17.07.2008
Reise in die schwule Disko-Subkultur New Yorks zum 50. Geburtstag von Madonna

From Disco to Disco

Im kommenden Monat wird das Material Girl Madonna 50 Jahre alt. Das ist nicht nur ein Grund, um ihr schon mal vorzeitig zu gratulieren, bevor es die anderen tun, ­sondern bietet auch die Gelegenheit, einen Blick auf die Szene zu werfen, in der sie ­gelernt hat, wie man die kulturellen Praktiken einer Minderheit an eine gelangweilte Mehrheit verkauft. Frank Spilker, der Sänger der Band Die Sterne, hat eine Reise in die schwule Disco-Subkultur New Yorks unternommen.

Bevor die Skyline von New York so drastisch verwandelt wurde, hatte sich auch die Stadt selbst schon sehr verändert. Abgesehen davon, dass die von vielen als Nabel der Welt angesehene Metropole natürlich immer in Bewegung ist und somit Veränderungen unterliegt, gab es hier einen Protagonisten, der politisch daran gearbeitet hat. Die Rede ist von Rudolph Giuliani, der von 1994 bis 2001 hier Bürgermeister war. Diesem anständigen Republikaner ist es gelungen, aus der Haupt­stadt der Gewalt (wie z.B. bei Mickey Spillane, zugegeben etwas drastisch, beschrieben) oder dem Sündenpfuhl der späten Siebziger und Achtziger innerhalb weniger Jahre dieses aufgeräumte Brokerdorf zu machen, das es heute zu sein scheint. Und zwar mit der gleichen Methode, mit der weltweit alle konservativen Bürgermeister diese Dinge regeln: Gewalt. »Zero Tolerance« hieß das hier. Junkies und Penner raus aus der Stadt – oder in den Knast. Wer kein Geld hat, sowieso. Und dann mal schön die Bür­gersteige hochgeklappt. Kein Alkohol auf der Straße, keine Zigarette in geschlossenen Räumen. Punkt. Das natürliche Bedürfnis der meist älteren Wählerschichten nach Sicherheit und Ordnung schafft die Nachfrage nach dieser Art des Aufräumens.
Ähnliche Geschichten kennt man ja auch aus Zürich oder anderen Städten. (Ich muss neuerdings immer an Erich Mühsam denken. Ein deut­scher Anarchist, Anfang voriges Jahrhundert. Er beschreibt in einem seiner Texte, wie aus der blühenden Kulturmetropole Münchens innerhalb weniger Jahre ein spießiges kleines Bauerndorf wurde. Das haben »wir« also auch erfunden!)
Mit einer Rockband auf Tour bekommt man Geschichten dieser Art fast ständig zu hören. Schließlich ist man ja meistens in den ­letzten Horten der Dissidenz zu Gast. Einer dieser Orte liegt an der Bowery Ecke 4th Street, heißt »Continental« – und genau dort befinden wir uns jetzt! Unser Tourbegleiter kommt aus Kanada, hat aber Anfang der achtziger Jahre in NY gelebt. Er war damals ein Teil der Danceteria-Szene. Danceteria, der Club, war zwischen 1980 und 1986 Nabel der Disco-(Sub-)kultur und gilt u. a. als Brutstätte des Phänomens Madonna. John, so heißt der Mann, ist entsetzt da­von, wie die Stadt sich verändert hat. Er kann gar nicht mehr aufhören, über Giuliani zu schimpfen. Aus Protest wird jetzt konsequent bei Rot über die Straße gelaufen: Punkergrün. Als homosexueller Ex-Junkie, Risikogruppe AAA der Aidsseuche, ist er ein natürlicher Feind ängstlicher alter Leute. Ich weiß nicht, ob er deswegen die Stadt verlassen musste, sein Hass auf den amtierenden Bürgermeister ist jedenfalls nachvollziehbar. Es ist 1998 – und ich bin das erste Mal in New York.
Und das erste Mal in Amerika. Zusammen mit meiner Rockband: ›Die Sterne‹. Das Goethe-Institut hat uns eine dreiwöchi­ge Reise ­an­ge­boten, die wir dankbar annehmen. Wir sind auf dem Gipfel unseres bisherigen Erfolgs und begierig, die eigenen Möglichkeiten auszunutzen und zu erweitern. In Deutschland ist man der Meinung, wir wären eine der Bands, die das Land am bes­ten repräsentieren können. Oder vielmehr, etwas, das hierzulande wirklich passiert, in den Clubs und in den Charts, und nicht ein ausgedachtes oder aus staatlichem Kalkül hervorgebrachtes Kulturphänomen. Wir stellen diese Aussicht nicht großartig in Frage; froh, die eingefahrenen Gleise eine Zeit lang zu verlassen und uns auch mal in einem anderen Rahmen als gewöhnlich ausprobieren zu können. In den heißen Neunzigern bedeutete das, seine Zeit ­zwischen zwei Plattenproduktionen für überflüssige Videos und Interviews zu verschwen­den. Also andauernd mit Leuten zu reden, die eigentlich gar keine Fragen haben.
Doch auch unser Zeitplan auf der anderen Seite des Atlantiks ist eng gesteckt: Wir müssen es in weniger als dreißig Tagen von Toronto/Kanada bis nach Mexico City schaffen! In jeder Stadt sollen wir zwei Konzerte spielen, Diplomaten die Hände schütteln, Interviews geben, Diskussionen abhalten usw. Kaum Zeit für Tourismus. Schon Wochen vorher werden in Schulen und Universitäten, Kursen und Seminaren, kreuz und quer über dem amerikanischen Kontinent, Sterne-Texte gebüffelt. Ein Top-Hit in diesem Zusammenhang: »Ich bin ein ganz normaler Tag«. Wir spielen in Schulaulen und an anderen komischen Orten, zu manchmal irrealen Zeiten. Und später noch in dem jeweils örtlichen Rockschuppen – das hatten wir uns vor­her erbeten. Die Schulaulen sind dann auch gar nicht so gruselig, wie ursprünglich von uns befürchtet. Zum einen finden wir dort immer ein hungriges Publikum vor, das es kaum erwarten kann, 21 Jahre alt zu werden und endlich in die richtigen Clubs zu dürfen. Zum anderen erfahren wir viel über die Lebenswirklichkeit der Kids. Denn nach den Auftritten sitzen wir fast immer noch in irgendwelchen Gesprächsrunden. Viele beschweren sich über Langeweile. Vor allem in Städten wie Atlanta. In Washington lernen wir den Begriff »Bible Belt« kennen, weil wir ein Video produzieren, das zu Lehrzwecken auch dort Verwendung finden soll. Um den Begriff zu erklären: »Bible Belt« nennt man die südöstlichen Staaten der USA, in denen der evangelische Protestantismus dominiert und wo zumeist Baptisten leben; Kentucky, Alabama, Tennessee, Georgia, Carolina usw. Es gibt hier sehr viel weniger nichtreligiöse Menschen als im Nordwesten des Landes. Dieses Land ist ja schließlich einmal von aus Europa herausgeworfenen Häretikern und Sektierern erobert wor­den, und hier spürt man das wahrscheinlich am deutlichsten. Im »Bible Belt« ein Video für den Unterricht zu zeigen, das Zeilen wie: »Wir hatten Sex in den Trümmern und träumten« oder auch »Fickt das System« enthält, ist natürlich unmöglich. Wir fügen uns scheinbar der Zensur, so wie das alle machen in Amerika. Jeder weiß, da wo die Sternchen im Text stehen oder der Piepton in der Musik kommt, steht FUCK. Hauptsächlich aber wundern wir uns: Wir können ja noch nichts wissen von George Bush oder den Kreationisten. Zu diesem Zeitpunkt wissen wir noch nicht einmal, wo genau sich der »Bible Belt« befindet. Wir leben ja noch in der Bill-Clinton-Ära. Und über Clinton hat Madonna gerade gesagt, dass sie ihn nicht gut findet, während der ­Pöbel denkt: »The best fucking president we ever had.«

You! I want to take you to a gay bar
Wieso? Na und? Was soll daran verstörend sein. Das sind halt die Schuppen, die unser Tourbegleiter so kennt. Und irgendwo muss man ja aus­gehen. Wäre doch unhöflich, nicht mitzugehen, nur weil man sexuell vielleicht anders tickt. Neben den örtlichen Schwulenbars landen wir aber auch oft in Gruftieschuppen, in denen die Leute noch aussehen wie Frau Ciccone, anno 1983.
Nun muss ich die Reisebeschreibung kurz un­terbrechen, um auf den Punkt zu kommen. Es gibt diesen Song von ›Electric Six‹, den ich ohne diese spezielle USA-Erfahrung vermutlich kaum verstanden hätte. Es geht darin um irrationale Ängste vor dem Un­bekannten. Man sollte sich das so vorstellen: Bestimmte Worte werden so gesprochen, als wären sie in einer krakeligen Schrift geschrieben, also z. B. wie auf einem Horrorfilmplakat. Gay Bar oder Mexican Food. (Ich empfehle, unbedingt einmal das Video auf You Tube anzuschauen.) Das Lied macht sich einen Heidenspaß mit der Homophobie:

»Let’s start a war, start a nuclear war,At the gay bar, gay bar, gay bar.Wow!At the gay bar.Now tell me do ya... do ya have any money?I wanna spend all your money,At the gay bar, gay bar, gay bar.«

Und weiter:

»I’ve got something to put in you,At the gay bar, gay bar, gay bar.«

Die Angst vor dem Unbekannten scheint ja eine allgemeine mensch­liche Schwäche zu sein, die durch Unwissenheit und Isolation noch verstärkt wird. Wenn zu diesen Ängsten noch die Bestätigung durch Ideologie oder Religion kommt, wird es brenzlig. Das wissen wir, aber so weit sind wir hier noch nicht.
Laut John muss man folgendermaßen vorgehen, will man die coolste Bar der Stadt ausfindig machen. Man fragt einfach irgend­jemanden nach einem Club zum Ausgehen, vergisst alle Empfeh­lungen und geht dann letztlich in den Laden, den der Gefragte ausdrücklich nicht empfohlen hat! Das hat bislang immer gut geklappt. Mit Ausnahme von Boston. Im Telegrammstil: Beinahe - auf - die - Schnauze - bekommen - von - besoffenem - Schotten - welcher - der - Mei­nung - war - ich - würde - seinen - Akzent - imitieren. Durch - Preis­ga­be - ei­ge­ner - Nationalität - und - Dank - der - beim - Schotten - vorhandenen - großen - Sympathien - für - Adolf - Haut - gerettet.
Heute haben wir Erkundigungen dieser Art nicht nötig, heute wird nach New York gefahren! Gestern in Montreal haben wir die Filmcrew von Bruce LaBruce getroffen. Die wollen wir heute wieder treffen – in einem Laden im Meat Cutting District: Riesenparty! »Chi Chi Valenti’s Partyreihe Jackie 60«.
Bruce LaBruce kommt aus Toronto und hat zwei Jahre zuvor mit dem Film »Hustler White« seinen künstlerischen Durchbruch gehabt. In diesem Film über die Stricherszene in LA spielt Tony Ward mit. Tony Ward ist Fotograf, Ex-Liebhaber von Madonna und Darsteller in den Videos »Justify my Love« und »Erotica«. Wir sind also schon ganz nah dran! Dem deutschen Zuschauer ist der Filmemacher vielleicht eher durch den provokanten, freundlichen und hierzulande völlig absurd anmutenden Streifen »The Raspberry Reich« bekannt. Darin geht’s um führende RAF-Protagonisten, die ihr sexuelles Coming-out feiern. Ohne weiter darauf einzugehen und ­ohne mich eingehend damit beschäftigt zu haben, möchte ich mir erlauben, ein, zwei Dinge über Bruce zu sagen. Erstens scheint er mir ein unglaublich freundlicher Zeitgenosse zu sein, wie ich dem Arte-Beitrag »Durch die Nacht mit Bruce LaBruce und Jörg Buttgereit« neulich entnommen habe. Zweitens steht er für eine eigene schwule Subkultur und für die Forderung, diese möge in direk­ter Opposition zur bürgerlich spießigen Heterowelt stehen. Seine künstlerische Praxis besteht (grob zusam­mengefasst) darin, die ­eine Welt mit möglichst drastischen Darstellungen aus der ande­ren Welt zu provozieren. Seine Auffassung von schwuler Kultur steht für Promiskuität und Freiheit.
Zur Illustration: In dem Gespräch mit Buttgereit berichtet er, jetzt, in seinen Vierzigern, zum ersten Mal mit Monogamie zu ­ex­pe­ri­men­tie­ren. Über Bruce LaBruce sollte sich jeder selber informieren, finde ich. Und mindestens einen Film anschauen. Vielleicht gehen Sie jetzt einmal kurz ins Internet und googlen den Namen, damit Sie ungefähr wissen, welche Bande uns in New York erwartet.

A was for Awful B was for Bad C was for Careful D was for Dead
Wie gesagt, das war einmal. Hochgeklappte Bürgersteige. Ich bin kein Experte, aber ich stelle mir vor, dass die Differenz zwischen Tribeca 1983 und 1998 ungefähr genauso groß ist wie der Unterschied zwischen Reeperbahn, St. Pauli, 1992 und 2007. Der ehemalige kulturelle Wildwuchs ist durch strategische Investitionen in den gastronomischen Mainstream zerstört, oder zumindest beeinträchtigt; der Stadtteil »gen­trifiziert«. In Alphabet City ist angeblich nachts um drei ein Spaziergang auch ohne Feuerwaffen nun ­gefahrlos möglich. Es ist aber auch nicht alles verschwunden, was in New York sub­kulturell glänzte: das CBGBs gibt es noch, genauso wie den Pudel Club in St. Pauli – nur anders.
Die Sterne beenden an diesem Abend eine hoff­nungsvoll beginnende USA-Karriere (»Super-Auftritt, beim nächsten Mal dürft ihr um 22 Uhr spielen, wenn Leute da sind, und müsst nicht wie­der um 20 Uhr auf die Bühne.«), indem sie in den nächsten zehn Jahren nicht wieder dort auftauchen. Übrigens bemerkenswert, wie viele Menschen aus Deutschland immer in der Stadt sind. Das Konzert ist ja öffentlich angekün­digt, und so erscheinen dort Hagar, Florence und Michael, außerdem ein erster Fan, den wir in ­Toronto erwarben und der uns hierher nachreist. Ein Gefühl von Jetset stellt sich ein. Einige kommen noch mit zu der Party in der Bowery Bar. Irgendeine Vernissage, oder wie das heißt, in der Modewelt: die Präsentation einer neuen Kollektion eines Designers, der irgendwie mit den Bruce-LaBruce-Leuten befreundet ist. Und: Ja, es ist der wöchentliche Gay-Abend. Eine dufte Party und ich muss sofort an Madonna denken – »Vogue«. Diese Veranstaltung ­bestätigt alle Modeszenen-Klischees: tuntige Künstler, dünne Models, alkoholisierte Fotografen – mög­licherweise gibt es irgend­wo aufputschende Drogen –, Discomusik. Die Party ist interessant genug für uns, aber ohne den direkten Draht zu den Veranstaltern und ein entsprechendes Konsumkontingent können wir uns auf Dauer die Getränke nicht leisten.
Es geht also weiter in den Meat Cutting District. Der ist genauso bodenständig wie sein Name. Hamburger kennen dieses Schlachthof-Ambiente-Gefühl vielleicht von der Gaststätte »Erikas Eck«, wo von 2 Uhr nachts bis 14 Uhr war­me Küche serviert wird. Genauso fühlt sich das jetzt an in New York: eine Schlange vor einem Haus, das organisiert ist wie ein Lagerhaus. Das ist der Club. Eine Art Lastenfahrstuhl in der Mitte, mit Treppenhaus drum herum. Viele kleine Etagen, mit zwei oder drei einzelnen Räumen. Und jetzt kommt der Insider-Gag für die Hamburger: Der Laden heißt »Mother«.
Unsere neuen Bekannten aus Montreal sorgen dafür, dass wir auch reinkommen. Die farbliche Gestaltung der Wände, ein sattes Achtziger-Jahre-Schwarz, steht in direktem Gegensatz zum Styling der Menschen hier. Es kommt alles vor, was man sich vorstellt – sogar Heteros. Auf der Bühne im ersten Stock, einer Art Techno-Dancefloor, ficken Nonnen mit Mönchen im Rhythmus der Musik. So ­eine Art Kopulationstanz, der die klerikale Meute höchst lächer­lich aussehen lässt. Eine Bühnendarstellung, die die Stimmung anheizt. Es hat aber auch den Anschein, als würde man sich hier wehren, gegen irgendwas:

»Holiday:Just one day out of lifeIt would be, it would be so niceOne day to come togetherTo release the pressure.«

Ja, ja, der Druck. Wo aber kommt der her? Ist das noch das toleran­te New York oder schon das biedere München? Wo kommen all die Leute her? Müssen sie sich tagsüber verstellen? Irgendetwas darstellen, das sie nicht wirklich sind? Etwas verheimlichen, vor ihren Chefs, Eltern, Freundinnen, Freunden, Schülern? Wenn ja, dann wäre dies hier wirklich der Ort, der die Pressure releasen könnte. Von jetzt an bis zum Morgengrauen: »It would be so nice«! Wenn man die Schuld dafür unbedingt der Kirche in die Schuhe schie­ben will, na gut: Spaß macht das allemal.

»Vogue:You try everything you can to escapeThe pain of life that you knowWhen all else fails and you long to beSomething better than you are todayI know a place where you can get awayIt’s called a dancefloor, and here’s what it’s forIt makes no difference if you’re black or whiteIf you’re a boy or a girlIf the music’s pumping it will give you new lifeYou’re a superstar, yes, that’s what you are, you know it.«

Da ich die Treppe benutze, komme ich nicht in den Genuss, in einem falschen Stockwerk zu landen. John hingegen, der mit dem Fahrstuhl fährt, wird noch Jahre später erzählen, wie er dort, im fünften Stock, Zeuge sexueller Handlungen unter Männern wurde, die privat waren und ihn nichts angingen. Der Raum war offensichtlich nicht dark genug. Da sich die Fahrstuhl­tür nur langsam schloss, habe sich der Moment der Peinlichkeit unnötig in die Länge gezogen. Die beiden Frauen, die mit uns unterwegs sind, knutschen im Flur. Ich weiß nicht, ob sie vorher schon ein Paar waren, es gerade werden oder sich einfach nur von der allgemein befreienden Atmosphäre haben mitreißen lassen – wie wir alle. Möglicherweise halten sie sich aber auch nur an das Motto der Veranstaltung:

Jackie 60 is a club for dominant women, poets, gay men and lesbians, free-thinking heterosexuals, transvestites and transsexuals, fetish dressers, bisexuals, and those who love them.
If you have a problem with this, please don’t come in.

Ohne Frage, Madonna wäre hier mit ihrer Performance von »Like a Prayer«, einer angedeu­teten Fellatio, am richtigen Fleck gewesen, ganz zu schweigen von ihren Kapriolen über den Katholizismus; »Papa don’t preach«. Vorausgesetzt, ihre Performance bestünde aus einer billigen und einfachen Technik. Man hat jedenfalls keine Probleme, sich Madonna hier vorzustellen. Der Abend ist wild, lang und ereignisreich, die Atmosphäre dabei wohl das Ausschlag­gebende. Ein Bandmitglied gibt den Avancen einer bezaubernden Drag Queen nach, um den Annäherungen eines Filmcrew-Mitglieds zu entkommen, und der Morgen graut noch lange nicht.
Nach den Erlebnissen dieser Nacht hätte ich am liebsten, so wie weiland Kennedy – John diesmal, nicht Jackie –, gesagt: »Ich bin eine Gay Bar.«
Denn das war die verdammt noch mal ausgelassenste Party, die ich seit langem erlebt ha­be! Na ja – eine davon. Aber am nächsten Tag hält die Euphorie noch an, und vielleicht trägt auch der Restalkohol zu dieser Meinung bei.
Der einzige Schatten, der auf diese Erlebnisse fällt, ist meine Erfahrung, die mir sagt, dass die Ausgelassenheit einer Party oft auch proportional zum Leidensdruck der Feiernden steht. Einer Theorie aus den achtziger Jahren zufolge mussten die Chaostage in Hannover genau dort stattfinden, weil diese Stadt unter der Knute Ernst Albrechts eben die konservativste und ödeste Stadt Deutschlands war.
Und hier, New York? Giuliani? Wer weiß. Und schon gar nicht weiß ich, wo die Leute herkommen und was sie in irgendwelchen elenden Kleinstädten, vielleicht sogar drüben im »Bible Belt«, schon erlebt haben. Jedenfalls kann ich mich noch sehr gut an Gespräche mit Schülern in Atlanta erinnern, die alle gerne mal nach Europa wollten, um so etwas wie Freiheit und Dekadenz kennen zu lernen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich kleine aufgeräumte Dörfer und weiße Kirchen sowie Vorstädte voller Verbotsschilder. Madonna ist in Bay City am Michigansee aufgewachsen. Das ist religionsgeographisch gesehen die katholische Ecke der USA. Sie war also kein Teil einer religiösen Minderheit dort. Aber vielleicht ist sie ja gar nicht religiös? Der Weg aus der Enge ihres katholischen Elternhauses in die Glamourstadt jedenfalls ist Teil ihrer offiziellen Biografie.
Die achtziger Jahre in der Danceteria hatten ihre eigenen Bedingungen: kein Giuliani, aber AIDS – und eine Madonna, die sich zwischen diesen Schwingtüren einen Platz in der New Yorker Szene eroberte. Sie sprach die Sprache der Szene und lernte ihre Zeichen. Ein paar Jahre zuvor hatte John Lydon bereits gesagt, Punk sei tot und er höre nur noch Disco Music. Mit der Single »Death Disco« ­seiner Band PIL hat er daraufhin die Punk-Szene schwer verwirrt. Vielleicht ist Madonna damals ebenfalls der Meinung gewesen, dass diese Musik – und speziell ihre Verwurzelung in der schwulen Subkultur – das Subversivste und Coolste ist, was es gibt. Oder ist sie bei ihrem Versuch, als Tänzerin Karriere zu machen, einfach ­da hineingeraten? Auch gut.
Jedenfalls ahne ich jetzt, wie schnell das gehen kann. Denn wenn man sich selbst als Teil einer unterdrückten oder auch nur fremd­bestimm­ten Teilgruppe der Gesellschaft erlebt, liegt die Solidari­sierung mit der Party Community auf der Hand – und schon ist man ein Teil der Danceteria. Auf der anderen Seite passiert das, was viele immer als so schmutzig empfunden haben: Es wird Geld verdient. Eine Tatsache, mit deren Offenlegung sich auch mal die Punks von den Hippies abgegrenzt haben, ei­ne Tatsache, die wir heute vermissen, und eine Tatsache vor allem, über die ein Material Girl singt:

»Some boys kiss me,some boys hug me,I think they’re O. K.If they don’t give me proper credit,I just walk away.«

Madonna (mitsamt ihrer Plattenfirma) führt also genau das auf, was man vom Rock’n’Roll, seit Elvis Presley, und somit also von Anfang an, kennt: Sie verkauft Ästhetik und kulturelle Praktiken einer Minderheit an eine ausgehungerte, von der tradierten Kul­tur gelangweilte Mehrheit. Was unter dem Hegemonialdruck der White Anglo Saxon Protestants, der amerikanischen Bevölkerungsmehrheit, an Gegenkultur entsteht, wird mit Hilfe einer Galionsfigur, die den Ursprung dieser Kultur vergessen macht, zurück an den Mainstream verkauft. Der R’n’B durch Elvis Presley, schwule Subkultur durch Ma­donna, Hip-Hop durch Eminem. Und die Show geht weiter. Je mehr Druck, desto besser. Jedenfalls für die Kunst. Vielleicht wäre es aber doch besser, es gäbe schlechtere Kunst und dafür weniger Leidensdruck. Aber wer bin ich, das zu ent­schei­den...

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Kerstin Grether/Sandra Grether (Hrsg.): Madonna und wir. Bekenntnisse. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 399 Seiten, 12 Euro. Das Buch erscheint kommende Woche.