Zeitgenössische Kunst in Südtirol bei der Kunstbiennale Manifesta

Documenta mit Tirolerhut

Die Manifesta in der idyllischen Alpenregion Trentino-Südtirol ist eine Art Event der Superlative.

Was ist in der Manifesta drin? Die Künstler denken über Europa nach, zum Beispiel wie es ist, wenn es in einem Land mehrere Sprachen gibt, und dann machen sie etwas Schönes daraus.« So erklärt Hedwig Fijen, die Direktorin der Manifesta-Stiftung, in einem begleitenden, speziell an Kinder gerichteten »Work­­­book« die Mammut-Ausstellung in der Alpenregion. Viele der BesucherInnen, die wie der Ochs vorm Berg vor den gigantomanischen Ausmaßen der weltweit drittbedeutendsten zeitgenössischen Kunstschau stehen, sehnen sich vermut­lich auch nach einem so beruhigend simplifizierenden Überblick. Die Angaben, wie viele Artists denn nun tatsächlich geladen wurden, schwanken von 188 (offiziell) über 230 (für diePresse geschätzt) bis zu 400 (vom Publikum gefühlt) – Documenta und Venedig Biennale, die beiden Erstplatzierten im Kunstbedeutungsfeld, hatten im vergangenen Jahr zusammengenommen nur 250.
Verifizierbar aber ist, dass die Manifesta, die zuvor im Zweijahresrhythmus in Rotterdam, Luxemburg, Ljubljana, Frankfurt und San Sebas­tian abgehalten worden war und vor zwei Jahren in Nicosia/Zypern grandios scheiterte, dieses Jahr zum ersten Mal an vier Orten entlang einer 150 km langen Nord-Süd-Achse stattfindet: in Franzensfeste, Bozen, Trient und Rovereto.
Die drei kuratorischen Teams – Adam Budak (Graz/Krakau), Anselm Franke/Hila Peleg (Berlin/Antwerpen/Tel Aviv) und das Raqs Media Collective (New Delhi) setzten in der Auswahl der Lokalitäten nicht auf die umwerfenden land­schaftlichen Schönheiten der Ferienregion, die zahllosen Deutschen durch Wandertouren mit den Eltern oder das Durchbrettern in Richtung Süden bekannt sind, sondern bevorzugen alternative, weniger pittoreske Örtlichkeiten. So wird in Bozen das seit 2004 unter Denkmalschutz stehende Alumix, ein 1936 unter Mussolini errichtetes rationalistisches Aluminium-Werk, durch das die Rüstungsindustrie beliefert und die mehrheitlich deutschsprachige Region durch den Zuzug (süd)italienischer Arbeiter italianisiert werden sollte, vom Raqs Media Collective unter dem Motto »The Rest of Now« bespielt. In Trient, wo Franke und Peleg mit dem von einer Zeichnung Sergej Eisensteins entlehn­ten Motto »The Soul or Much Trouble With the Transportation of Souls« an die Umwälzungen des Konzils von Trient im 16. Jahrhundert erinnern, das als katholische Antwort auf die Reformation erstmals eine Konzeptualisierung eines »inneren Selbst« formulierte, kommt mit dem Palazzo delle Poste des faschistisch-futuris­tischen Chef-Architekten Angiolo Mazzoni ein weiterer Bau des Rationalismus zum Einsatz. Adam Budak beruft sich in Rovereto, mit seinen 35 000 EinwohnerInnen bis dato kleinster Austragungsort einer Manifesta, mit einer alten Tabakproduktionsstätte, einer ehemaligen Kakaofabrik und einem Teil des Bahnhofs auf Ernst Blochs »Prinzip Hoffnung« und Ken­neth Framptons »Kritischen Regionalismus«. Die Franzensfeste, eine 1838 von der österreichischen Monarchie fertiggestellte massive Festung, die als Reaktion auf einen Hinterhalt in den Napoleonischen Kriegen den Nord-Süd-Durchgang sichern sollte, letztlich aber nie angegriffen wurde, ist der einzige Ausstellungsort, der von allen drei Teams gemeinsam kuratiert wurde. Motto hier, ganz schlicht: »Scenarios«.
Bereits die Gründung der postuniversitären Forschungsinstitution Eurac und der dreisprachigen Universität Bozen, die Installation des Museums für moderne Kunst (Mart) in Rovereto sowie zuletzt im Mai die Eröffnung des über 30 Millionen Euro teuren, repräsentativen Klotzes des Museion direkt am Ufer der Talfer machen klar, wohin die Reise in der dreisprachigen, wirtschaftlich überaus prosperierenden autonomen Region Trentino-Südtirol gehen soll: Die biederen deutschen Gamsbarthut-Fans, die von der ursprünglichen Trachten-Folklore und Speckknödeln schwärmen, hat man schon lange im Sack, jetzt will man auch noch den hoch­preisigen Kulturtourismus-Sektor erschließen. Dass das mit dem entstaubten Image noch nicht so ganz klappen möchte, beweisen vorerst die provinzpossenhaften Ereiferungen rund um den mit einem Bierkrug an ein Kreuz genagelten Frosch Martin Kippenbergers, der mittlerweile im Erdgeschoss des Museion peinlicherweise durch ein Plakat mit Presseberichten zugehängt ist. Landesfürst Luis Durnwalder, der im Mai noch die Entfernung des Froschs verlangte, weil er die Gefühle der »zu 99 Prozent katholischen Bevölkerung« verletzen könne, spricht sich im Geleitwort des Manifesta-Katalogs nun für eine »Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen künstlerisch-intellektuellen Hervorbringungen« aus, »der manche sich nicht gerne stellen« würden.
Ob sich das mit der überaus heterogenen, einen in ihrer Vielfalt und Masse fast erschlagen­den Super-Schau – wer hat eigentlich Zeit und Muße für sechs Ausstellungsorte in vier Städten, ganz zu schweigen von den zahllosen Rahmenveranstaltungen und Parallel-Events, und Videos von 100 Minuten Länge? – ändern wird, ist fraglich. Auch wenn Kurator Anselm Franke im Online-Kunstmagazin Artnet zu Protokoll gibt, die Zeiten des »anything goes« und der »postmodernden Rhetorik der fluktuierenden Zeichen« in der Kunst seien vorbei, denn es müsse »kraft der Metaphorisierung« wieder »um etwas gehen«, erschließt sich durch die vollgestopfte Ausstellung nicht ganz, was dieses »etwas« sein könnte.
Diese Offenheit, die auch durch die Einbindung international kaum bekannter regionaler KünstlerInnen sympathisch unterstrichen wird, ist so Chance und verpasste Chance zugleich. Wenn in den kahlen Räumen der Franzensfeste nur Soundinstallationen gelesener Texte von Thomas Meinecke, Saskia Sassen, Renee Green, Arundhati Roy u.a., die sich mit dem Warten auf den Angriff auseinandersetzen, sowie stum­me Videofilme – eine der berührendsten Arbeiten der Manifesta ist hier sicherlich Harun Farockis montierte und kommentierte Footage aus dem niederländischen Übergangs-KZ Wester­bork – präsentiert werden, wird so ein konventionelles »Kunst«-Verständnis sicherlich produktiv herausgefordert – wie auch durch die Projektion einer »Night Lecture« der Mobile Aca­demy mit Kulturwissenschaftler Joseph Vogl an die Außenwand des Palazzo delle Poste.
Die stickigen, labyrinthartigen Gänge und Zim­merchen des Postpalastes in Trient, die gleich zum Auftakt mit der Kirchenfensterkunst von Bernd Ribbeck irritieren, wollen dabei zu viel. Die interessant projektierten fünf Minimuseen, wie das Museum der Projektiven Persönlichkeits­tests oder die Hommage an den italienischen Psychiatrie-Kritiker Franco Basaglia, kippen in dem Moment, in dem das Museum der Europäischen Normalität den eurozentristischen Ethnologie-Blick auf derart banale und blauäugige Weise einfach in sein Gegenteil verkehrt, so dass die notwendige Reflexion nur noch als langweiliger Gag figuriert.
In der Manifattura Tabbachi in Rovereto bleibt den einzelnen Werken mehr Luft zum Atmen, wodurch, vor allem im großzügigen Hof, auch auf Showeffekte gesetzt werden kann – gelungen wie bei der großformatigen Flickenteppich-Installation von Fabrics Interseason, etwas bemüht unterhaltsam bei der Ballon-Ansammlung von Ricardo Jacinto, mit der die BesucherInnen immerhin einen halben Meter vom Boden abheben können. Am stimmigsten wirkt letztlich die große Halle des Alumix, in der sich das Raqs Media Collective wieder als Archäologin der Gegenwart hervortut und u.a. mit Arbeiten von Teresa Margolles, Kateøina Šedá und Graham Harwood glänzt.
Als Souvenir bleibt neben den vielen Äpfeln, die vom Land großzügig als regionales Markenzeichen verteilt werden, ein vielschichtiges Kunst-Event, bei dem paradoxerweise haupt­säch­lich die spektakulären, untypischen Austra­gungs­orte in der Erinnerung haften werden.

Die Manifesta, eine der wichtigsten Biennalen für zeitgenössische Kunst in Europa, findet alle zwei Jahre statt und ist eine Wanderbiennale, die jedes Mal an einem anderem Ort stattfindet. Bisher wurde die Großveranstaltung in den Städten Rotterdam, Luxemburg, Ljubljana, Frankfurt und San Sebastian abgehalten. Die Manifesta 7 dauert bis 2. November.