Arbeitsunfälle in Deutschland

Arbeit tut weh

Zwar sinkt das Unfallrisiko und die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle geht zurück – aber immer noch verletzt sich fast eine Million Beschäftigte jährlich, Zehntausende macht die Arbeit krank. Die Gewerkschaften fordern strengere Kontrollen. Denn immer noch gibt es Unternehmen, die sich weigern, ihre Angestellten zu schützen.

Haarspraylunge, Mausarm, ein Sturz vom ungesicherten Gerüst – Gefahren gibt es für Beschäftigte in allen Branchen, selbst am musterhaften »Standort Deutschland«. 959 714 Arbeitsunfälle zählte der Verband »Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V.« (DGUV) für 2007 in Gewerbe und öffentlichem Dienst. 619 Menschen starben auf dem Weg zu, während oder in Folge ihrer Arbeit. Die absolute Anzahl der Unfälle stieg – dank des wirtschaftlichen Aufschwungs, denn einer größeren Zahl von Beschäftigten kann auch mehr passieren. Dafür sank das Unfallrisiko dank der besseren Prävention, gibt die DGUV an. Am höchs­ten waren die Unfallquoten in den Branchen Bau, Holz sowie Nahrungs- und Genussmittel.

Doch auch die Arbeit im Friseursalon oder am Schreibtisch ist ungesund: Chemikalien verkleben die Lunge, vor dem Bildschirm wird der Rücken krumm, die Sehkraft schwindet, die Gelenke wer­den steif. »Dies kann nicht verwundern«, heißt es in einer Broschüre der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft, »da der Mensch bei der Bürotätigkeit weitgehend zur Bewegungsarmut verurteilt ist«. Dagegen könne man schon etwas tun: sich genug Platz, Licht, Luft und Bewegung verschaffen zum Beispiel. Der Betrieb könne Sport anbieten, den Mitarbeitern sagen, wie sie richtig sitzen, tippen und die Maus bewegen, um von der monotonen Arbeit keine langfristigen Schäden davonzutragen, rät die Berufsgenossenschaft. Die Wirklichkeit sieht allerdings ganz anders aus, ständig besteht Leistungsdruck, Schulungen fehlen, und manchmal werden sogar die Maschinen manipuliert, um die Produktivität zu erhöhen.
Die Bilanz kleiner und mittlerer Unternehmen ist besonders schlecht, wenn es um die Arbeitssicherheit geht: In der EU ereignen sich 82 Prozent der Arbeitsunfälle und sogar 90 Prozent der tödlichen Unfälle in mittleren und kleinen Betrieben. »In großen Unternehmen gibt es weniger Probleme mit dem Gesundheitsschutz«, sagt Marina Schröder, die Referatsleiterin Arbeits- und Gesundheitsschutz beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), »sie haben in der Regel Arbeits­schutzabteilungen und halten sich eher an die Gesetze«. Unfälle wirken sich auch auf die Stimmung der Beschäftigten aus. »Die Mitarbeiter werden ängstlich«, sagt Schröder.
Ist die Unfallquote in einem Unternehmen höher als im Branchendurchschnitt, steigt auch der Beitrag für die Unfallversicherung. »Die Gewerbeaufsicht und der Präventionsdienst können außerdem Bußgelder verhängen und Betriebe stilllegen«, führt Stefan Boltz von der DGUV aus. Gesetzlich vorgeschrieben sind die so genannte Gefährdungsbeurteilung und das betriebliche Ein­gliederungsmanagement. Das heißt, Unternehmen müssen wissen, welche Stellen wie gefährlich sind, müssen die Gefahren beseitigen und die Mitarbeiter warnen. Außerdem müssen sie wissen, wie sie verunglückten Beschäftigten nach der Gesundung die Rückkehr an die Arbeit ermöglichen. Nach Angaben von Verdi findet die Gefährdungsbeurteilung allerdings gerade einmal in sieben Prozent der deutschen Firmen statt. Sehr abschreckend scheinen die möglichen Kontrollen also nicht zu sein.

Deshalb fordert Marina Schröder vom DGB häufi­gere Kontrollen und härtere Strafen für Unternehmer, die die Sicherheitsvorschriften nicht ein­halten. »In England zum Beispiel werden Arbeitsunfälle vor Gericht behandelt«, sagt sie, »da kann es dann auch zu Gefängnisstrafen für Arbeitgeber kommen, wenn die geforderte Gefährdungsbeurteilung nicht erstellt wurde. In Deutsch­land ist das nicht möglich.« Vernachlässigt ein Betrieb seine Pflicht, wird das hierzulande bestenfalls als Ordnungswidrigkeit geahndet.
Dass das Unfallrisiko sinkt, liegt vor allem daran, dass immer weniger Menschen riskante Tätigkeiten übernehmen müssen. »Gefährliche Arbeiten werden automatisiert oder ins Ausland verlagert«, sagt Stefan Boltz von der DGUV. Marina Schröder stellt fest: »Dass die Unfallzahlen in einigen Branchen sinken, liegt aber auch am guten Arbeitsschutz.« Dafür steigt die Summe der Vorfälle zum Beispiel bei der Leih- und Zeitarbeit. Ge­rade dort wächst die Zahl der Beschäftigten, ihre Arbeitsplätze sind oft unsicher, sie müssen in im­mer kürzerer Zeit immer mehr leisten. Oft kommen Menschen nur mit mehreren Jobs über die Runden. Das alles verursacht Stress. Mehr als ein Viertel der Beschäftigten in der EU ist arbeitsbedingtem Stress ausgesetzt, gibt die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) an. Sie rechnet damit, dass diese Zahl in Zukunft weiter steigen wird. Und größerer Stress erhöht auch das Unfallrisiko.

Wenn der Zeit- und Leistungsdruck zu groß wird, müssen die Beschäftigten schon mal selbst nach­helfen, um die Vorgaben zu erfüllen. Das Institut für Arbeitsschutz der DGUV fand in einer Studie 2006 heraus, dass beinahe 37 Prozent der Maschi­nen im metallverarbeitenden Gewerbe vorübergehend oder dauerhaft manipuliert worden waren. Vor allem an den Sicherheitsvorrichtungen wird geschraubt – denn sie verlangsamen die Produktion. Jeder vierte Arbeitsunfall ist nach An­gaben der Befragten auf eine Manipulation zurückzuführen – fast 160 000 Unfälle gab es in der Metallindustrie im vergangenen Jahr insgesamt. Im Geheimen geschieht das nicht: In fast 60 Prozent der untersuchten Fälle duldete der Betrieb den Pfusch, in 14 Prozent erwartete er ihn sogar von den an den Maschinen Beschäftigten. Als Grund für die Manipulationen gaben die Befragten am häufigsten den Zeitgewinn an, der durch das schnellere Arbeiten erzielt werde. Die Herstel­ler machen es einem aber auch einfach, sie liefern entsprechende Codes oder Schlüssel mit. Man könne auch den Wartungs- und Installations­dienst fragen, er gebe gerne Tipps weiter, sagten die Studienteilnehmer.

Alle dreieinhalb Minuten stirbt in der EU ein Mensch an Ursachen, die auf seine Arbeit zurück­zuführen sind. In Deutschland wurden im vergangenen Jahr 24 000 Menschen wegen ihrer Arbeit krank. Gut 2 300 starben infolge einer Berufskrankheit. Aber nur gesunde Arbeiter sind produktiv, das hat nun auch die Große Koali­tion erkannt. Dem im Juni verabschiedeten Gesetz zur Unfallversicherung zufolge soll diese »neu ausgerichtet und modernisiert« werden. Mit einer für die Betriebe geltenden »Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie« soll vor allem die Prävention weiter verbessert werden. Genaueres ist allerdings noch nicht geplant.
Wäre es doch immer so einfach wie mit ausländischen Wanderarbeitern! Sie schuften illegal in Landwirtschaft und Gartenbau, im Gesundheitswesen, auf dem Bau und als Haushaltshilfen für wenig Geld. Wegen mangelnder Sprachkenntnisse wissen sie oft nicht, welcher Gesundheitsschutz ihnen zusteht. Und was ihnen nach einem Unfall droht, sagt Marina Schröder vom DGB: »Es soll Fälle geben, in denen illegal beschäftigte Ausländer nach einem Arbeitsunfall einfach nach Hause geschickt wurden.«