Die AKP, das Militär und die Instrumentalisierung von bewaffneten Gruppen

Hinter den Kulissen

In der Türkei findet ein Machtkampf zwischen der regierenden islamischen AKP und dem Militärapparat statt. Ausgetragen wird er allerdings weniger mit demokratischen Mitteln, sondern immer wieder auch, indem bewaffnete Gruppen instrumentalisiert werden.

Die Ereignisse in der Türkei überschlagen sich: Nach vier Jahren schlägt erstmals offenbar al-Qaida erneut in Istanbul zu, auf dem Ararat, an der Grenze zum Iran und zu Armenien, werden drei deutsche Touristen von der PKK entführt, die Verbotsverfahren gegen die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) und die pro-kurdische Partei für eine demokratische Gesellschaft (DTP) werden fortgesetzt; ein Schlag gegen Geheimbünde im Staat wird ausgeführt, der die Verhaftung hochkarätiger pensionierter Generäle zur Folge hat, die mehrere Militärputsche geplant und Kontraguerilla-Aktivitäten befohlen haben sollen. Doch die Dinge ereignen sich nur scheinbar gleichzeitig und zusammenhanglos, im Hintergrund rumort ein Machtkampf mit mehreren Schauplätzen.

Die Attacke auf das US-Konsulat in Istanbul soll als Selbstmordattentat geplant gewesen sein, vermutet die Istanbuler Polizei. Anders ist es auch kaum zu erklären, dass jemand versucht, das US-Konsulat im Istanbuler Stadtteil Istinye anzugreifen. Wenn Istanbuler das einsam auf einem Hügel thronende Konsulat beschreiben sollen, so fallen ihnen als Erstes Assoziationen wie »Adlerhorst« oder »Kreuzritterburg« ein. Vor einigen Jahren wurde das Konsulat im Stil einer Festung erbaut, selbst das Baumaterial kam per Schiff aus den USA. Zwischen dem Eingang und dem eigentlichen Gebäude liegt ein langer Weg mit drei Sperren. Trotzdem versuchten die Attentäter einen Sturmangriff auf das Konsulat. Während der Fahrer im Wagen zurückblieb, feuerten zwei Männer mit Pistolen auf das Wächterhäuschen, zugleich beschoss ein bärtiger Mann mit einem Gewehr das Hauptgebäude.
Die drei türkischen Polizisten wurden völlig überrumpelt, zwei von ihnen waren unerfahrene, junge Verkehrspolizisten. Sie hätten in dem Wachhäuschen einfach abwarten können, bis sich die Angreifer zurückziehen. Stattdessen stürmten sie aus ihrer Kabine heraus und wurden alle getötet. Bei dem Schusswechsel, an dem auch weitere Polizisten beteiligt waren, wurden zwei Angreifer getötet und einer wurde verwundet, der sofort Selbstmord beging. Der Mann im Wagen ent­kam zunächst, wurde aber wenig später festgenommen; er behauptet, ein ohne Lizenz fahrender Taxifahrer zu sein, den die Terroristen nur für die Fahrt anheuerten.
Bei den Attentätern handelte es sich um keine Unbekannten. Die Männer, 20, 23 und 26 Jahre alt, stammen aus dem Osten der Türkei. Die türkische Polizei präsentierte schnell erste Ermittlungsergebnisse. Die Spuren weisen in Richtung der islamistischen Terrorgruppe »Abu Najaf al-Afghani«, die mit dem Netzwerk al-Qaida in Verbindung stehen soll. Der 26jährige Erkan Kargin und der 23jährige Bülent Cinar sollen in einem Camp der Gruppe in Afghanistan eine Ausbildung erhalten haben. Seit viereinhalb Jahren sind die Sicherheitskräfte al-Qaida in der Türkei auf den Fersen, nachdem im November 2003 vier Lastwagenbomben in Istanbul zwei Synagogen, die Büros einer britischen Bank und das britische Konsulat zerstört haben. Insgesamt wurden damals mehr als 700 Menschen verletzt, mehr als 50 starben.
Vor einem Jahr dann wurde der Drahtzieher zu lebenslanger Haft verurteilt. Es war ein Syrer namens Loai al-Saqa, ein prominenter Weggefährte des irakischen al-Qaida-Chefs Abu Mussab al-Sarkawi. Er hatte nach Angaben der Staatsanwaltschaft 170 000 Dollar in die Anschläge investiert und wurde beschuldigt, den Befehl direkt von Ussama bin Laden bekommen zu haben. Türkische Medien berichteten unter Bezug auf Polizeiquellen, dass ein Teil des Geldes aus Deutschland kam. Zusammen mit al-Saqa waren 48 Komplizen zu Gefängnisstrafen verurteilt worden, andere blieben flüchtig. Seither war die Angst vor weiteren Anschlägen groß, vor allem, weil seit Anfang des Jahres vermehrt Orte und Aktivitäten der al-Qaida entdeckt worden waren. Erst im Januar hatten sich türkische Polizisten mit einer al-Qaida-Zelle in Gaziantep ein zwölfstündiges Feuergefecht geliefert; ein Polizist und zwei der Terroristen starben, 20 weitere wurden festgenommen. Die Sicherheitskräfte fanden ein Arsenal von Waffen und Sprengstoff.

Weitere Festnahmen gab es am 2. April in Istanbul, 45 Verdächtige nahm die Polizei fest. Aus Sicherheitskreisen hieß es, dass »ein größerer Anschlag« geplant gewesen sein soll. Der Angriff auf das US-Konsulat war aber sicher nicht die Ausführung dieser Pläne, er wirkt mehr wie ein Akt der Solidarisierung fanatischer Islamisten mit den festgenommenen mutmaßlichen al-Qaida-Kadern.
Die Wurzeln der militanten islamistischen Bewegung in der Türkei liegen in der vom Iran beeinflussten Hizbollah-Bewegung. Die »Türkische Hizbollah« (TH), die in den neunziger Jahren in der Türkei immer wieder als Anschläge und Morde verübende islamistische und gegen die PKK gerichtete kurdische Gruppierung von sich Reden machte, wurde im Jahr 2000 mit groß angelegten Polizeiaktionen von den türkischen Sicherheitskräften zerschlagen. Es ist bekannt, dass die Türkische Hizbollah als Teil der Kontraguerilla in den Neunzigern von Angehörigen des Geheimdienstes und des Militärs toleriert und unterstützt wurde. Sie sollte vor allem die PKK in den Kurdengebieten schwächen und demoralisieren, dementsprechend entledigte man sich der Hizbollah, nachdem 1999 mit der Festnahme und Verurteilung von PKK-Führer Abdullah Öcalan die PKK den bewaffneten Kampf zunächst aufgegeben hatte.
Im Anschluss kam es zu Massenverhaftungen von Hizbollah-Aktivisten. Etwa 6 000 Menschen wurden verhaftet, 3 000 verurteilt. Die Hizbollah-Angehörigen waren jedoch die ersten, die von dem 2003 in Kraft getretenen »Reue-Gesetz« Gebrauch machten. Als Folge umfangreicher Aussagen konnten sie mit verkürzten Haftzeiten rechnen. Mitt­lerweile sind Tausende angeblich reuige radikale Islamisten wieder auf freiem Fuß. In einem geheim geführten Interview mit der der PKK nahe stehenden Nachrichtenagentur Firat äußerte die in Istanbul angesiedelte Führung der Hizbollah im April 2008, dass die Organisation mittlerweile vor allem zivile Strukturen aufbaue. Es gebe allerdings weiterhin kleine Zellen, die »zu gegebener Zeit auch den bewaffneten Kampf aufnehmen können«. Als Hauptfeind sieht die Hizbollah den amerikanischen Imperialismus in der Region.

Die Instrumentalisierung militanter Gruppen zur Bekämpfung des jeweiligen Feindes hat eine lange Tradition. Momentan erhält sie angesichts der Festnahme prominenter Ex-Generäle, Anwälte, Journalisten und Mafiosi im Rahmen der Ergenekon-Ermittlungen neue Brisanz (Jungle World 27/08). Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass eine Gruppe versuchte, für 2009 einen Staats­streich vorzubereiten. Sie verfügte über einige legale Gliederungen und über illegale Militante. Ausgangspunkt der aktuellen Ermittlungen ist der Fund von Handgranaten in einem Haus in Ümraniye in Istanbul 2007. Die Handgranaten konnten Mitgliedern einer ultranationalistischen Gruppierung zugeordnet werden. Eine Untersuchung ergab außerdem, dass Handgranaten der gleichen Produktionsserie bei anderen Attentaten benutzt wurden. Presseberichten zufolge handelt es sich um Waffen aus Armeebeständen.
Schlagzeilen machte vor zehn Tagen die Nachricht, dass die Polizei die beschlagnahmten Handgranaten aus »Sicherheitsgründen« mitt­lerweile zur Explosion gebracht hat. So ist wichtiges Beweismaterial verlorengegangen. Der Vorfall unterstützt die These, dass »Ergenekon« nur der Name für einen Teil einer weiter verzweigten Struktur ist. Mitte Januar begann die Polizei nach mehr als sechsmonatigen Vorbereitungen mit Festnahmen und Hausdurchsuchungen. Unter den Festgenommenen befinden sich zwei international bekannte Persönlichkeiten: der Anwalt Kemal Kerinsic und der pensionierte General Veli Kücük. Kerinsic hatte die Klagekampagne gegen bekannte Intellektuelle wie Orhan Pamuk, Hrant Dink und andere geführt. Veli Kücük wird mit den Susurluk-Ermittlungen (15/03) in Verbindung gebracht. Er gilt als einer der maßgeblichen Offiziere, die für den Aufbau des türkischen Geheimdienstes verantwortlich waren. Spekuliert wird in diesem Zusammenhang über eine Beziehung der Ergenekon-Gruppe zum Mord an Hrant Dink. Über die Beziehung Veli Kücüks zu den Susurluk-Ermittlungen wird außerdem eine Beziehung zu weiter zurückliegenden Ereignissen hergestellt. Im Zusammenhang mit Susurluk wurde von prominenten Journalisten wie Can Dündar vermutet, dass es sich um Ausläufer eines Beziehungsgeflechts handele, das auf die Gladio-Strukturen der Nato zurückzuführen sei und maßgeblich für den Straßenterror der zweiten Hälfte der siebziger Jahre verantwortlich war, der zum Putsch vom 12. September 1980 führte.

In diesem weiten Bogen ist, dieser Lesart zufolge, die aktuelle Ermittlung eine Abrechnung mit einer mehr als 30jährigen von Gewalt gekennzeichneten Vorgeschichte, deren Spuren die Gesellschaft nach wie vor prägen. 58 Verdächtige wurden mittlerweile festgenommen, die Staatsanwaltschaft hat eine Anklageschrift von über 2 500 Seiten erstellt. Die insgesamt 86 Angeklagten werden darin beschuldigt, eine staatsfeindliche Terrororganisation betrieben zu haben. Es heißt, die Gruppe wollte durch spektakuläre Anschläge ein Klima schaffen, das einen Staatsstreich der Armee gerechtfertigt hätte. Gleichzeitig gehörte es zur Strategie, Minderheitenkonflikte zu schüren, um die gewünschte gesellschaftliche Spannung zu erzeugen.
Vor einem Jahr tauchten die Putschpläne erstmals auf. Angebliche Tagebücher des pensionierten Admirals Özden Örnek wurden zunächst im Internet, dann in der Zeitschrift Nokta veröffentlicht. Mit diesen Tagebüchern wurde der pensionierte General Sener Eruygur beschuldigt, zwei Jahre zuvor Pläne für einen Militärputsch ausgearbeitet zu haben. Als die Tagebücher auftauchten, war Eruygur Vorsitzender des Vereins zur Unterstützung zeitgenössischen Lebens. Der Verein koordinierte die sich gegen die AKP-Regierung richtenden »republikanischen Kundgebungen«, mit denen vor den Präsidentenwahlen für die laizistische Ordnung der Republik demons­triert wurde.
Es zeichnet sich immer mehr ab, dass derzeit im Verborgenen ein Machtkampf stattfindet. Ein Teil des Sicherheitsapparats und der Staatsbürokratie steht hinter der AKP, ein anderer Teil möchte auf keinen Fall die traditionell dichotomische Struktur aufgeben. Danach kontrolliert die laizistische Staatsbürokratie im Verbund mit dem Militär die Regierung. Ein zentraler Satz der Offiziere lautet: »Wir haben die Republik gegründet, deswegen sind wir es, die sie beschützen.« Man hält sich immer wieder extremistische Organisationen, die die jeweils oppositionellen politischen Kräfte diskreditieren sollen. Im Falle der Kurden ist es die PKK, die zurzeit erneut erfolgreich dafür sorgt, dass eine parteipolitische Diskussion über die Kurdenfrage nicht stattfinden kann. Angesichts einer stabilen islamisch-konservativen Politik lauert die Hizbollah im Hintergrund. Sie kann sowohl zu einer Radikalisierung islamischer politischer Kreise als auch zu einer Spaltung der kurdischen Bewegung beitragen. Die Regierungspartei AKP hat nicht genug Durchsetzungsvermögen, um diesen Strukturen entschlossen entgegenzutreten. Sie setzt, wie alle politischen Bewegungen in der Türkei, auf eine langsame Unterwanderung des Staatsapparats mit Gleichgesinnten – eine Demokratisierung findet so aber nicht statt.