Computerspiele im echten Leben

Feels like real life

Was passiert, wenn Pacman plötzlich durch die Straßen von Singapur spazieren geht? Das nennt sich »analog re-enactment« und bedeutet: Computerspiele werden echt.

Im riesigen Saal der Universitätsbibliothek von Michigan herrscht die übliche Betriebsamkeit des akademischen Lehrbetriebs, alles scheint wie immer. Plötzlich jedoch werden die büffelnden Studenten aus ihrer Konzentration gerissen, ein lebensgroßer Pacman rennt johlend durch die Gänge und wird dabei von einem seltsam quakenden Geist gejagt: »Wakawakawakawa kawakawaka!« Manche beobachten das seltsame Treiben fassungslos oder leicht irritiert, andere können sich das Lachen nicht verkneifen. Eine Minute später ist der seltsame Spuk vorbei. Dies ist nur eines von mehreren hundert Videos, die aufgelistet werden, wenn man beim Online-Portal Youtube »human« oder »real life com­putergames« in die Suchmaschine eingibt. Die skurrilen Produktionen zeigen bekannte virtuelle Figuren aus elektronischen Spielwelten, die in der realen Welt als Wesen aus Fleisch und Blut agieren.
Und obwohl die meisten Clips von hyperaktiven Jackass-Fans und studentischen Pranksters inszeniert worden sind und recht krude wirken, sind sie fast alle höchst unterhaltsam.
Aber nicht nur phantasievolle Spielsüchtige beschäftigen sich mit dem so genannten analog re-enactment, aufwändigere Produktionen dieses Genres findet man an den unterschiedlichsten Orten, in japanischen Fernsehspielshows (»Human Tetris«) ebenso wie in der New Yorker Universität (»Pac-Manhattan«) oder in Schweizer Kunstperformance-Stätten (»Game Over Project«)

Wie viele kuriose Ideen stammt auch die, Computergames im wirklichen Leben nachzuspielen, aus Japan, dem Ursprungsland vieler Klassiker unter den Elektronikspielen. Dort schuf der bekannte Filmregisseur Takeshi Kitano eine tra­shige Fernsehshow names »Takeshi’s Castle«, deren Grundidee die Versetzung von Jump’n’Run-Computerspielen wie beispielsweise »Super Mario« in die Realität war. Jahre später wurde die Sendung dann auch in vielen Ländern der Welt zum Kult (In Deutschland lief sie jahrelang im DSF) und machte wohl auf besonders eingefleischte Fans großen, bis heute nachwirkenden Eindruck.
Dies ist jedenfalls eine mögliche Erklärung für die weite Verbreitung dieser leicht bizarren Freizeitgestaltung, die zumeist auch mit großem Enthusiasmus und großer Ausdauer betrieben wird. Dabei steht für die Macher anscheinend der Spaß an der Umkehrung im Vordergrund, die meisten Inszenierungen sind zugleich Hommage und Persiflage, hier und da gibt es auch mal satirisch-kritische Seitenhiebe. Trotzdem kommt man beim Betrachten dieses obsessiven Nachstellens binärer Spielwelten nicht umhin, sich die Frage nach dem Grund für dieses Tun zu stellen. Ahnen vielleicht diese Analog-Aktivisten unbewusst, dass die zukünftige Menschheit es irgendwann mit künstlicher Intelligenz und virtuellen Wesen zu tun haben wird, zum Beispiel mit schlecht gelaunten Klempner-Robotern, die wie Super-Mario aussehen? Oder kann man die symbolische Freisetzung der gepixelten Helden auch schon als versöhnliche Geste gegenüber den von endlosen Wiederholungen zermürbten Kreaturen aus der binären Spielhölle betrachten? Agiert auf subtile Art hier so etwas wie eine analoge Bewegung zur Befreiung der virtuellen Wesen?
Nachdem die Kulturgeschichte des Computerspiels schon längst historisiert worden ist, verwundert es wenig, dass sich auch Hollywood mit dem Thema Games befasst. Zurzeit wird ein Biopic über den legendären Atari-Gründer Nolan Bushnell (gespielt von Leonardo Di Caprio) gedreht, der in den siebziger Jahren mit der Erfindung des Bildschirm-Tischtennisspiels »Pong« die Initialzündung für die elektronische Spielbranche setzte – eine Branche, die schon seit einigen Jahren mehr Umsatz und Gewinn macht als die Filmbranche.

Im Internet finden sich alle möglichen Arten von nachgestellten Spielszenarien. »Pong« ist dabei der Klassiker schlechthin, mit dem alles begann. Unterlegt mit der Originalmusik des Games zeigt ein S/W-Filmchen, wie Menschen-Pong geht: Zwei Jungs auf Skateboards, die von Helfern mit Stricken manövriert werden, stellen die Balken dar, gut zu erkennen auch daran, dass sie eben diese Balken als Styropor-Recht­ecke auf den Köpfen tragen. Ihre Aufgabe besteht darin, den human Tennisball abzufangen, der, sich vor- und rückwärts bewegend, versuchen muss, eine der beiden nach rechts und links das Spielfeld begrenzenden Linien zu überqueren.
Das nachgespielte »Sims« besticht ebenfalls durch Liebe zum Detail. Die wie im wirklichen Spiel fremdgesteuerte Figur bewegt sich ein wenig unbeholfen durch ihr Leben und stößt dabei unentwegt die typischen universellen Brabbellaute aus. Sie wird auf Schritt und Tritt begleitet von einem Helfer, der die im Game als kleines Wölkchen über dem Kopf des jeweiligen Protagonisten schwebende Anzeige des Gemütszustandes als Schild hochhält. Am Ende tut sie jedoch etwas, was virtuelle Figuren niemals tun würden: Sie zeigt demjenigen, der sie steuert, den Stinkefinger.
An den Universitäten von New York und Singapur fand man neulich wohl, dass die Zeit endlich gekommen sei, um Pacman und seinen Geistern mal etwas Auslauf in der urbanen Welt zu erlauben. Natürlich wurde das mit ungleich größerem Aufwand betrieben als bei den üblichen Nerd-Inszenierungen im Netz. Beim »Human Pacman project« des Mixed Reality Lab der National University of Singapore war das Hauptziel, die künstliche Welt mit der realen verschmelzen zu lassen. So bewegten sich die Spieler, ausgestattet mit einem aus Virtual-Reality-Brille und einer Kamera bestehenden Headset sowie einem tragbaren Com­puter durch die Straßen von Singapur. Teile des Spielgeschehens wurden dabei von einem Rechner generiert und auf das Cyberbrillen-Display des Spielers projiziert, zum Beispiel, wenn Pacman Pillen und Kekse frisst.
Die Geister dagegen bewegten sich wirklich umher, und wenn sie Pacman erwischten, verlor dieser sein Spiel-Leben, die jeweilige Position der Spieler wurde dabei per GPS ermittelt.
Die Beweggründe für solcherart Spielerei sind hier natürlich andere, als Pacman mal aus der Egoshooter-Perspektive zu erleben. Es geht hier hauptsächlich darum, zukünftige Virtual-Reality-Anwendungen für zivile und militärische Ziele zu erforschen und zu entwickeln. Diese Anwendungen sind zum Beispiel für US-amerikanische Soldaten schon längst Alltag geworden.

Games sind nicht nur für Geeks, Historiker und Forscher ein Thema, sondern auch für die Kunst. Auf Youtube kann man zum Beispiel die Video-Performances des Schweizer Multimedia-Künstlers Guillaume Reymond sehen. Im Rahmen seines »Game Over Project« hat er in den vergangenen Jahren an unterschiedlichen Orten mit unzähligen freiwilligen Pixelmenschen vier Klassiker unter den Spielen (wie »Space Invaders«, »Pole Position« und »Tetris«) nachgestellt. Bewerkstelligt wurde dies in Zuschauerräumen von Theatern, wo sich verschiedenfarbig gekleidete Menschenblöcke stundenlang in den Sitzreihen hin- und herbewegten. Aufgezeichnet im Stop-Motion-Verfahren, wurden die Einzelbilder dann anschließend zu einer kurzen Spielhandlung zusammengefügt. »Es werden ja immer häufiger Menschen für Animationsfilme digitalisiert, und ich dachte, es wäre mal interessant, den umgekehrten Weg zu gehen, also nicht den Computer zu benutzen, um die Realität zu imitieren, sondern den Computer zu imitieren, indem man die Realität – also Menschen – benutzt«, erklärt Reymond.
Angesichts der Allgegenwart von Computerspielen in der heutigen Welt verwundert der überwältigende Erfolg solcher Projekte kaum. Mit mehr als zehn Millionen Views auf diversen Plattformen und dem Gewinn des Youtube Video Award 2007 ist das »Game Over Project« fast schon zu einem ähnlichen Massenphänomen geworden wie die nachgestellten Spiele.
Die Künstlergruppe Projekt Blinkenlights, die aus dem Chaos Computer Club hervorgegangen ist, arbeitet dagegen mit interaktiven Lichtinstallationen, die an Gebäude projiziert werden. 2002 wurde im Tour des Lois der Bibliothèque nationale de France ein Lichtwerk namens Arcade installiert, das acht Graustufen darstellen konnte. Per Telefon konnte man dann am Hochhaus Games wie »Pacman«, »Breakout«, »Pong« und »Tetris« spielen.
Die Frage, ob der Mensch selbst Computerspielfiguren immer ähnlicher geworden ist, bleibt vorest offen. Die fortschreitende Virtualisierung scheint das Leben immer binärer zu machen, und durch die zunehmende Überwachung (ob gefühlt oder echt) werden menschliche Handlungen immer stärker beeinflusst.
So könnten die Menschen eines Tages nur noch eine begrenzte Auswahl an Handlungsmöglichkeiten haben, genau wie die Protagonisten eines Computerspiels. Biologen, die den freien Willen des Menschen in Frage stellen, argumentieren, der Mensch sei schon immer biologisch programmiert und somit ein determiniertes Wesen gewesen. Da es sich insgesamt dabei bislang immer noch um ein umstrittenes wissenschaftlich-philosophisches Problem handelt, sollte man sich bis zu dessen Klärung mit der Erkenntnis des Binär-Buddhismus trösten: Alles ist eins, bis auf die Null.