ethnischer Linien, wenngleich diese immer wieder politisch instrumentalisiert wurden. Sie verläuft zwischen Armen und Reichen, Entrechteten und Establishment.
Die Pillars of Kibera (POK), eine Gruppe junger Leute unterschiedlicher Religion und Herkunft, die in dem größten Slumgebiet Nairobis unter dem Motto »Wasanii wa amani mitaani« (Friedenskünstler der Slums) soziale Betreuung anbieten, singen »Stop the Bloodshed«. Sie fordern die Opfer und Täter auf, die Gründe der Gewalt­es­ka­lation zu benennen und zu sagen, woher ihre Wut eigentlich kommt. Denn »Orte wie Kibera, wo die Gewalt ausbrach, sind genau der Platz, an dem der Frieden beginnen muss«.