Ein Gespräch mit Denis Goldberg über den ANC, Apartheid und Revolution

»Es war keine sozialistische Revolution«

Weltweit wurde am Freitag voriger Woche der 90. Geburtstag von Nelson Mandela begangen. An den Feierlichkeiten in Deutschland beteiligte sich auch sein politischer Weggefährte Denis Goldberg. Gemeinsam mit Mandela und weiteren Mitstreitern vom ANC (African National Congress) stand Goldberg 1964 vor Gericht, weil er sich am bewaffneten Kampf gegen das Apartheid-Regime in Südafrika beteiligt hatte. Er ver­brachte 22 Jahre im Gefängnis und ging nach seiner Entlassung zunächst nach Israel, dann nach London ins Exil. Er lebt mitt­lerweile wieder in Kapstadt und ist nach wie vor Mitglied im ANC, der seit dem Ende der Apartheid die Regierung stellt. Goldberg berät verschiedene Ministerien. Er versteht sich selbst als Kommunist.

Wie haben Sie Nelson Mandela kennen gelernt?
Ich kenne Nelson Mandela seit 1962, als er eine Rundreise in Südafrika machte. Er war in Afrika, in England, und als er zurückkam, wollte er erzählen, was er erfahren und gelernt hatte. Es war ein geheimes Treffen, und er redete von den Möglichkeiten des bewaffneten Kampfes. Ich erinnere mich an meine Frage: »Was ist das Ziel unseres Kampfes?« Und er sagte: »Wir wollen gleiche Rechte haben. Das ist das Ziel.« Natürlich ging meine Frage tiefer: Geht es um Kapitalismus, Sozialismus? Was ist die eigentliche Politik des ANC? Es ging nur um gleiche Rechte. Es war keine sozialistische Revolution. Sozial ja, sozialistisch nicht.
Wie bewerten Sie als Kommunist die heutige Situation, gemessen an diesen darüber hinausgehenden Zielen?
Der ideologische Kampf geht weiter im ANC, jeden einzelnen Tag. Schon allein, weil es eine Allianz gibt von ANC, der Kommunistischen Partei und dem Dachverband der Gewerkschaften, Cosatu. Sie streiten über die Politik für bessere Arbeitsbedingungen und die Kontrolle des Marktes. Die Wirtschaft will einen freien Markt, die Regierung muss ihn kontrollieren. Es gibt viele staatliche Eingriffe, aber die eigentliche Kontrolle über die Wirtschaft ist in den Händen der großen Unternehmen. Manche der großen Unternehmen sind nun im Besitz von schwarzen Südafrikanern, oder kontrolliert von schwarzen Südafrikanern. Aber der Besitzer eines Unternehmens ist dazu da, Profit zu machen. Interessanterweise haben Länder wie China sehr enge Beziehungen mit Ländern in Afrika, einschließlich Südafrika. Wir brauchen ein special agreement, damit sie unsere Textilindustrie nicht vollständig zerstören. Dabei hat China angeblich eine kommunistische Regierung.
Wie stand Mandela zu den Kommunisten?
Er war niemals Mitglied der Kommunistischen Partei. Aber er hat später gelernt, dass die erste wirklich nicht-rassistische Gruppe die Kommunisten waren. Nach unserer Freilassung ist er Präsident geworden, und es ging um den Neuanfang der Kommunistischen Partei. Die Rechten haben gesagt: »Die Kommunisten sind gegen die Demokratie, wir müssen sie verbieten.« Mandela antwortete: »Wir haben zusammen mit den Kommunisten zu viele Opfer gebracht, als dass wir sie verbieten könnten.« Aber der Streit im ANC geht weiter, der ideologische Streit ist nie zu einem Ende gekommen, glücklicherweise.
Ende Mai gab es in Südafrika grausame Pogrome gegen Migranten. Wie würden Sie die Lage im Moment beschreiben?
Jetzt ist es ruhiger geworden. Ab und zu gibt es Probleme mit Kriminalität und Diebstahl. Es gibt einen Wettbewerb um knappe Ressourcen, eine Konkurrenz zwischen Südafrikanern mit kleinen Läden und Immigranten mit kleinen Läden. Was aber nicht in den Medien berichtet wurde, ist, dass auch Ausländer von ihren Nachbarn geschützt wurden.
Und die Regierung?
Die Regierung hat eine sehr standhafte Position eingenommen. Den Betroffenen ist geholfen worden, ihnen wurde für eine gewisse Zeit Essen und Zuflucht angeboten. Vielen wurde die Möglichkeit angeboten, nach Hause in ihre eigenen Länder zu gehen – zum Beispiel Mosambik. Aber sie wollen nicht gehen. Es gibt dort nichts für sie. Sie kamen nach Südafrika, weil es in ihren eigenen Ländern nichts für sie gibt, und es gibt sehr wenig für sie in Südafrika. Aber sie sind in Südafrika, weil es das am weitesten entwickelte Land in der Region ist. Sie hoffen darauf, Jobs zu finden, als Parkplatzwächter, ein bisschen Putzarbeit oder was auch immer sie bekommen können. Das ist eine sehr schwierige Situation.
Wir sind gegen Flüchtlingslager. Die Ausländer müssen in unsere eigene Bevölkerung eingegliedert werden, sonst werden sie immer Ausländer bleiben, immer Probleme haben. Ich habe in meiner lokalen Gemeinde gearbeitet, wo es große Armut und eine enorme Arbeitslosigkeit gibt. Es gibt ethnische Konflikte, und wir arbeiten dort an einem kulturellen Projekt, mit dem wir versuchen, ein Zusammengehörigkeitsgefühl herzustellen. Wir haben, ich muss die Sprache Südafrikas benutzen, arme Farbige, arme Schwarze und wohlhabende Weiße – alle in derselben Nachbarschaft. Und es ist nötig einzusehen, dass wir zusammenarbeiten müssen und versuchen, Arbeitsplätze zu schaffen.
Was halten Sie für die Gründe der Gewalt und welche Rolle spielt dabei die staatliche Migrationspolitik?
Lassen Sie es mich ein bisschen anders beantworten. Ich denke, das schlimmste Erbe der Apartheid ist, dass wir eine Verwaltung hatten, die den Bedürfnissen von ungefähr fünf Millionen Weißen diente und den Rest der Bevölkerung unterdrückte. Nun müssen wir den Bedürfnissen von 50 Millionen Menschen gerecht werden. Und unsere Verwaltung ist nicht fähig, die Politik der Regierung in die Tat umzusetzen. Es wird zwei weitere Generationen dauern, bis das überwunden ist. Wir haben jetzt eine halbe Generation lang Freiheit, 14 Jahre. Ich glaube, 50 Jahre nach 1994 wird der richtige Zeitpunkt sein, um uns selbst zu überprüfen.
Sehen Sie, wir haben anderthalb Millionen Häuser gebaut. Währenddessen sind die Menschen massenhaft vom Land in die Städte gezogen. Wir müssen also eine weitere Million Häuser bauen. Wir dachten wirklich, eineinhalb Millionen wären genug. Die Wasserversorgung ist schwierig, das Abwassersystem ist mangelhaft. Ich lebe in Kapstadt, einer Stadt mit einer Bevölkerung von vielleicht drei Millionen Menschen. Und es heißt, knapp eine halbe Million Menschen kommt jedes Jahr dazu.
Die Medien in Deutschland vermitteln, dass Südafrika eine sehr gewalttätige Gesellschaft ist. Was denken Sie darüber?
Ich denke, es gibt bei uns viel kriminelle Gewalt. Ja, wir sind aus einer gewalttätigen Gesellschaft gekommen, in der menschliches Leben nicht viel wert war. Das ist auch ein Erbe der Apartheid. Viele junge Leute, die unter der Apartheid lebten, haben keine Zukunft, sie sind nicht gebildet, es sind Straßenkinder. Für sie ist die einzige Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, Gewalt und Kriminalität. Unsere communities sind durch die Gewalt eingeschüchtert. Aber das Leben geht weiter. Überall in Südafrika gibt es Baustellen, in jeder Stadt, in jedem Ort, im ganzen Land. Die Bauarbeiten gehen voran. Der Eindruck, den man in Deutschland bekommt, ist nicht der Eindruck, den ich habe. Und ich möchte Ihnen sagen, dass ich wirklich denke, dass man in Europa ein Bild von Afrika hat, demzufolge es immer noch der »dunkle Kontinent« von dunklen, geheimnisvollen, kriminellen Menschen ist. Das macht mich wütend. Weil es heißt, im schlimmsten Sinne von »Deutschland über alles«: »Wir in Deutschland, wir wissen alles.« Ihr wisst viel, und ihr habt uns viel zu bieten. Eure Architekten und Ingenieure leiten uns an beim Bau der Stadien für die Fußballweltmeisterschaft 2010. Wir brauchen diese Hilfe, wir brauchen sie wirklich. Aber zu denken, dass ihr alles seid, das ist ein bisschen arrogant. Es belastet mich, wenn ich diese negative Berichterstattung lese. Es gibt Leute hier, die eine regelrechte Kampagne führen und uns die Fußballweltmeisterschaft 2010 wegnehmen wollen.
Was ist Ihre Rolle heutzutage, welche Aufgabe versuchen Sie zu erfüllen?
Rassismus ist ein weltweites Phänomen. Ich bin nicht privilegiert in diesem Kampf, aber ich habe die Möglichkeit, andere Menschen in vielen Ländern davon zu überzeugen, wie wichtig dieser Glaube an die Gleichberechtigung der Menschen ist.
Sie gehen, obwohl Sie 75 Jahre alt sind, unter anderem auch regelmäßig in Schulen, um den Kindern von der Apartheid zu erzählen. Wie lange wollen Sie das noch weitermachen?
Solange ich die Kraft dazu habe und gesund genug bin. Für die Eltern insbesondere der schwarzen Kinder in Südafrika ist es nicht einfach, den eigenen Kindern zu erklären, wie sie früher jeden Tag in ihrer Menschenwürde gedemütigt wurden. Sie müssen ihre eigene Erniedrigung erklären. Und das ist nicht einfach.
Ist es denn schwierig, als Weißer zu den schwarzen Kindern über diese Sache zu sprechen?
Nein. Sie müssen lernen, dass sich immer auch Weiße am Kampf gegen Rassismus in Südafrika beteiligt haben.