Thilo Sarrazin und Arbeit, Arbeit, Arbeit

Knüppeln, knausern, Knäckebrot

Ohne Lohn geht es zur Not. Ohne Brot auch. Aber nicht ohne Arbeit! Thilo Sarrazin, der Berliner Finanzsenator, verkörpert die protestantische Arbeits­ethik wie kein zweiter.

Wenn ein Finanzsenator, der im Monat über 10 000 Euro verdient, behauptet, er würde auch für fünf Euro die Stunde arbeiten gehen, liegt es nahe, ihn für einen zynischen Lügner zu halten. Aber Thilo Sarrazin, Berliner Finanzsenator und Sozialdemokrat, ist kein zynischer Lügner. Als gut erzogener Spross einer Hugenottenfamilie kann er ehrlicherweise gar nichts anderes behaupten, auch wenn er damit seine Partei schwer verärgert, die sich bekanntlich für einen Mindestlohn von 7,50 Euro einsetzt. Denn der wahre Hugenotte, der dank calvinistischer Einflüsse noch protestantischer ist als der Papst katholisch, hat eine besondere Eigenschaft: Er kann ohne Lohn und zur Not sogar ohne Brot auskommen, aber nicht ohne Arbeit. Nichts scheint ihm daher schlimmer als die Arbeitslosigkeit. »Das Gefühl, dass man nicht mehr notwendig ist, das ist das Problem«, sagt Thilo Sarrazin. Das gehe schließlich allen Lebewesen so. »Ein Hund will auch wahrgenommen werden von seinem Herrchen, wenn das nicht der Fall ist, hat er ein Problem. Auch dann, wenn er gutes Futter kriegt.« Weil man schon am Hund sieht, dass »Arbeit ein Eigenwert« ist, fordert Sarrazin in der Fernsehsendung »Klipp und Klar« deshalb konsequent: »Arbeit für alle unabhängig von der Einkommensfrage«, also notfalls eben ohne Futter! Der Hugenotte scheint gerade dann besonders stolz auf sich zu sein, wenn er für seine Arbeit fast keinen Lohn erhält. Im gleichen Cicero-Interview, in dem Sarrazin behauptete, auch für fünf Euro arbeiten gehen zu wollen, erzählt der Finanz­senator, wie er sein erstes Geld verdiente: »Mit dem Mähen des elterlichen Rasens von Hand inklusive Harken. Für 800 Quadratmeter habe ich 1,70 Mark erhalten.« Wer die Erziehung eines Vaters genoss, der für das Mähen seines riesigen Gartens dem Sohn 1,70 Mark gönnt, weiß, was wahres Arbeitsglück bedeutet. Glücklicher noch als bei der Arbeit ist der echte Hugenotte nur beim Verzicht. Besonders im Urlaub hebt er die Stimmung gern mit ein wenig Askese. Und wenn die Urlaubsaskese zusätzlich noch der Arbeit dient, kommt Hochstimmung auf. Wie vergnügt müssen Thilo Sarrazin und seine Frau gewesen sein, als sie im Urlaub das von seiner Behörde entworfene Hartz-IV-Menü testeten! »Es geht darum, dass ich belegt habe, dass man sich bei vorausschauender Vorratshaltung und Einkaufsplanung für unter vier Euro am Tag gesund, ausgewogen und vollwertig ernähren kann. Und das habe ich zusammen mit meiner Frau im Urlaub selbst ausprobiert. Es funk­tioniert«, sagte Sarrazin der BZ. Um diesen Typus zu verstehen, sollte man sich das bildlich vorstellen: Nehmen wir an, der Finanzsenator und seine Frau haben sich für ihren Urlaub eine Ferienwohnung gemietet. Sagen wir, drei Zimmer, Blick auf einen See, Stabparkett, Ledersessel, Edelstahlküche. Der Senator will selbst kochen. Am ersten Urlaubsmorgen steht Thilo Sarrazin um sieben auf und geht einkaufen bei Aldi. Zu Fuß, auch wenn der Supermarkt weit weg ist vom See. (Als im Berliner Senat über das Sozialticket der BVG gestritten wurde, soll er schließlich empfohlen haben, Arbeitslose könnten auch zu Fuß gehen.) Bei Aldi legt er das billig­s­te Vollkornbrot, den billigsten Käse, die billigsten Bratwürste in seinen Einkaufswagen – alles, was seine Mitarbeiterin aufgelistet hat für drei Tagesrationen zum Hartz-IV-Essenssatz. Wie gut müssen sich die Sarrazins nach der Abend­mahlzeit des dritten Tages gefühlt haben! Das ist ja alles gar nicht so schlimm! Von vier Euro am Tag kann man sich gut ernähren, man wird sogar satt! Das »wäre für mich bis zu meinem 17. oder 18. Lebensjahr Luxusernährung gewesen«, triumphiert Sarrazin, das arme Nachkriegskind eines Arztes mit einem 800 Quadratmeter großen Garten. Was wollen die Faulenzer denn mehr? Bio-Ziegenkäse aus Frankreich und griechische Oliven? Aus seinem selbstlosen Experiment schließt Sarrazin, »dass der Hartz-IV-Empfänger, der sich oder seine Kinder nicht gut versorgt, oft kein Geld-, sondern ein Verhaltensproblem hat«. Aber eigentlich hat er das schon vorher gewusst: »Wenn man sich das anschaut, ist das kleinste Pro­blem von Hartz-IV-Empfängern das Untergewicht.« Mit verhaltenem Stolz sagt der Senator in einem Videointerview auf Spiegel online: »Ich selbst ernähre mich so, dass ich kein Übergewicht habe, das können Sie sehen.« Einnahmen und Ausgaben im Griff zu haben, das ist diesem Typus wichtig. »Wenn ich so viel esse wie in diesem Speiseplan, hätte ich Übergewicht.« Sogar der Verdauungstrakt Sarrazins scheint besonders effektiv zu arbeiten. Kein Wunder, dass er neben seiner Tä­tigkeit als Finanzsenator noch 46 Nebentätigkeiten nachgehen kann und ihm dazu die Zeit bleibt, sich in Talkshows über Arbeitslose zu amüsieren. Ganz gleich aus welcher Partei die Entrüstungs­schreie über seine berüchtigten Äußerungen zu hören sind – alle loben zugleich seine Arbeit als Haushaltssanierer. Was wäre die rot-rote Berliner Koalition, wenn sie sich nicht hinter Sarrazin verstecken könnte, der die Rolle des erbarmungs­losen Sparkommissars mit Freuden einnimmt? Mit jeder partei- und koalitionsschädigenden Äußerung beweist Sarrazin, das er kein Politiker, sondern ein »Leistungsträger« ist, der es sich leisten kann, über die zu lästern, die von »seinen« Leistungen abhängig sind. Auch ist zur Vergewisserung des eigenen Seelenheils sowie zur Kompensation von Arbeitsmühen und Verzicht nichts zweckdienlicher als ein Blick auf die gottverlassene verfettete Unterschicht, die ihre Triebe nicht in den Griff bekommt. »Nirgendwo gibt es so viele Menschen, die öffentlich in Trainingsanzügen rumschlurfen, wie in Berlin«, sagte Sarrazin im Jahr 2002 und hatte trotz aller Proteste die Lacher auf seiner Sei­te. Mit dem Bedürfnis, Arbeitslosen die Schuld für ihre Misere zuzuschieben und sich mit Geläch­ter zu versichern, selbst auf der sicheren Seite zu stehen, ist Sarrazin bei weitem nicht alleine. Sarrazin ist sich sogar sicher, dass auch diejenigen, die sich über seinen Kommentar aufregten, angefangen hätten, »Trainingsanzüge zu zäh­len«, und dann festgestellt hätten: »Jawohl: Der Sarrazin hat ja Recht.« Und weil Sarrazin Recht hat, ist auch klar: Protest gegen seine Politik ist Quatsch. Als Studenten im Kampf gegen Studiengebühren sein Büro besetzten, hielt er ihnen entgegen: »Ihr seid doch Arschlöcher.« Als Eltern gegen erhöhte Kitagebühren demonstrierten, sagte er: »Es wird ja so getan, als ob der Senat die Kinder ins Konzentrationslager schicken wollte« – einer der wenigen Sätze, für die er sich entschuldigen musste. Seine jüngste Äußerung, sein persönlicher Min­destlohn liege bei fünf Euro, gehört auch zu jenen Sätzen. SPD-Linke wie Swen Schulz forderten seinen Rücktritt, und der SPD-Landesvorsitzende Michael Müller drohte auf dem Berliner Landesparteitag Ende Juni: »Wir akzeptieren nicht mehr, wenn Grundsatzpositionen der SPD über den Hau­fen geworfen werden und öffentlich dargelegt wird, dass man mit einem Knäckebrot und ein paar Tomaten überleben kann.« Aber die SPD wird das natürlich weiterhin akzeptieren. Derweil wird Sarrazin immer beliebter. Denn im Gegensatz zur halbherzigen Entrüstung der Parteigenossen wirken seine Ausfälle geradezu authentisch. Vom »innengeleiteten Men­­schen«, wie sich Sarrazin selbst bezeichnet, ist es zum Populisten übrigens gar nicht weit. Jedenfalls solange die geäußerten Ressentiments mit denen der Mehrheit übereinstimmen. Denn Jogginghosen hin oder her: Die Hugenotten sind noch immer in der Überzahl. Leider.