Jugendgewalt in Großbritannien

Die neue Messer-Mode

In Großbritannien sind in diesem Jahr bereits 35 Jugendliche auf offener Straße ermordet worden. Die Labour-Regierung steht den Verbrechen ratlos gegenüber, die Opposition setzt auf Law and Order.

Nach dem Mord an dem 16jährigen Shakilus Town­send Anfang Juli hat die Londoner Polizei die Jugendgewalt zum vorrangigsten Problem erklärt. Diese bemerkenswerte neue Prioritätensetzung – fast auf den Tag genau drei Jahre nach den islamis­tischen Terroranschlägen vom 7. Juli 2005 – ist der Tatsache geschuldet, dass eine Serie von Gewaltverbrechen unter britischen Teenagern das Land erschüttert. 35 Teenager sind in diesem Jahr bereits in Großbritannien umgebracht worden, allein in London starben 20. Der letzte Jugendliche starb am Donnerstag nach einem Messerangriff.
Townsends zwei Mörder hatten ihn im Londoner Stadtteil Thornton Heath am helllichten Tag mit Baseballschlägern und Messern angegriffen. Eingreifende Passanten konnten die Täter zwar verjagen, doch die Hilfe kam zu spät. Hintergrund der Attacke ist vermutlich eine Eifersuchtsgeschichte. Die Polizei gab an, dass Townsend mit der Freundin eines Gangmitgliedes ausgegangen war und wahrscheinlich Opfer einer Racheaktion anderer Gangmitglieder wurde. Oft sind die Motive für die Morde unter Teen­agern ähnlich banal. Der 16jährige Ben Kin­sella wurde vier Tage vor dem Mord an Townsend nach einem Streit in einem Pub in London-Islington erstochen.
Streit in einer Kneipe oder Eifersucht sind ­alltägliche Erscheinungen des Teenagerlebens. Doch viele Jugendliche in Großbritannien tragen heutzutage Waffen bei sich. Neben den schwerer erhältlichen Schusswaffen sind es vor allem Messer, die dazu führen, dass aus kleinen Unstim­migkeiten oft ein Kampf auf Leben und Tod wird.

Messer seien zu tödlichen Modeaccessoires geworden, erklärte Cherie Booth, die Ehefrau des ehemaligen Premierministers Tony Blair, in einer Reaktion auf die jüngsten Gewalttaten. Als Vorsitzende eines vom Fernsehsender Channel 4 initiierten Arbeitskreises zum Thema Jugend­be­waff­nung forderte sie nach den Ereignissen der vergangenen Wochen mehr Kontrollen und »sicht­bare Polizei«.
Viele Jugendliche weisen die These vom Modetrend allerdings zurück und reklamieren Selbstverteidigung für sich. Zweifellos lösen die immer neuen Geschichten von Messerstechereien einen Teufelskreis aus: Um sich gegen Angriffe von anderen zu schützen, greifen immer mehr Jugendliche selber zur Waffe. Ob Mode oder Selbstschutz, zweifellos gibt es derzeit in Großbritannien ein Problem. Unklar ist allerdings, wie dem Problem begegnet werden soll.
Nach Kinsellas Tod demonstrierten in London mehrere hundert Menschen, darunter viele seiner Freunde und Bekannten, und forderten andere Jugendliche auf, keine Messer zu tragen. Die Schwes­ter des Opfers, Brookes Kinsella, eine semiprominente britische Fernsehschauspielerin, startete eine Kampagne im Internet. Dort heißt es, Teenager sollten über die Folgen ihres Handelns und das Leid, das sie auslösen, nachdenken. Doch ob solche Kampagnen helfen oder ein Ausdruck von Hilflosigkeit sind, bleibt offen.
Auch die Polizei scheint machtlos zu sein. Da der Verkauf von Kampfmessern bereits strikt regle­mentiert ist, weichen viele Teenager einfach auf Haushaltsmesser aus, die sie zu Hause in der Küche finden. Auch regelmäßige Straßenkontrollen und neue Durchsuchungsrechte, die die Regie­rung eingeführt hat (Jungle World 6/08), haben bisher nicht zu einer Verbesserung der Situation geführt. So wurden in den vergangenen Monaten insgesamt über 25 000 Menschen in London von der Polizei durchsucht und kontrolliert. In einem Land, das einmal für seine zivilen Freiheiten bekannt war, ist das höchst bemerkenswert. Im Ergebnis gab es rund 1 200 vorübergehende Festnahmen, allerdings höchstens die Hälfte davon wegen Waffenbesitzes. Lediglich gut 500 Messer wurden beschlagnahmt.
Generell sind statistische Angaben und die öffentliche Wahrnehmung derzeit nicht in Überein­stimmung zu bringen. Nach Zahlen der Polizei ist die Gewaltkriminalität in Großbritannien nämlich seit Mitte der neunziger Jahre deutlich zurückgegangen. Die Zahl der Morde, die mit einem Messer begangen wurden, blieb den Statistiken zufolge in den vergangenen Jahren konstant. Nach den Morden an Kinsella und Townsend haben britische Politiker nun die bisherigen Statistiken in Frage gestellt.

Polizeiliche Verbrechensstatistiken leiden immer unter dem Manko einer hohen Dunkelziffer, weil viele Verbrechen vor allem im eigenen Umfeld nicht gemeldet werden. Befragungen bei Ärzten und in Krankenhäusern in Glasgow zeigten, dass die Zahl der Verbrechen, die mit Messern begangen wurden, 70 Prozent höher liegen könnte als in der Polizeistatistik angegeben. Innenministerin Jacqui Smith teilte nun mit, die Regierung erwäge, Ärzte zu verpflichten, der Polizei alle Mes­serstichverletzungen zu melden. Solch eine Regelung gilt bereits für Schusswunden. Außerdem sollen zukünftig in den Erhebungen auch Ju­gend­liche unter 16 Jahren zu ihrer subjektiven Ge­walt­erfahrung befragt werden. Sie waren bisher nicht berücksichtigt worden. Genauere Statistiken allerdings lösen das Problem nicht. Trotz allgemeiner Ratlosigkeit lässt sich aus diesem Thema politisches Kapital schlagen. Messerkriminalität und Jugendgewalt standen im Mittelpunkt von Boris Johnsons konservativer Wahlkampagne in London und haben zu seinem Sieg beigetragen. Nach dem Einzug ins Amt des Bürgermeisters kündigte er sogleich den Aktionsplan »Blunt 2« an. Doch mehr als neue Kontrollen und mehr »sichtbare Polizei« wird darin nicht vorgeschlagen.
»Aktionspläne« hat es bereits unter Premierminister Blair gegeben. »Respect« hieß einer davon, und er sah ein hartes Vorgehen gegen Kriminelle vor, aber ebenso Vorschläge, Jugendlichen Perspektiven zu bieten. »Respekt« ist es anscheinend auch, was die Jugendlichen erfahren wollen, die Messer tragen. Dass sie sich den »Respekt« eher vom Tragen eines Messers erhoffen als durch die Maßnahmen der Regierung, ist wenig verwunderlich. Die Aktivitäten der britischen Politik waren seit New Labour an den Idealen von in­dividueller Verantwortung, nicht aber an sozialem Ausgleich orientiert. Individuellem Fehlverhalten wurde mit Repression begegnet, mit dem Fokus auf der Bekämpfung von so genanntem antisozialen Verhalten. Premierminister Gordon Brown und sein Jugendminister Ed Balls hatten zu Beginn der Regierungszeit zumindest angedeu­tet, andere Prioritäten setzen zu wollen. Ball hatte darauf hingewiesen, dass immer mehr Jugendliche in Großbritannien in Armut aufwachsen. Die Herstellung von größerer sozialer Sicher­heit könne möglicherweise eine Antwort auf die individualisierten Unsicherheitsgefühle sein.
Doch Brown und seine Regierung sind derzeit nicht beliebt, und mit Johnsons Wahl in London hat sich gezeigt, dass die Wähler »Law and Order«-Rhetorik honorieren. Entsprechend reagierte auch der Oppositionsvorsitzende David Cameron auf die jüngsten Morde mit dem Ruf nach mehr Repressionen. Er forderte Gefängnisstrafen für alle über 16jährigen, die ohne guten Grund ein Messer bei sich tragen. Doch bereits heute sind in Großbritannien mehr Jugendliche im Strafvollzug als in jedem anderen europäischen Land.
Derweil setzt man in Großbritannien auf Verteidigung. Der Verband der britischen Kommunalverwaltungen teilte mit, dass Sozialarbeiter, Lehrer und Mitarbeiter im Gesundheitswesen und in öffentlichen Parks zunehmend mit messersicherer Schutzbekleidung ausgestattet würden. Die Hersteller dieser Bekleidung sprechen von einem Nachfrageboom.