Atomkraftwerke in Frankreich

Die nächste Generation

Einer der erfolgreichsten Exportartikel Frankreichs ist das Atomkraftwerk. Die dritte Generation wird bereits gebaut.

Die Nationale Agentur für die Verwaltung radioaktiver Abfälle (Andra) sucht derzeit fieberhaft nach einem Ort für die Einlagerung »niedrig strahlender langlebiger« Nuklearabfälle. Diese Abfälle sind zwar nicht so gefährlich wie die stark strahlenden, etwa plutoniumhaltigen, dafür aber in größeren Mengen vorhanden und sehr lang­lebig. Für die stark strahlenden Abfallstoffe baut die Andra derzeit ein Endlager im ostfranzösischen Bure in Lothringen, wo es aber seit Jahren immer wieder zu Protesten und Demonstrationen kommt. Die Frage, was mit den nicht ganz so stark radioaktiven Abfällen geschehen soll, war bislang hingegen offen geblieben.
Die Andra hat nun Anfang Juni rund 3 000 Bürgermeister französischer Kommunen angeschrieben, um sie zu »freiwilligen Kandidaturen« für Endlagerstätten zu bewegen. Einige Bürgermeister haben sich angeblich bereits gemeldet, da sie sich davon finanzielle Vorteile erhoffen dürfen. Das französische »Netzwerk Atomausstieg«, Réseau Sortir du Nucléaire, spricht von »institutionalisierter Korruption« und erklärt, erst dann zu Gesprächen über mögliche Endlagerstätten bereit zu sein, wenn die Produktion von Atommüll beendet ist – durch einen Ausstieg aus der Atom­energienutzung. Das ist die zentrale Forderung einer Demonstration, zu der das Netzwerk Atomausstieg für kommenden Samstag in Paris aufruft.
Dieser Ausstieg schien in Frankreich, wo 58 Atomreaktoren laufen und die ehemals staatliche Elektrizitätsgesellschaft EDF über 80 Prozent ihres Stroms aus solchen Anlagen bezieht, lange Zeit kein Thema zu sein. Inzwischen ist der Wunsch nach einem Abschied von der Atom­energie, oder zumindest nach ihrer Reduzierung, aber auch westlich des Rheins ins Gespräch gekommen.
Zwar ist das Thema nicht Gegenstand heftiger innenpolitischer Polemiken, wie sie etwa in Westdeutschland 1986 die Gesellschaft und auch die Parteien durchzogen. Doch allmählich haben sich auch in Frankreich Bedenken hinsichtlich der Nutzung von Atomenergie durchgesetzt. Ein Anzeichen dafür war, dass die sozialdemokratische Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal sich im Winter 2006/07 für eine starke Senkung des Anteils der Atomenergie an der französischen ­Energieerzeugung aussprach. In ihrem Programm forderte sie eine Begrenzung auf 50 Prozent. Unabhängig von ihrer Ernsthaftigkeit war diese relativ kritische Position zur bisherigen Atompolitik eine neue Erscheinung in der französischen Innen­politik. Bislang hatten sich lediglich die Grünen und die trotzkistische LCR gegen die Atomindust­rie ausgesprochen.

Der französische Nuklearkonzern Framatome, der eng mit dem deutschen Siemens-Konzern zusammenarbeitet, entwickelt seit Jahren den Atomreaktor der »dritten Generation«, den EPR (European Pressurized Reactor). Außer Frankreich, wo ein Atomkraftwerk dieses Typs im normannischen Flammanville im Bau ist, hat aber bislang nur Finnland einen solchen Reaktor in Auftrag gegeben. Dort hat sich der Bau jedoch wegen vieler technischer Probleme immer wieder verzögert. In Frankreich hört man hingegen nicht sehr viel über das Fortschreiten des Baus, dafür kam es – vor allem im Wahlkampfjahr 2007 – mehrfach zu Demonstrationen in Flammanville, die im Frühjahr vergangenen Jahres landesweit mehrere zehntausend Menschen anzuziehen vermochten.
Und dennoch ist die französische Atomindust­rie heute auf optimistisch. Denn sie vertraut darauf, dass die Debatten um den Klimawandel, um die Emissionen fossiler Kraftstoffe und um den hohen Erdölpreis der Atomenergie zu einer weltweiten Renaissance verhelfen werden. So begleitete Anne Lauvergeon, Chefin des französischen Atomkonzerns Areva (früher Cogema, Compagnie générale des matières nucléaires) Ende November den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy auf Staatsbesuch nach China. In Peking konnte sie Lieferverträge für Atomkraftwerke und -brennstoffe über acht Milliarden Euro abschließen. Lauvergeon rechnet mit einer »neuen nuklearen Ära«, die etwa in Nordamerika ab 2010 mit der Errichtung von »30 bis 35 Atomkraftwerken« der nächsten Generation eingeleitet werden soll. Das jedenfalls ist ihr Kalkül, und dafür ging sie im November vergangenen Jahres in den USA auf Werbetour. Sie hofft darauf, dass die USA, die den mit Abstand höchsten Energieverbrauch des Planeten aufweisen, der französischen Atombranche die Zukunft sichern werden und Areva als erste ausländische Firma einen Reaktor in den USA absetzen kann. Obwohl die Pariser Abendzeitung Le Monde ihren Optimismus noch etwas dämpft, prognostiziert sie doch auch gewisse Chancen für die Areva-Pläne.

Präsident Nicolas Sarkozy hofft unterdessen darauf, vor allem den arabischen und afrikanischen Ländern Atomkraftwerke französischer Herkunft verkaufen zu können, indem er diese als vermeint­lichen Trumpf für eine künftige Entwicklung anpreist. Zuletzt schloss der französische Premierminister am vorletzten Wochenende in Algier zwei Abkommen über die Zusammenarbeit bei der »zivilen Nutzung der Atomenergie« ab.
Zuvor hatte die französische Diplomatie es als Erfolg verbucht, dass Libyens Staatschef Muammar al-Ghaddafi bei Sarkozys Besuch Ende Juli vergangenen Jahres ankündigte, neben Rüstungsgütern auch ein französisches Atomkraftwerk zu erwerben – »zwecks Energiegewinnung zur Entsalzung von Meerwasser«. Einen Monat später, als Außenminister Bernard Kouchner den besetzten Irak besuchte, versuchte der französische Minister, auch der irakischen Regierung unter Nuri al-Maliki französische Atomtechnologie anzubieten. Der Irak zeigte sich ebenfalls interessiert. Seitdem hat man allerdings nichts mehr von dem Projekt gehört, der Irak dürfte andere Sorgen haben.
Beim europäisch-afrikanischen Gipfel im vergangenen Dezember in Lissabon wurde als angeblicher Beitrag zur Entwicklungshilfe ein Passus über die »Hilfe bei der zivilen Nutzung der Atomenergie« in die Abschlusserklärung aufgenommen. Und das, wie sich im Nachhinein herausstellte, auf starken französischen Druck. Bislang verfügt auf dem gesamten afrikanischen Kontinent allein die Republik Südafrika über Atomanlagen, die während des Apartheid-Regimes errichtet worden waren, und das aufgrund der intensiven nuklearen Zusammenarbeit mit Frankreich, Westdeutschland und Israel. In den frühen neunziger Jahren erklärte Frederik Willem de Klerk, der letzte Präsident des Apartheid-Regimes, sein Land habe die Atombombe besessen, aber vor der Macht­übergabe an politische Vertreter der Schwarzen wieder zerstört.

Es bleibt die Frage, ob es nicht bedenklich ist, Atomkraftwerke Ländern mit teilweise autoritären Regierungen anzubieten, die dadurch möglicherweise an den begehrten Rohstoff für atomare Waffen, hoch angereichertes Uran oder Plutonium, kommen könnten. Nicolas Sarkozy hat eine Antwort darauf: Er erklärte Anfang August 2007 mit Blick auf die Kritik an seinem Libyen-Deal, dass es »im Notfall eine Vorrichtung gibt, mit der sich ein Atomkraftwerk auch von außen abschalten lässt«. Das bedeutet ungefähr, dass man ein AKW zuerst verkauft, dann aber, falls es nötig sein sollte, doch noch den Ausschaltknopf drücken könnte.
Doch selbst wenn das funktionieren sollte, existiert ein Problem. Das Plutonium bleibt, wenn es sich erst einmal durch Neutronenbeschuss aus Uran-Atomen gebildet hat, auch nach einer Abschaltung in den Brennstäben. Allerdings muss das Plutonium danach noch durch einen schwierigen chemischen Prozess »wiederaufbereitet« werden. Es muss aus der radioaktiven Masse des Atommülls herausgelöst und abgetrennt werden. Über diese Technologie zu verfügen, ist wiederum für einen Möchtegern-Schurkenstaat erheblich schwieriger.
Frankreichs Regierung hofft also darauf, dass französische Firmen oder Staatsagenturen die Atomkraftwerke in den verschiedenen Ländern zunächst bauen und später den Atommüll wieder einsammeln und zu Hause, beispielsweise in der Wiederaufbereitungsanlage in La Hague, entsorgen.
Nicht ganz zu Unrecht bezeichnete die Umweltorganisation Greenpeace deshalb in einem Kommuniqué die Förderung der Atomenergie durch Frankreich südlich des Mittelmeers als »industriellen Neokolonialismus«. Trotzdem ist die vermeint­liche Alternative, nämlich eine vollständige Verfügungsgewalt autoritärer Regimes über alle Etappen des nuklearen »Brennstoffkreislaufs«, nicht wirklich wünschenswert. Ein Verzicht auf diese gefährliche Technologie auf beiden Seiten des Mittelmeers scheint nach wie vor wesentlich risikoärmer.