Ein Gespräch mit Baskin Oran über Minderheitenpolitik und Nationalismus in der Türkei

»Hoffen auf die EU«

Der emeritierte Politikwissenschaftler Baskin Oran ist ein scharfer Kritiker des türkischen Militärs, der türkischen Minderheitenpolitik und des türkischen Natio­nalismus. In den vergangenen 35 Jahren wurde er aus politischen Gründen mehrmals von der Universität Ankara entlassen, konnte sich aber immer wieder erfolg­reich einklagen. Im vergangenen Jahr kandidierte er als unabhängiger Kandidat für das türkische Parlament, scheiterte ­jedoch an der Zehn-Prozent-Hürde. Das Interview wurde per E-Mail geführt.

Ist die Veröffentlichung geheimer Putschpläne des Militärs ein Zeichen dafür, dass sich innerhalb des militärischen Apparats der Türkei eine demokratische Entwicklung abzeichnet, wie es beispielsweise die stellvertretende Chefredakteurin der Zeitung Taraf, Yasemin Congar, behauptet?
Die Türkei entwickelt sich immer schneller zu einer offenen Gesellschaft, auch wenn es noch ein langer Weg bis dorthin ist. Durch die Bekannt­gabe dieser Geheimpläne und durch die Aufnahme der Ermittlungen gegen die Ergenekon-Gruppe, die für politisch motivierte Attentate wie das auf Hrant Dink verantwortlich gemacht wird, hat sich die Türkei schon jetzt verändert. Wir können nur darauf hoffen, dass die EU weiterhin das Licht auf der anderen Seite des Tunnels liefert. Denn die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft der Türkei ist die Grundbedingung dafür, dass der demokratische Prozess in diesem Land weitergeht. Unglücklicherweise hat auch Europa Angst. Angst vor dem Islamismus und der Globalisierung. Eine Angst, die im Übrigen auch in der Türkei vorherrschend ist.
Einige türkische Kolumnisten beschreiben den 1. Juli, den Tag, an dem zwei pensionierte Generäle verhaftet wurden, als »wichtigstes Ereignis in der Geschichte der Türkei«. Ist das türkische Militär nicht mehr unberührbar?
Die Zeit der Militärputsche ist vorbei. Und mit der Unberührbarkeit ist es wie mit der Jungfräulichkeit. Wenn sie einmal weg ist, ist sie weg. Aber mit dem türkischen Militär wird es sich etwas schwieriger verhalten und es wird sicherlich mehr nötig sein als dieser eine Schlag.
Nicht wenige antinationalistische Linke und Liberale in der Türkei unterstützen die AKP gegen den militärischen und kemalistischen Block. Hat diese Unterstützung durch das Verhalten der AKP, beispielsweise bei der brutalen Zerschlagung der 1. Mai-Demonstration, der Schließung des schwul-lesbischen Vereins Lamb­da oder der Verbreitung des Alkoholverbots, nachgelassen?
Selbstverständlich ist die Unterstützung schwächer geworden. Aber es gibt nach wie vor keine Alternative zur AKP. Die kemalistische CHP ist beklagenswert. Folglich ist die Situation in der Türkei beklagenswert. Die sozialistische Internationale sollte sich schämen, dass sie die nationalistischste Partei der Türkei nicht aus ihrem Verband ausgeschlossen hat.
Ist das Verhalten der AKP ein Indikator dafür, dass die demokratische Entwicklung, die die Partei in den vergangenen Jahren gemacht hat, an ihr Ende gekommen ist?
Das glaube ich nicht. Die AKP handelt so, weil sie Angst hat, es könnte erneut zu solch ablehnen­den Reaktionen ihr gegenüber kommen, wie es sie nach der Verabschiedung der EU-Reformpakete zwischen 2001 und 2004 gegeben hat. Man darf nicht vergessen, dass diese Leute keine Revolutionäre sind. Sie werden zu Bürgern, aber dieser Prozess wird einige Generationen dauern. Sie sind immer noch Bauern.
Glauben Sie, dass sich nach einem möglichen Verbot der AKP die radikalen Teile der Partei wieder stärker durchsetzen könnten?
Darüber kann man nur spekulieren, deswegen kann ich dazu auch nichts sagen. Aber die Verbürgerlichung der AKP ist zunächst einmal un­übersehbar. Und der Bürger hat nur ein Diktum: die Maximierung des Profits. Der Grund, warum die AKP bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr 47 Prozent der Stimmen erhalten hat, lag nicht an der Unterstützung des Islam. Lediglich acht bis zehn Prozent der türkischen Gesellschaft unterstützen die Sharia. Es waren vor allem Proteststimmen, die der AKP zu diesem deutlichen Sieg verholfen haben.
Worin unterscheidet sich die kemalistische Oppositionspartei CHP von der islamischen Regierungspartei AKP hinsichtlich der Rolle der Religion in der türkischen Gesellschaft?
In der Türkei ist ein Türke kein Türke, wenn er oder sie kein Muslim ist. Das ist nicht im Gesetz, sondern in den Köpfen festgeschrieben. Zwar wurde das Millet-System, das im osmanischen Reich den Minderheitenstatus der Nicht-Muslime regelte, 1839 abgeschafft, aber es bestimmt immer noch sehr stark die Vorstellungen. Die Kema­listen, die vor allem von der CHP repräsentiert werden, geben vor, säkular zu sein, aber unbewusst akzeptieren sie, dass nur ein muslimischer Türke ein Türke sein kann. Das ist der Grund dafür, warum das Kassationsgericht, die wichtigste Bastion des Kemalismus, 1971, 1974 und 1975 erklärt hat, dass Nicht-Türken in der Türkei kein Grundeigentum erwerben können. Das bezog sich damals vor allem auf die rum-orthodoxen Griechen, die türkische Staatsbürger waren.
Vor einigen Jahren wurden Sie von der AKP-Regierung beauftragt, einen Bericht über die Situation der Minderheiten in der Türkei zu verfassen. Nachdem Sie diesen veröffentlicht hatten, wurden Sie wegen »Beleidigung der türkischen Justiz« und »Anstiftung zum Hass« angeklagt. Die AKP protestiert auch nicht gegen den derzeitigen Verbotsantrag gegen die kurdische Partei DTP. Spielt die AKP in Fragen der Minderheiten ein doppeltes Spiel?
Ich wurde nicht beauftragt, einen Bericht über die Minderheiten zu verfassen. Es war gesetzlich festgeschrieben worden, dass der Beraterausschuss für Menschenrechtsfragen, der dem Premierminister zugeordnet ist und in dem ich Mitglied bin, regelmäßig solche Berichte zu produzieren hat. Wir nahmen unseren Job einfach nur zu ernst.
Doch die Anklage wegen Anstiftung zum Hass nach Artikel 216 war der eigentliche Skandal. Dieser Artikel, der erlassen wurde, um die Minderheiten zu schützen, wird immer wieder im Diens­te des Gegenteils angewendet, nämlich um die Mehrheit zu schützen. Die Justiz hat große Angst vor den liberalen Entwicklungen in der Türkei. Sie wurde zum konservativsten Teil der Gesellschaft. Sie konserviert die autokratischen und monistischen Werte des Kemalismus der dreißiger Jahre.
Die AKP hingegen ist eine seltsame Mischung. Sie ist liberaler als die CHP, wenn es darum geht, die muslimischen und nicht-muslimischen Minderheiten anzuerkennen, gleichzeitig ist die AKP der wichtigste Repräsentant der dominanten muslimisch-sunnitischen Ausrichtung. Die AKP versucht nur, sich selbst zu schützen. Sie merkt allerdings nicht, dass sie dies nur tun kann, wenn sie die Rechte anderer Parteien, Ideo­logien oder Menschen schützt.
Sie haben eine Morddrohung von einer Gruppe erhalten, die sich »Türkische Rachebrigaden« nennt. Diese Gruppe hat vor einigen Jahren einen Mordanschlag auf Akin Birdal, damals Präsident des Menschenrechtsvereins, verübt. Haben Sie überlegt, das Land zu verlassen?
Das Land zu verlassen, würde bedeuten, viele mei­ner Freunde zu verlassen, die in derselben Posi­tion sind wie ich, aber aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage sind, außer Landes zu gehen. Wenn ich es tun würde, könnte ich ihnen ebenso gut sagen, dass das, was sie tun und denken, keinen Sinn macht. Es wäre eine Entmutigung, und ich würde sie im Stich lassen. Und das kann ich nicht. Ich bin nun in meinem Haus umgeben von Stacheldraht und Sicherheitskameras. Diese Umstände sind der Grund, warum ich eigentlich ungern Interviews gebe.