Die nicht-muslimischen Minderheiten und der Säkularismus

Nicht-muslimische Minderheiten zwischen den Stühlen

Für die nicht-muslimischen Minderheiten in der Türkei bietet der Konflikt zwischen der AKP und dem kemalistischen Establish­ment kaum positive Perspektiven. Allerdings liegt die Verteidigung des Säkularismus in ihrem eigenen Interesse.

Die gegenwärtigen Kämpfe in der Türkei
Derzeit untersuchen türkische Staatsanwälte einen Staatsstreich, den die höchsten Offiziere der Armee in den Jahren 2003 und 2004 geplant haben sollen in der Absicht, die von Premierminister Tayyip Erdogan und seiner Partei für Ge­rechtigkeit und Fortschritt (AKP) geführte Regierung zu stürzen. Viele Beobachter sehen diese Anklage in Zusammenhang mit den fortwährenden Kämpfen zwischen dem säkularen Establishment und der AKP, deren Verbot vom Generalstaatsanwalt beantragt wurde, weil sie die säkularen Prinzipien der türkischen Republik verletze. Der Vorwurf des versuchten Staatsstreichs sei die Rache der AKP für den Verbotsantrag.
In der Auseinandersetzung zwischen der AKP und dem kemalistischen Establishment geht es um die Frage, ob die Türkei weiterhin dem Weg nach Westen folgt, der ihr vom Staatsgründer Atatürk vorgezeichnet wurde, oder ob sie sich in eine »gemäßigte islamische Republik« verwandelt und der gesamten islamischen Welt zum Vor­bild dient. Für die säkular gesonnenen Kemalisten entspricht ein solches Modell der Politik, die die USA in dieser Weltregion betreiben, aber ganz und gar nicht den Gründungsprinzipien der türkischen Republik.

Ist Erdogans AKP eine islamistische Partei?
Ihre Anhänger in den Medien und viele liberale oder linke Intellektuelle sehen in der AKP eine bürgerliche, tolerante, progressive und demokratische Partei, während die stärkste Oppositionskraft, die Republikanische Volkspartei (CHP), die kemalistische Militär- und Staatskaste repräsentiere und immer noch einer Ideologie anhänge, deren Zeit längst abgelaufen sei. Diese Kommentatoren halten die Furcht, Erdogan beabsich­tige insgeheim die Einführung der Sharia in der Türkei, schlichtweg für lächerlich. Es sei lediglich eine Frage der persönlichen Freiheit, ob türkische Studentinnen ein Kopftuch tragen dürfen oder nicht. Für die Kemalisten hingegen wäre der Anblick von Kopftüchern in türkischen Universitäten ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Islamisierung des Staates. Die Islamisten selbst wiederum halten diese Auffassung für übertrieben.

Hat die Furcht der Kemalisten einen realen Grund?
Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Eines ist aber gewiss: Erdogan und seine Partei denken nicht daran, in der Türkei die Sharia einzuführen, wie sie in der Islamischen Republik Iran prak­tiziert wird. Allerdings haben sie ein gestörtes Verhältnis zum Säkularismus, sie wollen, dass der Islam im alltäglichen Leben eine größere Rolle spielt (und tatsächlich tut er das schon heu­te), dass Frauen, selbst wenn sie im Staatsdienst arbeiten, ein Kopftuch tragen können und dass die Werte der Gesellschaft sich an den islamischen Lehren orientieren. Sie streben eine Gesell­schaft an, die Atatürks Trennung von Staat und Religion rückgängig macht und der Auffassung widerspricht, die Religion sei Privatsache jedes Einzelnen.

Die AKP und die religiösen Minderheiten
Obwohl die Haltung der türkischen Gesellschaft zum politischen Machtkampf zwischen Kemalisten und Islamisten oft untersucht worden ist, weiß man bisher doch sehr wenig über Meinungen und Wahlverhalten der nicht-muslimischen Bürger. Das mag daran liegen, dass die religiösen Minderheiten (17 000 Juden, 10 000 assyrische Christen, 2 000 bis 3 000 Griechisch-Orthodoxe und 60 000 Armenier) in einer Population von 70 Millionen nicht sonderlich ins Gewicht fallen. Traditionell waren sie an rechtsliberale Parteien wie die Demokratische Partei (DP) gebunden, die 1945 von ehemaligen Mitgliedern der CHP gegründet wurde. Als der Militärputsch vom 27. Mai 1960 die DP entmachtete, hielten sie sich an ­deren Nachfolgeparteien, zunächst an die Gerech­tigkeitspartei (AP), und als diese nach dem nächs­ten Putsch am 12. September 1980 verboten wurde, an die Mutterlandspartei (Anap) und später an die Partei des Rechten Weges (DYP), eine Abspaltung der Anap. Nur sehr wenige Nichtmus­lime haben jemals für die CHP gestimmt, denn die meisten erinnern sich noch an die finstere Zeit der Unterdrückung von 1923 bis 1945, als die CHP im alleinigen Besitz der Macht war.
Die Minderheiten haben schon deshalb keine islamischen Parteien gewählt, weil die islamische Bewegung in der Türkei, Milli Görüs, die 1970 die Nationale Ordnungspartei und später die Nationale Heilspartei (MSP), die Wohlfahrtspartei (RP), die Tugendpartei (FP) und die Glückspartei (SP) gründete, den Minderheiten nie irgendwelche Sympathien entgegenbrachte und sich im Gegen­teil einer antisemitischen, antiwestlichen und antichristlichen Rhetorik bediente. Obwohl die AKP denselben Ursprüngen entstammt wie Milli Görüs, hat sie sich inzwischen vom Antisemitismus und von antiwestlichen Ressentiments abgewandt und betreibt nun die türkische Mitglied­schaft in der EU. Sie will sogar das nationale Stiftungsrecht reformieren, das die Organisationen der Minderheiten daran hindert, Grundstücke und Häuser zu erwerben. Da die CHP eine konser­vativere Haltung in diesen beiden Fragen einnahm und die AKP kritisierte, weil sie den Säkularismus zu unterminieren suche, konnten viele liberale oder linke Intellektuelle die AKP als »progressive und tolerante« Kraft empfinden, während die CHP ihnen als die »alte kemalistische Garde« gilt, die sich gegen die EU und gegen die Minoritäten wendet. Aber diese Einschätzung ist nicht ganz richtig.

Wen wählten die Minderheiten?
Glaubt man den einschlägigen Berichten der türkischen Presse, dann haben die Armenier vor allem die AKP gewählt. Was die Juden betrifft, so sind die Berichte über ihr Wahlverhalten widersprüchlich. Sie hätten für die AKP gestimmt, hieß es; andererseits wurde ihnen aber auch unterstellt, sie teilten die kemalistische Furcht vor der Zerstörung der säkularen Republik und hätten deshalb der CHP ihre Stimmen gegeben. Die Einschätzung des Wahlverhaltens der Armenier beruhte allerdings ausschließlich auf den Aussagen zweier Journalisten: Etyen Mahcupyan ist der Chefredakteur der türkisch-armenischen Zeitung Agos und Markar Seayan ein Kolumnist desselben Blattes. Gegründet wurde es von dem armenischen Journalisten Hrant Dink, der am 19. Januar 2007 ermordet wurde. Mahcupyan und Seayan sind für ihre Gegnerschaft zum Es­tablishment und insbesondere zur CHP bekannt. Sie halten die Stellung der Armee im türkischen Staat für unvereinbar mit demokratischen Prinzipien und bewerten das »Kopftuchproblem« als eine Frage der individuellen Freiheit und nicht als ein Indiz für die islamische Gefahr. Ihre Aussagen über das armenische Wahlverhalten erweckten den Eindruck, als basierten sie auf sorgfältigen Erhebungen. Eine Umfrage unter 500 Armeniern in Istanbul, die kurz nach den Wahlen im Juli 2007 durchgeführt wurde, ergab allerdings, dass 35,6 Prozent für die CHP und nur 5,7 Prozent für die AKP votiert hatten.
Wen die Juden in Istanbul gewählt haben, lässt sich nicht sagen. Einige mögen für die CHP gestimmt haben, weil sie den Antisemitismus der islamischen Bewegung fürchten, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass auch ein paar Stimmen aus der wohlhabenden Schicht der Istanbuler Juden der AKP zugute kamen, weil sie sich an der EU orientiert und privates Unternehmertum fördert.

Auf welche Seite sollen sich die religiösen Minder­heiten schlagen?
Aus demographischen Gründen stellen nicht-muslimische Wähler in der Türkei eine Größe dar, die niemand zu berücksichtigen braucht. Ihre Probleme kommen in den Wahlprogrammen der politischen Parteien nicht vor. Ob sie mit den Kemalisten, den Islamisten oder den Kommunisten sympathisieren, ist allenfalls an der dritten Ziffer hinterm Komma ablesbar. Trotzdem entspricht eine säkulare Ideologie ihren Interessen eher als eine islamische, auch wenn der Kemalismus die Geschichte der Unterdrückung religiöser Minderheiten während der Gründungs­jahre der Republik immer noch aufzuarbeiten hat. Denn im Prinzip treten die Kemalisten für eine Gesellschaft ein, in der Muslime und Nichtmuslime gleichberechtigte Bürger sind. Für die Islamisten sind hingegen alle Nichtmuslime bloß Ungläubige, die nicht dieselben Rechte haben können wie die Muslime, die »wahren Besitzer« des Landes.

Der in Istanbul lebende türkisch-jüdische Historiker und Publizist Rifat N. Bali forscht und publiziert seit 1996 über nicht-muslimische Minderheiten in der Türkei, Antisemitismus, Verschwörungstheorien und die sozialen und kulturellen Entwicklungen in der türkischen Gesellschaft.