Die Änderung des Asylrechts als Teil des deutschnationalen »Normalisierungsprozesses«

Gnade vor Recht

Entscheidender als die Asylrechtsänderung selbst war die Tatsache, dass sie beschlossen wurde. Dies war Teil des deutsch­nationalen »Normalisierungs­prozesses« nach der Vereinigung.

Die eine Version der Geschichte geht so: Im September 1991 wendet sich der CDU-Generalsekretär und spätere Verteidigungsminister Volker Rühe in einem Rundschreiben an die Kreis- und Fraktionsvorsitzenden seiner Partei und fordert sie auf, die Asylpolitik »zum Thema zu machen«. »In den Städten und Gemeinden artikuliert sich in der Bevölkerung am ehesten Unmut und mangelnde Akzeptanz des praktizierten Asylrechts«, heißt es in der verquasten Sprache des Unionsstrategen. Und für jeden, der noch immer nicht verstand, was ihm da empfohlen wurde, legte die Par­teizentrale noch je ein Musterschreiben für eine Anfrage im Kommunalparlament, einen Entschluss und eine Presseerklärung bei. »Eine weitere nennenswerte Zuweisung von Asylbewerbern ist für die Stadt XXX nicht mehr verkraftbar.« Damit war, so meinen einige heute, die Debatte um die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl eröffnet.

Tatsächlich bestand die Kritik am Grundrecht auf Asyl seit seiner Formulierung. Dass die Gewährung von Asyl, über Jahrtausende reines Gnadenrecht, in der Verfassung der Bundesrepublik als Rechtsanspruch verankert wurde, war, wie die Formulierung der Genfer Flüchtlingskonvention zwei Jahre später, eine direkte Folge des von Nazi-Deutschland verantworteten millionenfachen Flüchtlingselends und wurde konsequenterweise zwar als »Fremdkörper« in der Verfassung betrachtet, über vier Jahrzehnte aber als unvermeidbar geduldet. Flüchtlingsbekämpfung setzte daher unterhalb der Ebene der Grund­rechtsänderung bei einzelgesetzlichen Regelungen und einer besonders res­triktiven Verwaltungspraxis an. Zwar formulierte das Grundgesetz ein Recht auf Asyl für politisch Verfolgte, was aber politische Verfolgung sei und wer als ver­folgt gelten könne, wurde in den Entscheidungen der Verwaltungsgerichte so weit eingeschränkt, dass selbst Folter und drohende Todesstrafe mitunter nicht ausreichten, als »offensichtlich unbegründet« abgelehnten Anträgen doch noch stattzugeben.
Diese Mischung aus einem vergleichsweise liberalen Asylrecht und einer umso repressiveren Entscheidungspraxis der Gerichte galt lange Zeit als deutsches Erfolgsmodell. Bereits vor dem so genannten Asylkompromiss war die Anerkennungsquote zwischen 1972 und 1992 von fast 40 Prozent auf etwas weniger als vier Prozent abgesenkt worden. Ganz ohne Grundrechtsänderung wurde in den achtziger Jahren auf dem Verfahrensweg ein vollständig neues Ausländerrecht geschaffen. Mit dem Beschleunigungsgesetz von 1980 wurde der berüchtigte Einzelentscheider des Bundesamts eingeführt, mit dem Asylver­fahrensgesetz von 1982 die Residenzpflicht, die Regelunterbringung in Gemeinschaftsunterkünften und die mögliche Verweigerung ärztlicher Behandlung, mit einem weiteren Änderungsgesetz von 1986 wurde ein fünfjähriges Arbeitsverbot verhängt und die Anerkennung von Flücht­lingen aus Not- oder Kriegssituationen ausgeschlossen.
Zuletzt kurz vor dem Zusammenbruch der real­sozialistischen Staaten, Ende der achtziger Jahre, hatte die Regierung Helmut Kohls versucht, die ausländerrechtlichen Regelungen noch weiter zu verschärfen. Der Entwurf scheiterte 1987 noch an einer breiten Opposition aus SPD, Gewerkschaften und Kirchen. Schon zwei Jahre später wur­den auch aus den Reihen der SPD-Führung die ersten Forderungen nach einem Ende des »Asylmissbrauchs« laut.

Es konnte wohl niemand anderes als Oskar Lafontaine sein, damals saarländischer Ministerprä­sident, der 1989 ein Ende des »Asylmissbrauchs« forderte und sich für die so genannte Drittstaatenlösung einsetzte, die eine Anerkennung solcher Flüchtlinge ausschließt, die durch einen als sicher eingestuften Staat nach Deutschland gereist waren. Auf dem Petersberger Parteitag von 1992 wurde diese Regelung, die den Kernbestand der noch 1987 abgelehnten Gesetzesnovelle der Kohl-Regierung darstellte, ganz offiziell zum Programmpunkt der SPD. Als die Änderung des Grundgesetzartikels 16 dann endlich zur Abstimmung stand, konnte sich die Kohl-Regierung ausreichender Zustimmung aus den Reihen der SPD-Fraktion sicher sein. Nicht ohne Häme zitierte Wolfgang Schäuble, damals Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU, in der Bundestagsdebatte den sozialdemokratischen Säulenheiligen Herbert Wehner. »Wenn wir uns weiterhin der Steuerung des Asylproblems versagen«, soll Wehner dem Parteivorstand 1982 erklärt haben, »dann werden wir eines Tages von den Wählern, auch unseren eigenen, weggefegt werden.«
So falsch dürfte der Sozialdemokrat damit gar nicht gelegen haben. Denn weder Oskar Lafontaine noch Volker Rühe tragen, bei aller metzgerhundhaften Kaltschnäuzigkeit, die alleinige Verantwortung für den deutschnationalen Taumel, dem das Grundrecht auf Asyl Anfang der neunziger Jahre zum Opfer fiel. Voran gingen nicht nur die Pogrome in Rostock und Hoyerswerda, die Morde in Solingen und Mölln, die Hetzjagden auf Ausländer in ostdeutschen Städten, sondern auch das allseits verkündete Ende der Nachkriegs­zeit und damit auch jener historischen Verpflichtungen, die in der BRD so gerne als »Lehren aus der Geschichte« bezeichnet wurden. Es bedurfte der so genannten Wiedervereinigung, um das besondere Grundrecht auf Asyl faktisch abzuschaffen, ohne dabei auch nur ansatzweise auf die historische Begründung des Asylrechts hinzuweisen. Im Bewusstsein, die Geschichte einmal mehr ausgetrickst zu haben, darf seitdem abgeräumt werden, was der Parlamentarische Rat einst als Grundrechtskatalog der Verfassung formulierte. Die Änderung des Artikels 16 GG war ein Sieg des Politischen über das Recht. War der Asylrechtsartikel ursprünglich bewusst nicht unter Gesetzesvorbehalt gestellt, wurde er nun mit Artikel 16a GG von einem ganzen Katalog von Einschränkun­gen flankiert.
Die eigentliche Bedeutung des so genannten Asylkompromisses lag daher weniger in seinem konkreten Regelungsgehalt als vielmehr darin, ihn überhaupt vollzogen zu haben. Denn auch, wenn der seinerzeitige Kanzler Helmut Kohl von einem Staatsnotstand sprach und demografische Zahlenspiele eine baldige »Überfremdung« prognostizierten, bestand ein wirklicher Hand­lungs­bedarf nicht. Zum Zeitpunkt der Grundgesetzänderung im Sommer 1993 wurden so wenige Flüchtlinge anerkannt wie nie zuvor. Die vielfältigen Probleme der Verwaltung mit in Gemeinschaftsunterkünften mehr internierten als untergebrachten Asylsuchenden waren hausgemacht und eine direkte Folge der Gesetzeslawine der vorangegangenen Jahre. Die Möglichkeit, bei der Aufnahme von Flüchtlingen wieder zum alten politischen Gnadenrecht zurückzukehren, wurde vielmehr als Restitution nationaler Souveränität verstanden.
Der Fall des Historikers Golo Mann verdeutlicht dies. Als Mann, einst selbst Emigrant, damals forderte, man solle »die Grenzen dicht machen« und »diese Leute so bald und so freundlich wie möglich hinausbefördern«, ging es ihm nicht um die Flüchtlinge selbst, sondern darum, dass zu einem richtigen Deutschland eben auch die politische Entscheidung über Erwünschte und Unerwünschte gehört.

Die praktischen Folgen der Grundrechtsänderung fielen indessen kaum weniger verheerend aus. Im Wesentlichen wurden mit dem Artikel 16a GG die so genannte Drittstaatenregelung, die Definition von so genannten sicheren Herkunftsstaaten und, mittelbar, die Kontingentaufnahme für Bürgerkriegsflüchtlinge eingeführt. Damit wurde nicht nur die rechtliche Verantwortung für das Schicksal eines Flüchtlings nach außen, in Dritt- und Herkunftsstaaten verlagert, sondern die Flucht­abwehr selbst sukzessive in einen Bereich außerhalb deutscher Jurisdiktion verlegt. Ziel ist, Flüchtlinge bereits möglich weit außerhalb des Geltungsbereichs asylrechtlicher Regelungen aufzufangen. An der konkreten Ausformulierung der dazu notwendigen gemeinsamen europäischen Fluchtabwehr haben nicht zufällig alle deut­schen Innenminister seit Manfred Kanther (CDU) einen wesentlichen Anteil gehabt.
Der Erfolg dieser Politik bemisst sich nicht alleine in der stetig sinkenden Anerkennungsquote. Bereits vor der Änderung des Artikels 16 GG war mit 3,2 Prozent Anerkennung durch das Bundesamt nur noch wenig Spielraum nach unten. Gravierend geschrumpft ist vielmehr die Zahl derjenigen, die es überhaupt so weit schaffen. 1995 wurden noch etwa 166 000 Anträge gestellt, zehn Jahre später war die Zahl auf unter 50 000 gesunken, 2006 stellten gerade noch 21 000 Flüchtlinge einen Erstantrag in Deutschland. Die Anerkennungsquote liegt heute bei etwas unter einem Prozent.