Proteste gegen illegale Bauprojekte in St. Petersburg

Kosaken und Kapuzenpullis

In St. Petersburg protestieren Anwohner gegen illegale Bauvorhaben und die allgemeine Umstrukturierung der Stadt. Kann sich aus einer Bürgerbewegung, die vor allem ihre lokalen Interessen verteidigt, sozialer Protest entwickeln? Russische Anarchisten und Antifaschisten machen sich da ein wenig Hoffnungen.

Für den Freitagabend kurz vor der Sommersonnenwende ist auf dem Platz der U-Boot-Matrosen in St. Petersburg eine Vollversammlung vorgesehen. Seit Wochenbeginn halten Anwohner hier rund um die Uhr Wache. Sie sind auf alles gefasst. Auf der Grünfläche ihres Wohnviertels mit der technokratischen Bezeichnung Poljustrowo Quar­tal 43 sollen zwei Elitewohnhäuser entstehen. Als Investor tritt niemand Geringeres in Erscheinung als der Inlandsgeheimdienst FSB in Petersburg und im Leningrader Gebiet. Die ausführende Baufirma Strojkompleks XXI verspricht, die Wohnhäuser seien bereits im Dezember 2009 be­zugsfertig.
Durch den Park, der von mehrstöckigen Wohnhäusern und einem Kindergarten umgeben ist, verläuft eine schmale asphaltierte Straße. Parallel dazu stehen etliche Betonblöcke, Teile eines Bauzauns, mit Aufschriften wie »Gegen den Bau« oder »Bullen sind Sklaven des Systems«. Sie lassen sich nicht so einfach umwerfen. Aber jungen Anarchisten und Antifaschisten, die den Platz seit Beginn der Woche regelmäßig aufsuchen und den Protest der Bewohner unterstützen, ist es bereits gelungen, einige Blöcke aus der Verankerung zu reißen und umzukippen. Der Wachschutz der Baufirma reagierte mit entsprechender Brutalität auf die Protestierenden.
Eine Gruppe Anwohner steht neben einigen klei­nen Zelten. Dort haust die Nachtwache. Es sind fast nur ältere Leute anwesend, überwiegend Frauen. Aus den Zelten kriechen etwas später aber auch einige Teenager. Etwas abseits unterhält sich ein Typ in schwarzer Lederjacke mit anderen jüngeren Leuten. Später stellt sich heraus, dass es sich dabei um Mitglieder der Nationalbolschewistischen Partei handelt. Den Anwohnern ist je­de Form der Solidarität willkommen, solange sie darin einen praktischen Nutzen erkennen. Zudem geben sich die Nationalbolschewisten gerne bei jeder sich bietenden Gelegenheit als volksnahe oppositionelle Kraft. Die zahlenmäßig überlegenen Anarchisten nehmen deren Anwesenheit indes sichtlich ohne Begeisterung zur Kenntnis.
Es ist bereits nach 20 Uhr, aber taghell. Etwa 20 Meter von uns entfernt steht ein schwarzer Volvo mit verdunkelten Scheiben. Nummernschilder fehlen. Die Insassen, Milizionäre in Uniform, beobachten das Geschehen.
»Als wir 2005 davon erfahren hatten, dass wir zu einer Anhörung vorgeladen waren, wandten wir uns sofort an die Stadtverwaltung, um heraus­zufinden, auf welcher Grundlage hier ein Bauvorhaben realisiert werden soll«, sagt eine Frau, die ihren Namen nicht nennen will aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Alle Anwohner hatten sich bei einer Anhörung gegen das Projekt ausgesprochen. Sie haben gegen die Baufirma ge­klagt, die Staatsanwaltschaft hat die Unterlagen an die Miliz weitergeleitet, dort gingen sie schließlich verloren. Bislang endeten alle Ge­richts­ver­fah­ren mit einer Niederlage für die Gegner des Projekts.

Es handelt sich hier nicht nur um den Protest von Anwohnern, die ihre Grünfläche behalten möchten, sondern schlicht und einfach um ein illegales Bauprojekt: Ein den Anwohnern vorliegendes hydrologisches Gutachten untersagt jegliches Bau­vorhaben an dieser Stelle.
Als der Stadtteil im Jahr 1964 errichtet wurde, sollten in der Mitte dieses Platzes zwei neun­stöckige Gebäude entstehen, aber schon damals war klar, dass das Gelände durchweg sandig und löchrig ist. Überall trifft man auf Wasseradern. Das heißt, hier dürfen keine Baugruben entstehen, ansonsten besteht die Gefahr, dass das sandige Fundament unter den Häusern vom Wasser einfach weggespült wird. Keine offizielle Stelle nahm das Gutachten zur Kenntnis.
Der Platz der U-Boot-Matrosen ist nicht der einzige Ort in St. Petersburg, wo die Realisierung umstrittener Bauprojekte ansteht. Nicht weit davon entfernt, im Krasnogwardejskij Rajon, soll ein von der Petersburger Gouverneurin Valentina Matwienko persönlich vorangetriebenes, riesiges Bauvorhaben verwirklicht werden. Auch da regt sich seit Jahren heftiger Widerstand. Eine öffentliche Anhörung endete neulich mit der Festnahme der Projektgegner. Wenn das Ochta-Zentrum, wie der Bau heißen soll, mit seinem 400 Meter in die Höhe ragenden verspiegelten Turm erst einmal gebaut ist, werden die Preise für Immobilien in der Umgebung rasant ansteigen. Das gesamte Viertel östlich des Stadtzentrums erfährt durch das Businesszentrum, in dem sich auch der russische Gasmonopolist Gazprom niederlassen wird, eine starke Aufwertung. Wegen der steigenden Attraktivität und der zu erwartenden hohen Gewinnspanne werden die Investoren alles daran setzen, ihre Elitehäuser auf dem Platz der U-Boot-Matrosen so bald wie möglich hochzuziehen. Denn derzeit kommen sie noch günstig weg. Die Anwohner sind im Übrigen davon überzeugt, dass die derzeit diskutierten Bauprojekte nur den Anfang einer kompletten Umstrukturierung des gesamten Stadtteils bilden. Da sich hier im Unterschied zum historischen Stadtkern wesentlich mehr Nachkriegsbauten befinden, lassen sich die Baumaßnahmen in der Öffentlichkeit viel leichter als »Modernisierung« denn als Zerstörung gewachsener Strukturen verkaufen. Zumal in Petersburg Eingriffe in das von einem mehr oder weniger ein­heitlichen architektonischen Stil geprägte Stadtbild im Zentrum generell für scharfe Kritik sorgen.

Ursprünglich war der Platz der U-Boot-Matrosen als Park deklariert und sollte im Rahmen eines städtischen Programms zur Nutzung öffentlicher Grünflächen gepflegt werden, aber der Vizegouverneur Alexander Wachmistrow degradierte den Park zur Brachstelle. Auf das Denkmal für die in Friedenszeiten im Dienst verstorbenen Unterseematrosen – also auch für die Mannschaft der »Kursk«, des russischen Atom-U-Bootes, das im August 2000 während eines Manövers gesunken war – könne man verzichten, lautete die Erklärung aus der Stadtverwaltung.
Die Anwohner sind empört. Viele ältere unter ihnen haben eigenhändig Bäume im Andenken an verunglückte Matrosen gepflanzt. Ein äußerst agiler Überlebender der Leningrader Blockade, 92 Jahre alt, ereifert sich: »Schon vor dem Krieg habe ich an diesem Platz gelebt, und während des Krieges habe ich dafür gesorgt, dass der Baum­bestand erhalten bleibt.« Und nun diese Sauerei. Eine Frau in etwa gleichem Alter stimmt ihm zu. Ein Anwalt des FSB soll vor dem Gerichtssaal gar gesagt haben: »Den Gedenkstein werfen wir einfach weg.«
»Das Allerschlimmste«, meint eine Frau mittleren Alters, die sich als Jelena Nikolajewna vorstellt, »sind die Gerichtsurteile. Gesetze lassen sich ändern, das kennen wir alles schon. Aber ein Urteil bleibt bestehen, wenn es mal in erster Instanz gefällt wurde.« Die Anwohner bemühen sich um eine effektive Öffentlichkeitsarbeit. Sie wenden sich an angesehene Akademiker und Umwelt­schützer. Auch der russische Präsident Dmitrij Medwedjew hat bereits vier Telegramme erhalten mit der Aufforderung, sich um den Erhalt des Platzes zu kümmern. Da diese Versuche bislang folgenlos geblieben sind, wollen die Anwohner jetzt die Staatsanwaltschaft einschalten und gegen die Petersburger Regierung wegen »Beteiligung an der Zerstörung der Stadt« klagen. Die Kom­munikation mit den Petersburger Behörden gestaltet sich als schwierig. Inzwischen werden den Protestierenden gar keine Dokumente mehr vorgelegt, stattdessen stellten Arbeiter einen Bauzaun auf. Als die Arbeiter das erste Mal erschienen, versuchten sie, die Bäume auf dem Grundstück zu fällen. Das war Ende Mai. »Meinem Sohn haben sie fast den Arm abgesägt«, schreit eine Frau. Rentner legten sich auf den Boden, um die Wagen der Bauarbeiter am Weiterfahren zu hindern. Das lokale Fernsehen filmte das Geschehen und die Bauarbeiter zogen wieder ab. Aber das war nur der Auftakt.
Später, als der erste Bauzaun aufgestellt wurde, erschienen Männer in Zivil. Ihre Aufgabe war es offenbar zunächst, vor laufenden Fernsehkameras Solidarität mit den Anwohnern zu demonstrieren. »Sobald die Fernsehteams den Ort des Ge­schehens verlassen hatten«, berichtet eine Frau, »gingen sie mit Gewalt gegen uns vor.« Der Wach­schutz von der Baufirma verprügelte einen Mann so heftig, dass dieser mit Kopfverletzungen und einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus musste.
Am Morgen vor der Versammlung am Freitag ließ die Miliz zwei junge Männer ohne erkennbaren Vorwand festnehmen. Anschließend erschien der Chef des nächstgelegenen Polizeireviers und verlangte, mit der stellvertretenden Vorsitzenden der Anwohnervereinigung, Jelena Malyschewa, zu sprechen, die sich für alle hier einsetzt. Ihr droht die Festnahme, sobald sie auf dem Platz erscheint. Da sind sich die meisten der Anwesenden sicher. »Sie befindet sich im Moment in einer der Wohnungen in unserem Viertel und regiert aus dem Untergrund, wie einst Lenin.« Jelena Genrichowna, die diesen Gedanken ausspricht, lächelt und strahlt ein Selbstbewusstsein aus, wie es vielen russischen Frauen zueigen ist, die noch zu Sowjetzeiten sozialisiert wurden und in ihrem Leben so manche schwierige Situation gemeistert haben.
Viele der hier versammelten Anwohner sind Kämpfer wider Willen. Man sieht es ihnen an, nur wenige haben sich mit ihrer Rolle als Vorreiter einer neuen Bürgerprotestbewegung abgefunden oder darin gar eine neue Berufung gefunden. Aber Jelena Genrichowna hat schon im Zusammenhang mit den Märschen der Opposition, der so genannten Unzufriedenen, Kampferfahrung gesammelt und sieht in jedem Milizionär und jeder Ungerechtigkeit eine Herausforderung. »Alle kennen mich hier«, sagt sie stolz.
Plötzlich kommt eine kleingewachsene energische Frau mit grauem Dutt angerannt und fordert die Aufmerksamkeit der Versammelten. Das ist sie, die Frau aus dem Untergrund, die nach Meinung des Milizionärs eigentlich im Gefängnis sitzen sollte. Sie steigt auf eine Bank, wedelt mit einem Blatt Papier und verspricht eine Sensations­nachricht. Alle lauschen gespannt in Erwartung der bevorstehenden Rede.

»Eben habe ich mit dem Kosakenführer im ­Leningrader Gebiet telefoniert«, fängt sie an. »Er verspricht die Mobilisierung aller zur Ver­fügung stehenden Kräfte, wenn sich die Anwohner einverstanden erklären. Die Kosaken wollen mit einer 600köpfigen Reiterhorde in kompletter Ausrüstung einschließlich Säbel aufmarschie­ren!«
Jelenas stürmischer Auftritt sorgt für Jubel. Bei der mittlerweile auf etwa 40 Personen angewachsenen Unterstützergruppe aus dem anarchistischen Spektrum sorgt er jedoch für Missstimmung. »Sobald hier nationalistische Kosaken auftauchen, sind wir weg!« sagt ein junger Mann Anfang 20. Aber seine Worte überzeugen niemanden.
Vermutlich sind sich die politisch unerfahrenen Anwohner kaum darüber im Klaren, dass sie sich in ihrem Kampf gegen Behördenwillkür und Kapitalinteressen hervorragend dafür eignen, dass diverse Politiker ihr Image aufpolieren und sich profilieren können. Doch vor dem Hintergrund einer Bevölkerung, die durch die Folgen des staatlichen Paternalismus realsozialistischer Prägung zur Passivität erzogen wurde, repräsentieren sie eine neue soziale Kraft. Als zu Beginn des Jahres 2005 in ganz Russland Zehntausende auf die Straßen gingen, um gegen den weitgehenden Sozialabbau zu protestieren, versuchten politische Aktivisten aus unterschiedlichen Spektren, in die Proteste zu intervenieren oder diese gar anzuführen. Nach dem vielfachen Scheitern im postsozialistischen Russland, soziale Bewegungen von oben zu initiieren, wie dies beispielsweise die Kommunistische Partei oder eine Reihe kleinerer Parteien betrieben hatten, waren viele damals davon überzeugt, ein neues revolutionäres Subjekt sei endlich entstanden. Zwar ergaben sich aus den damaligen Protesten keine dauerhaft funktionierenden Strukturen, dafür entstanden in der Zwischenzeit an vielen Orten Gruppen, die gegen die wachsende Anzahl illegaler Bauvorhaben protestieren und die den Ansatz einer sozialen Bewegung bilden. Durch die sehr konkrete Zielsetzung und die lokale Anbindung an ein bestimmtes Objekt gestalten sich die Vernetzung und die Suche nach geeigneten Mitteln zur Lösung des Problems einfacher. Auch Anar­chisten und Antifaschisten sehen in der Zusammenarbeit mit diesen Gruppen eine Chance, ihre weitgehende politische Isolation zu überwinden und in reale Konflikte einzugreifen, anstatt um sich selbst zu kreisen.
Die allgemeine Begeisterung für säbelrasselnde Kosakenreiter teilen die Anarchisten und Antifaschisten definitiv nicht. Ohne lange zu zögern, schrei­ten sie zur Tat. Innerhalb von weniger als 20 Minuten stoßen sie die nach der letzten Aktion stehen gebliebenen Betonblöcke des Bauzauns um. Das ist ein Kraftakt sondergleichen. Die Blöcke sind an den Rändern zusammengeschweißt, aber die eingespielte Gruppe weiß offensichtlich genau, was sie tut, und bringt ihr Werk zu Ende, ohne dass jemand auch nur einen Kratzer abbekommt.
Bevor die Miliz mit ihren Einheiten erscheint oder, was schlimmer wäre, die Wachschützer der Baufirma, machen sich alle in Windeseile davon.