Zum Tod der jüdischen Schriftstellerin Lenka Reinerová

Manchmal auch anderswo

Sie war Kommunistin, aber keine Marx-Kennerin. Sie liebte ihre Stadt Prag, wurde aber nicht immer wiedergeliebt. Zum Tod der jüdischen Schriftstellerin Lenka Reinerová.

Nun hat der Tod sie also doch geholt. Oft sah es so aus, als könne sie ihm immer wieder entwischen, denn die Schriftstellerin Lenka Reinerová, eine in Prag geborene deutsch­sprechende Jüdin, überlebte den Holocaust, die Risiken und Strapazen von Flucht und Exil, Gefangenschaft in Frankreich, Isolationshaft in der Tschechoslowakei und eine schwere Krebserkrankung.
Sie galt als letzte Vertreterin einer untergegangenen Epoche, in der Prag noch eine kosmopolitische, tschechische, jüdische und auch deutschsprachige Stadt und in der Kommunismus vielen Intellektuellen Lebensziel und -inhalt war. Auch Lenka Reinerová, die ihre ersten Artikel bei Franz Carl Weiskopf ablieferte, der sich 1933 mit seiner Arbeiter-Illustrierten-Zeitung aus Berlin nach Prag zurückgezogen hatte, war schon als junge Frau vom Kommunismus überzeugt, wenn sie auch – was sie selbst bekannte – keine profunde Kennerin des Marxismus war. »Wir reagierten spontan auf die Ereignisse des Tages«, erzählt sie freimütig im Rückblick auf ihre Jugend in dem Bändchen »Die Premiere«. »Die Theorie wurde in jenen Jahren – oder mag sein in jenen unseren Jahren – von der allgegenwärtigen, unerbittlich dringlichen Praxis beträchtlich in den Hintergrund gedrängt.«
Lenka Reinerová entstammte einer zwar bürgerlichen, aber verarmten jüdischen Familie. Ihre Mutter, wie sie auch erzählte, wusste oft nicht aus und ein. Lenka blieb eine höhere Schul­bildung versagt, mit 16 musste sie das Familien­einkommen als Stenotypistin aufbessern. Später ging sie Weiskopf als Sekretärin zur Hand, lernte die Crème de la Crème der deutschen kommunistischen Exilliteratur kennen und bewegte sich bald in – später von ihr nostalgisch verklärten – Gesprächs- und Caférunden, an denen andere Kommunisten wie Louis Fürnberg oder Egon Erwin Kisch teilnahmen.
Aber mit dem Prager Kaffeehausleben war es vorbei, als deutsche Truppen 1938 Teile der Tschechoslowakei besetzten. Die Prager Intellektuellenszene, darunter diejenigen, die sich zuvor aus Deutschland hierhergeflüchtet hatten, zerstreute sich in alle Winde. Lenka Reinerová floh nach Frankreich und wurde, als Kommunistin, nach dem so genannten Hitler-Stalin-Pakt im Spätsommer 1939 verhaftet. Aus dem Gefängnis in Paris brachte man sie ins Internierungslager Rieucros in Südfrankreich. In den Tagen allgemei­ner Verwirrung, nachdem die Deutschen die Demarkationslinie überschritten hatten, gelang auch ihr die Flucht. Allerdings wurde sie in Casa­blanca als illegale Ausländerin erneut verhaftet und ins Wüstenlager Oued-Zem gesteckt.
Die Rettung in Form von Geld, Schiffsbillett und Visum kam aus Mexiko, wo sich der Gewerk­schaftsführer und Präsidentenberater Vicente Lombardo Toledano dafür einsetzte, dass Mexiko organisierten Kommunisten als Exilland offen stand. Und so kamen sie: Egon Erwin Kisch, Anna Seghers, um die Berühmtesten zu nennen, und viele andere. Auch Otto Katz, der unter seinem Alias-Namen André Simone auftrat und alles tat, um die nach Mexiko geflüchteten Juden an die Kommunistische Partei heranzuführen. »Zionismus«, »Kosmopolitismus« – so lauteten dann auch einige der Vorwürfe, mit denen Katz 1952 im so genannten Slánsky-Prozess in Prag konfrontiert wurde. Wie die meisten seiner Mit­angeklagten wurde er zum Tode verurteilt und noch im selben Jahr gehängt.
Dass sich da einiges zusammengebraut hatte, 1949 in Ungarn, seit 1950 in der Tschechoslowakei – das bekam Lenka Reinerová nur am Rande mit. Aus dem mexikanischen Exil nach Europa zurückgekehrt, hatte sie mit ihrem jugoslawischen Ehemann Theo Balk (eigentlich Fjodor Dragutin) für einige Jahre in Belgrad gelebt, der Hauptstadt des von der Sowjetunion abtrünnigen Jugoslawien. Auch das fiel erschwerend ins Gewicht. Und: Sie war Jüdin, hatte lange im westlichen Ausland gelebt und verfügte über zahlreiche Kontakte, die den Machthabern missfielen.
Zuerst verlor Lenka Reinerová – wie viele andere – nur die Arbeit: »Im ganzen Land war die Epoche ›von oben‹ angeordneter, unanfechtbarer Kündigungen im Gang.« Das schrieb sie in ihrem Buch »Alle Farben der Sonne und der Nacht«, in dem sie Jahrzehnte später aufgearbeitet hat, was dann mit ihr geschehen ist: »Wer davon betroffen wurde, war fatal gekennzeichnet: Vertrauensverlust, verdächtig. Man erfuhr auch von Verhaftungen, konnte nichts begreifen, nicht einmal die Gefahr, in der man sich befand. Unser Telefon zu Hause klingelte mit einem Mal nur ganz selten, fast alle Bekannten, denen ich zufällig auf der Straße begegnete, waren in großer Eile.«
Auch Lenka Reinerová wurde verhaftet und verbrachte 15 Monate in Haft, ohne auch nur zu ahnen, was man ihr vorwarf. Eines Tages kamen zwei Sicherheitsbeamte in ihre Zelle, ver­banden ihr die Augen und fuhren mit ihr aus der Stadt. Sie rechnete damit, nun erschossen zu werden, aber nein: »›Wir gehen jetzt ein biss­chen.‹ Die beiden Männer nahmen mich in ihre Mitte. Der eine war älter, der andere noch ganz jung. Sie führten mich schweigend über einen Wiesenpfad oder Feldweg. Warum gerade hier? Weit und breit gab es kein Lebewesen. Wo waren wir überhaupt? Ich blickte starr vor mich hin. Auf den Weg und die wippenden Pappeln. ›Stalin ist tot‹, sagte mit einem Mal der Ältere.« Die Männer drückten ihr ein Paar Socken und einige Geldscheine in die Hand, machten auf dem Absatz kehrt und ließen sie einfach auf dem Feldweg zurück.
Damit war aber noch längst nicht alles überstanden; es folgten die Verbannung in die Provinz und Publikationsverbot, bis Lenka Reinerová 1964 rehabilitiert wurde. Vier Jahre nur dauerte ihre publizistische Karriere, denn mit dem Ende des Prager Frühlings von 1968 wurde sie aus der KP ausgeschlossen und erhielt erneut Publikationsverbot.
In Zeiten, in denen sie nicht veröffentlichen durfte, schlug sie sich als Dolmetscherin und Übersetzerin durch, geschrieben hat sie dennoch immer, doch erst im Alter wurde sie eine bekannte Schriftstellerin. Ihre Erzählungen »Das Traumcafé einer Pragerin«, »Es begann in der Me­lantrichgasse« oder »Zu Hause in Prag – manchmal auch anderswo« sind autobiografisch und behandeln ihr eigenes Schicksal und das ihrer Familienangehörigen, die in Theresienstadt ermordet wurden. Und immer geht es um die Tschechoslowakei bzw. um Tschechien und um ihre Herkunftsstadt Prag. Dort, in ihrer Wohnung, ist Lenka Reinerová, im Alter von 92 Jahren gestorben.
Damit ist eine Epoche endgültig zu Ende gegangen, werden viele sagen und Recht haben: »Jetzt werden wir sie verändern, diese lausige Welt, sang es in mir, und ich werde dabei sein, werde dazugehören und mitmachen.« Dieses Grundgefühl aus ihrer Jugendzeit, das sie noch lange im Erwachsenenleben begleitete, hat sie in »Die Premiere« beschrieben; heutzutage gehört es wohl wirklich einem anderen Zeitalter an. Und Lenka Reinerová fühlte sich ihren Lesern immer verpflichtet, sie ließ es sich auch als sehr alte Frau nicht nehmen, denjenigen persönlich zu antworten, die sich mit Fragen zu ihrem Werk oder ihrer Person an sie wandten. Dass sie dabei eine alte Schreibmaschine und keinen Computer benutzte, war ihr persönlicher Stil. Ihre Lesungen waren meist bis auf den letzten Platz besetzt und immer ein Erlebnis.
2002 wurde sie Ehrenbürgerin der Stadt Prag, die heute viel Geld verdient mit den – einst verfemten – literarischen Töchtern und Söhnen der Stadt. Dass Menschen aus aller Welt anreisen, um das Geburts- und Wohnhaus von Franz Kafka zu sehen, geht auf die Anstrengungen des Germanisten Eduard Goldstücker zurück, der in einem Folgeprozess des Slánsky-Prozesses 1953 zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden war, die realsozialistischen Staaten aber dennoch zu provozieren wagte, als er 1963 die berühmt gewordene Kafka-Konferenz einberief. Das Geburtshaus von Egon Erwin Kisch zieht die Massen an; er selbst trägt zum literarischen Ruhm der Stadt bei – wie auch Lenka Reinerová, der der Stoff, wenn sie noch lebte, noch lange nicht ausginge.