Räte, Politik und Kapital

Wo guter Rat teuer ist

Den Räten ist nicht eingeschrieben, ob sie als kapitalistisches Co-Management agieren oder ob sie nicht doch zu Organen der Zerstörung kapitalistischer Entfremdung taugen.

Vor ein paar Jahren moderierte der Autor dieser Zeilen eine Politveranstaltung, keine typisch linke, aber doch eine, in der es um unmittelbare Interessen von Bürgern ging. Nach den kurzen Referaten der Experten auf dem Podium kollabierte die Arbeitsteilung zwischen Podium und Publikum. Die Leute nahmen die Regie selbst in Hand: Sie diskutierten geistreicher, als es die Profiredner jemals hätten tun können, und schufen sich ihre eigene hektische, chaotische, aber doch flexible Redeordnung. Am Ende war jeder drangekommen.
Es ist nicht übertrieben, in dieser – persönlich übrigens desaströs wahrgenommenen – Veranstaltung die Geburt eines Sowjets vorweggenommen zu sehen. Die plötzliche Selbstermächtigung, die spontane Organisierung, die blitzhafte Erkenntnis, dass es keine Experten, keine Manager und keine Bürokraten braucht, sondern dass man das, was einen selbst und die Nachbarn oder Kollegen betrifft, am besten direkt und ohne Umschweife löst – das macht den Kern des revolutionären Rätesystems aus.
In diese Euphorie mischen sich schnell bittere Zweifel: Wie ist es möglich, die Regelung des alltäglichen Lebens nicht im endlosen Geschnatter der aufgeregt diskutierenden Sowjets zu vergessen? Was können wir tun, um die Verknöcherung zu verhindern, die Wiedergeburt der Bürokratie aus der erschöpften Euphorie?
Ernste Fragen, falsche Fragen. Denn sie betreffen das Verfahren der Entscheidungsfindung. Das Problem der internen Organisation des Rates lenkt aber von einem anderen ab: Was genau organisiert eigentlich der Rat? Wer die Verkümme­rung des Sowjets als das primäre Problem ansieht, nicht aber das soziale Verhältnis, dem er eine politische Form gibt, der antwortet auf Fragen der gesellschaftlichen Organisation von Arbeit und Austausch nur politisch-juristisch.
Was das bedeutet, illustriert eine überlieferte Begebenheit aus der russischen Oktoberrevolu­tion: Im Furor der Revolution sozialisierte ein Dorf-Sowjet den örtlichen Schuster. Der Mann sei Produzent und Eigentümer, also sei er die Verkörperung des Privateigentums, und dieses gehöre abgeschafft, kurzum: Der arme Kerl wurde verstaatlicht. Das klingt schrullig, beschreibt aber ein ernstes Problem: Besteht nicht die Gefahr, dass der Rat als ein gleichmacherisches, radikaldemokratisches Organ die realen Produk­tions­verhältnisse verschleiert? Dass er nicht die re­volutionäre Antwort auf die bürgerliche Demokratie ist, sondern nur ihre konsequente Fortsetzung?
Schauen wir auf Italien: 1920, das Jahr der Turi­ner Fabrikbesetzungen und der Arbeiterräte, der junge Antonio Gramsci ist ihr eifrigster Propa­gandist. Christian Riechers, der kritische Gramsci-Biograph, kommentiert lakonisch: »Gramscis Traum von der ökonomischen Autonomie der ›Produzenten‹ verwirklicht sich für eine Weile. Die Gewerkschaft, welche ›die Arbeiter nicht als Produzenten, sondern als Lohnarbeiter‹ (Gramsci) organisiert, scheint für einen Augenblick von der Szene zurückzutreten. Gramscis polemischer Einwand gegenüber [seinem Genossen Angelo] Tasca, dass der Rat ›in seinen höheren Formen dahin tendiert, dem vom Kapitalismus zu Profit­zwecken geschaffenen Produktions- und Tausch­apparat proletarische Züge zu verleihen‹, bewahrheitet sich jetzt. Die Arbeiter beweisen, dass sie auch ohne Aufsicht gut produzieren können. Darin liegt der ›proletarische Zug‹, der dem kapitalistischen Produktionsapparat verliehen wird. Das erzeugte Mehrprodukt eignen sie sich jedoch nicht an, sondern liefern es bei Ende der Fabrikbesetzungen dem Unternehmer aus.«
Ein unheimlicheres Beispiel ist aus dem deutschen Linksradikalismus bekannt: Die Rede ist von Heinrich Laufenberg und Fritz Wolffheim, zwei Hamburger Kommunisten, standhaften Anti­militaristen, hervorragenden Rätetheoretikern, lupenreinen Revolutionären im deutschen November 1918. Zwei Jahre später sind sie stramme Nationalbolschewisten. Sie beziehen, in Abgrenzung zum zentralistischen Politikmodell Lenins, den Begriff der Revolution auf das ganze Volk. In den basisdemokratisch verfassten Räten sei der Klassenausgleich endlich möglich, entstehe die eine große Gemeinschaft, in die Bürger und Proletarier ihr Wissen und ihre Fähigkeiten gleich­berechtigt einfließen lassen. Laufenberg und Wolffheim sind zunächst keine Proto-Faschisten, sondern radikale Jakobiner. Je mehr sie von Demokratie reden, desto mehr meinen sie »Volk« und »Gemeinschaft«.
Den Räten ist nicht eingeschrieben, ob sie, wie im Fall der Turiner Fabrikbesetzer, als de facto kapitalistisches Co-Management agieren, ob sie, wie im Fall des legendären russischen Dorf-Sowjets, die Produktionsbasis überhaupt negieren und ganz dem Voluntarismus seiner Delegierten verfallen oder ob sie nicht doch zu Organen der Zerstörung kapitalistischer Entfremdung tau­gen. Wem aber als Antwort auf die Probleme der sozialistischen Bewegung immer nur »der Rat« einfällt (modern ausgedrückt: Selbstverwaltung; Produzentendemokratie etc.pp.), ist ein Formalist. Marx hat das Gleichmacher-Ideal des basisdemokratischen Rechts, wie es sich in den Räten bahnbricht, in seinen »Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei« (1875) in einer Weise analysiert, die heute noch bestechend ist:
»Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist wie der andre; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit der Arbeiter als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht. Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn; aber die ungleichen Indi­viduen (…) sind nur an gleichem Maßstab mess­bar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichts­punkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite fasst, z.B. im gegebnen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts in ihnen sieht, von allem andern absieht.«
Verstehen wir uns nicht falsch: Es ist vorschnell, Räte als bloßen Ausdruck des Demokratiefetischs zu denunzieren. Als Element der Selbstermächtigung, als Medium der Erkenntnis, dass man selbst es ist, der das soziale Leben regelt, sind sie unsterblich. Aber die Selbstermächtigung hebt noch nicht die soziale Basis auf, aus der sie entstanden ist. Der Sowjet ist nicht das Primäre, son­dern das Sekundäre.
Hilft einem der Rätekommunismus bei der Frage nach dem jeweiligen Charakter der Räte wei­ter? Rätekommunisten kriegen einen wichtigen Teil der Realität zu fassen, wenn sie ihre Kritik da­rauf richten, dass der revolutionäre Charakter der Räte vor allem von außen zerstört wird – durch den Putsch autoritärer, »leninistischer« Kader einerseits, durch die Zersetzung dank kapitalkonformer, sozialdemokratischer Gewerkschafter und Funktionäre andererseits. Die Ursache dieses negativen Einwirkens leiten sie meistens recht simpel aus dem Stand der Produktionsverhältnisse ab, die Räte selbst bleiben für sie letztlich eine Black Box.
Die unübertroffene Stärke der Rätekommunisten – auf die Epoche nach der Oktoberrevolution bezogen! – ist ihre radikale Kritik der organisierten Arbeiterbewegung. Kein Wunder, denn viele Rätekommunisten waren selbst jahrelang fleißige Agitatoren in den Reihen der Sozialdemokra­tie. Außerhalb des Feldes der Organisationskritik verblasst der Rätekommunmus, und seine Pro­tagonisten begegnen uns als ultraorthodoxe Marxisten (Paul Mattick), freigeistige Architekturkritiker (Alexander Schwab) oder Industriemanager (Adolf Dethmann).
Wer den Rätekommunismus entdeckt, tut sich keinen Gefallen, ihn als Allheilmittel gegen die revisionistischen Generalverirrungen der Arbeiter­bewegung zu glorifizieren. Er ist ein begrenztes Phänomen. Aber ein lebendiges. Denn das Problem der Räte wird nicht gelöst, indem man darauf setzt, dass es den Lohnabhängigen an Klassenbewusstsein fehle, dass es folglich Intellektuelle brauche, die mit ihrem überlegenen Wissen jahrelanger »Kapital«-Schulungen den Besitzlosen einleuchten oder sie quasi-therapeutisch zu begleiten hätten und es im »richtigen Moment« auf die straffe politische Organisierung ankomme. Gegen diese Priesterideologie bleibt der Räte­kommunismus allemal heilsam: Insistiert er doch darauf – ohne eine wirklich befriedigende Antwort geben zu können –, dass das Problem der Räte nur in ihnen und durch sie selbst zu lösen ist. Die Selbstermächtigung der Leute mag fehlerhaft sein, ihre Unzulänglichkeiten werden aber garantiert nicht dadurch überwunden, dass auf dem Podium kein überforderter Moderator, sondern ein stählerner Leninist sitzt.