Al-Qaida im Irak und in Afghanistan

Jihad im Hafen

Im Irak ist die Terrororganisation al-Qaida in eine Krise geraten. Jetzt droht sie sich am zweiten Hauptschauplatz des War on Terror, in Afghanistan, zu reorganisieren.

Ankündigungen wie die von al-Qaida im Irak aus dem Jahre 2006, man werde den Krieg in dem Land schneller gewinnen als erwartet, sucht man heutzutage vergebens. Die Zeiten sind vorerst vorbei, als sich große Teile des Zentralirak unter direkter oder indirekter Kontrolle der Jihadisten befanden, täglich Dutzende Irakis und Koalitions­soldaten ums Leben kamen und auch in den USA sich jene Stimmen mehrten, die den Krieg im Irak verloren gaben.
Wie dramatisch sich die Situation für al-Qaida präsentiert, demonstrieren eindrücklich Äußerungen hoher Führer der Organisation. In einem Interview mit der qatarischen Zeitung al-Arab klagte Kommandant Abu Turab Al-Jaza’iri im Februar: »Es stimmt, dass wir uns aus vielen Städten zurückziehen mussten, nachdem sunnitische Stammesführer den Islam verraten haben, als ihre Mitglieder sich den gegen uns kämpfenden Kräften anschlossen.« Zugleich kritisierte er in erstaunlicher Schärfe jene Anschläge der Organisation, die sich vornehmlich gegen irakische Zivilisten gerichtet hatten. Man sei allerdings keineswegs geschlagen, und der Kampf gehe weiter. Auf der anderen Seite fingen irakische Sicherheitskräfte den Brief eines anderen al-Qaida-Kommandeurs aus dem sunnitischen Dreieck ab, der resigniert feststellte, dass von seinen einst 600 Mitkämpfern alle, bis auf gerade mal 20, zu den auf Seiten der irakischen Regierung kämpfenden Stammesverbänden übergelaufen seien.
In seltener Einmütigkeit erklären auch Jiha­dis­mus-Experten wie der amerikanische Pulitzer­preisträger Lawrence Wright, CIA-Chef Michael Hayden und Offiziere des US-Militärs, dass die große Zeit von al-Qaida im Irak zumindest vorläufig vorbei sei. Gelinge jetzt, da die überwiegende Mehrzahl sunnitischer Parteien und Stammesorganisationen auf der Seite der irakischen Regierung ständen, eine politische und wirtschaft­liche Stabilisierung des Landes, könne die irakische al-Qaida sukzessive zurückgedrängt werden.

Aber die Krise des Jihadismus beschränkt sich nicht auf militärische Niederlagen alleine. Vielmehr haben sich in der jüngsten Zeit einige der ehemaligen Gründungsväter des Netzwerks nicht nur öffentlich von den Methoden der Führung um Ussama bin Laden und Ayman al-Zawahiri ab­gewendet, sondern auch scharfe Kritik am Konzept des militanten Jihadismus geübt. Dass es sich dabei um Leute wie Sayyid Imam al-Sharif alias Dr. Fadl, der neben Zawahiri als intellektueller Vordenker der al-Qaida gilt, und um den ehemaligen Führer der Libyan Islamic Fighting Group, Noman Benotman, handelt, macht die Sache so brisant. Beide sind weder Demokraten noch Freunde des Westens, sondern verharren in einem geschlossen islamistischen Weltbild.
So verfasste Dr. Fadl in einem ägyptischen Gefängnis auch eine 200seitige Kritik an Ussama bin Ladens Heiligem Krieg. Mit koranischer Gelehrsamkeit stellt Fadl nicht nur die religiöse Autorität bin Ladens in Frage, sondern, so Lawrence Wright in der Schweizer Weltwoche: »Er formuliert die Regeln für den Jihad neu und legt sie extrem eng aus. Nichts im Islam erlaube, (…) dass das Ziel die Mittel heilige. Weder Christen noch Juden dürften umgebracht werden, außer wenn sie Muslime aktiv angriffen. Außerdem sei es unehrenhaft, wenn Muslime, die in nichtislamischen Staaten leben, ihre Gastgeber betrügen und attackieren.« Fast gleichzeitig verabschiedete auch noch ein Komitee der muslimischen Deobandi-Sekte, auf deren radikale Auslegung des Islam sich sowohl al-Qaida als auch die Taliban berufen, einen Text, in dem Terrorismus als unislamisch verurteilt wird.
Nicht nur im Irak, auch in Saudi-Arabien muss­te al-Qaida in den vergangenen drei Jahren schwe­re Verluste hinnehmen. Schwankten einflussreiche Teile des saudischen Establishments lange zwischen Appeasement und offener Sympathie mit den Gotteskriegern, so setzten sich, auch auf Druck der USA, jene Prinzen durch, die in al-Qaida vor allem eine Gefahr ihrer Herrschaft sahen.
Die Krise von al-Qaida sollte aber kein Grund sein, jetzt Entwarnung zu geben, meint der Terror-Experte Peter Bergen. Das Netzwerk warte nur darauf, sich im Nahen Osten zu reorganisieren. Viele der dezentral organisierten Terrorgruppen kümmerten sich zudem wenig um ideologische Debatten auf höchster Ebene. Mag auch der Versuch gescheitert sein, im Irak oder in Saudi-Arabien die Macht zu übernehmen, sind die Ursachen des Terrors nicht aus der Welt geschafft. Weiterhin regieren im Nahen Osten korrupte und despotische Regimes, deren einzige Legitimität auf Repression und Verteilung von Ölrente fußt. In all diesen Ländern machen Jugendliche, denen jede Perspektive fehlt, die Mehrheit der Bevölkerung aus, und gerade an diese Gruppe richtet sich gezielt die Propaganda der Jihadisten. Solange die grundlegenden und strukturellen Probleme der Region nicht gelöst werden, werden islamistische Organisationen sich über Mangel an Zulauf nicht beklagen müssen.

Während im Irak einige Zeichen darauf hinweisen, dass die Lage sich beruhigen könnte, reorganisiert sich al-Qaida offenbar am zweiten Hauptschauplatz des War on Terror, in Afghanistan. Im Juni starben dort erstmals seit Jahren mehr US-Soldaten als im Irak. Gezielt warben jihadistische Internetseiten in den vergangenen Wochen um Freiwillige für den Einsatz in Afghanistan. Mit dem Antritt einer neuen Regierung in Pakistan verschärft sich die Lage in den »Selbstverwalteten Stammesprovinzen« im Nordwesten des Landes, wo lokale Taliban-Krieger unter Führung von Baithullah Mehsud zunehmend an Einfluss gewinnen und Operationen über die afghanische Grenze hinaus koordinieren. Erst kürzlich drohte der afghanische Präsident Hamid Karzai, sollte Pakistan dies nicht unterbinden, werde er Einheiten der afghanischen Armee über die Grenze schicken. Während al-Qaida von ihren alten Beziehungen zu den überwiegend paschtunischen Taliban profitieren kann, sind die Gotteskrieger in anderen Teilen Afghanistans alles andere als beliebt. So stellte die Welthungerhilfe, der sicher keine Sympathien für den War on Terror nachgesagt werden können, in einem kürzlich veröffentlichten Bericht fest: »Die Menschen vor Ort wollen Sicherheit, Entwicklung und in Frieden selbstbestimmt leben.« Sie unterstützten die seit 2001 eingeleitete »gesellschaftliche und politische Veränderung«.
Wenn US-Präsidentschaftskandidat Barack ­Oba­ma allerdings erklärt, der Irak lenke lediglich vom Hauptschauplatz des Krieges gegen al-Qaida ab, liegt er falsch. Denn dieser lag nie in Afghanis­tan. Auch wenn bin Laden eine enge Koopera­tion mit den radikalislamischen Taliban eingegan­gen war, betrachteten weder er noch andere Führer von al-Qaida die Region als zentral für ihren Jihad. Ziel war es vielmehr immer, das Herz der arabischen Welt, also Saudi-Arabien und später den Irak, zu erobern. Trotz Beschwörung der islamischen Umma, gepaart mit dem organisatori­schen Talent, lokale jihadistische Gruppen aus Asien, Afrika und Europa in das globale Netzwerk zu integrieren, setzt sich die militärische und ideologische Führung von al-Qaida noch immer vornehmlich aus Arabern zusammen.
Wenn al-Qaida sich nun erneut Afghanistan zuwendet, scheint dies eher ein Zeichen der Schwäche zu sein, die militärisch und politisch auszunutzen ist. Denn wie Erich Marquard, Mitarbei­ter des »Combating Terrorism Center« richtig feststellte, denkt al-Qaida global. Rückschläge im Irak können zu einem Rückgriff auf alte Strategien führen, nämlich sich im unwegsamen afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet safe havens zu schaffen, um von dort neue Anschläge im Nahen Osten und im Westen zu planen.