Der Machtkampf im türkischen Establishment und internationale Verwicklungen

Das große Rätselraten

Während der Kampf zwischen dem kemalistischen und dem islamischen Establishment eskaliert, bringen die Attacke auf die US-Botschaft und die Entführung dreier Deutscher durch eine PKK-Gruppe die USA und Deutschland ins Spiel.

Das »Rätsel in einem Mysterium in Dunkel gehüllt«, das Churchill im stalinistischen Russland gesehen hatte, machte ein türkischer Kolumnist kürzlich in den Verhältnissen in der Türkei aus. Er meinte damit den Machtkampf zwischen dem alteingesessenen kemalistischen Establishment und dem aufstrebenden islamischen Establishment, eine seit den siebziger Jahren stärker werdende »wirtschaftlich erfolgreiche anatolische Bourgeoisie und eine neue Mittelklasse, die heute von Recep Tayyip Erdogans AKP vertreten wird«, wie die linke türkische Schriftstellerin Oya Bay­dar sagt. Parallel zu diesem Aufstieg des »grünen Kapitals« aus der teils noch feudal geprägten anatolischen Provinz mitsamt seiner politischen Repräsentation und dem islamischen Brimborium suchen viele, so Oya Baydar, ihr Heil »in einer traditionellen, konventionellen und konservativen Lebensweise« – ein weiteres deutliches Indiz für die Schwäche der emanzipatorischen Kräfte in der Türkei.
Dieser Machtkampf sei ein wahrer Krieg, der keinen Friedensschluss kenne, noch nicht einmal einen Waffenstillstand, bemerkte ein anderer tür­kischer Kommentator. Sicher ist: Der Machtkampf wird mit harten Bandagen ausgetragen, und offene Fragen gibt es viele. Das ist kein Wunder, geht es dabei doch auch um den so genannten tiefen Staat, also die Teile der Staats, die sich heroisch dem widmen, was sie unter der Verteidigung der Republik gegen Gefahren aller Art verstehen, mit verdeckten Aktionen, Provokationen, Morden. Dabei wurde bereits nach dem Putsch von 1980 unter Turgut Özal mit einer Re-Islamisierungspolitik experimentiert.
Es ist auch ein Machtkampf, der sich durch sämt­liche Institutionen der türkischen Republik zieht; von denen das islamische Establishment mitt­ler­weile die Regierungsposten und, nach längerem Widerstand des Militärs, auch den Präsidentenposten innehat. Die Justiz prüft derzeit, ob die Regierungspartei AKP für einige Jahre »geschlossen« wird. Diese bereitet sich darauf vor, eine neue Partei zu gründen, rund zwei Wochen wären wohl dafür nötig. Andererseits wurden Ex-Generäle, Journalisten, und viele andere unter dem Verdacht verhaftet, einer terroristischen Organisation namens »Ergenekon« anzugehören, die die AKP-Regierung stürzen wolle. Am Dienstag dieser Woche wurde die Anklage gegen 86 Personen in der Ergenekon-Affäre verlesen, über die ein Gericht innerhalb von drei Wochen entscheiden soll. Eine Institution allerdings steht noch ein wenig außen vor: das Parlament. Der Antrag des Abgeordneten Uruf Ufas von der linken ÖDP, das Parlament solle untersuchen, ob die Anschul­digungen im Rahmen der »Ergenekon«-Ermittlungen, eine Gruppe plane einen Putsch gegen die Regierung, wahr seien, findet abgesehen von den Abgeordneten der ebenfalls vom Verbot bedrohten kurdischen Partei DTP kaum Unterstützung. Ob ein solcher parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingerichtet wird, steht in den Sternen. Aber es geht ja auch nur um angebliche Putschversuche.
Bis in die vorige Woche rätselten die türkischen Journalisten an diesem ins Dunkel gehüllten Mys­terium herum. Dann kamen zwei Schläge hinzu, die das Dunkel noch ein wenig schwärzten, indem sie es internationalisierten. Die US-amerikanische Botschaft in Istanbul wurde attackiert, es handelt sich wohl um Jihadisten aus dem Reservoir der ehemaligen »Türkischen Hizbollah«, die dem Franchise-Unternehmen »al-Qaida in der Türkei« nahe stehen. Jedenfalls wurden auf diese Weise US-amerikanische Kräfte ins Spiel gebracht, die nun fleißig ermitteln.
Dann entführte ein Teil der kurdischen Guerilla­truppe PKK drei Deutsche, die erst frei gelassen wer­den sollen, wie es zunächst hieß, wenn der deutsche Staat »seine gegen das kurdische Volk und die PKK gerichtete feindliche Politik aufgibt«, even­tuell eine Anspielung auf das kürzlich von deutschen Behörden verhängte Verbot des Roj-TV-Sen­ders. Nach Angaben des »Heute-Journals«, der Nachrichtensendung im ZDF, distanzierte sich die PKK-Spitze von der Entführung und machte eine »Eigeninitiative der Provinzkommandantur« verantwortlich. Das klingt nach einer gut abgestimm­ten Aktion. Jedenfalls bringt sie Deutschland ins Spiel, das nun mit den diversen Kräften in Verbin­dung zu treten sucht: der PKK, dem Militär, der Regierung. Bundeskanzlerin Angela Merkel traf am Sonntag am Rande des Mittelmeergipfels in Paris den türkischen Premier Erdogan, um das weitere Vorgehen zu beraten, die türkische Nachrichtenagentur Anadolu berichtet von einer sechs­köpfigen Delegation, die Gespräche mit dem Provinzgouverneur und lokalen Militärs führt.
Potenziell ermöglichen beide Aktionen wenn schon keinen Friedensschluss oder Waffenstillstand, so doch zumindest eine Feuerpause zwischen den beiden verfeindeten Flügeln des türkischen Establishments: auf nationalistischer Grundlage unter der Flagge des Antiterrorismus. Denn weder die USA noch Deutschland haben ein Interesse an einer weiteren Eskalation des Machtkampfs beim Nato-Partner.