Auffälligkeit als Tarnung. Wer beschützte Radovan Karadzic?

Vom Feldherrn zum Eso-Guru

Nach der Verhaftung des mutmaßlichen serbischen Kriegsverbrechers Radovan Karadzic stellt sich die Frage, wer ihn 13 Jahre lang beschützte. Die geringe Beteiligung an Solidaritätsdemonstrationen belegt aber, dass der Nationalismus in der serbischen Gesellschaft schwächer wird.

Auffälligkeit ist manchmal die beste Tarnung. In den achtziger Jahren flohen Bankräuber in Rio de Janeiro einmal mit einem laut hupenden Feuerwehrauto vom Tatort. Die Polizeisperren durch­querten sie mühelos. Einen ähnlichen Gedanken muss Radovan Karadzic gehabt haben, als er nach dem Ende des Bosnienkrieges 1996 in den Untergrund abtauchte.
Statt sich in einem orthodoxen Kloster im unzugänglichen Gebirge in Montenegro zu verbergen oder in ein geheimes Exil in Russland zu flüch­ten, wie jahrelang gemutmaßt wurde, siedelte der ehemalige Präsident der bosnischen Serbenrepublik einfach in die serbische Hauptstadt Belgrad über. Der vom Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zur Fahndung ausgeschriebene, meist­gesuchte Mann Europas wohnte jahrelang als Untermieter in einem Neubauviertel im Plattenbau.

Auch wenn seine Wohnung unscheinbar war, verhielt er sich ganz und gar nicht unauffällig. Die lange graue Haarmähne band sich der 63jährige zu einem Zopf zusammen. Mit seinem Vollbart sah er aus wie ein kauziger alter Hippie. Als »Dr. Dragan Dabic« verdiente er sein Geld als esoterischer Wunderheiler. Für die Zeitschrift Gesundes Leben schrieb der frühere Psychiater Artikel über Meditation und Bioenergie. Trotz der Metamorphose vom Feldherrn zum Guru verleugnete Karadzic seine politische Gesinnung nicht. In seiner Stammkneipe philosophierte er bei einem Glas Rotwein oft über das Unglück der Serben, erzählt die Kellnerin. Der camouflierte Rado­van soll sich dabei gerne unter sein eigenes Portraitfoto aus Kriegszeiten gesetzt haben. Dieses hängt in der Kneipe neben den Abbildungen anderer serbischer Helden über dem Tresen. Die Gast­stube trägt ihren Namen »Irrenhaus« offenkundig nicht zu unrecht.
Je mehr bizarre Details über die fast 13jährige Flucht von Radovan Karadzic gegenwärtig ans Tageslicht kommen, desto unglaublicher scheint die ganze Affäre. Kein Wunder also, dass sich die Belgrader Boulevardpresse mit immer neuen Enthüllungen überschlägt. Der Fall stellt indes auch eine bedeutende politische Zäsur dar. Die Ver­haftung und ihre Folgen werden in den kommenden Wochen noch für viele Turbulenzen sorgen.
Eine wichtige Frage lautet, wer Karadzic über all die Jahre beschützt hat. Denn trotz der gelungenen Tarnung scheint es unmöglich, dass der mutmaßliche Kriegsverbrecher ohne ein weit ver­zweigtes Netz von Helfern und Helfershelfern auskam. Nachdem die Fahndung lange Zeit vernachlässigt worden war, weil durch eine Verhaftung politische Unruhen befürchtet wurden, waren dem Untergetauchten in den vergangenen Jahren Dutzende von Geheimdiensten auf den Fer­sen. Die US-Regierung versprach fünf Millionen Dollar Belohnung für Hinweise auf seinen Aufent­haltsort. Bereits im Juli 2005 forderte Karadzics Ehefrau Ljiljana ihren Mann unter Tränen per Fern­sehübertragung auf, sich zu stellen. Sie und die Familie könnten den »permanenten Druck von allen Seiten« nicht mehr aushalten.

Die meisten Beobachter in Serbien sehen im Regierungswechsel den Hintergrund für die Vorgänge. Die Verhaftung erfolgte am Montagabend vergangener Woche nur wenige Tage nach dem offiziellen Abtreten des bisherigen Premierministers Vojislav Kostunica von der national-konservativen Demokratischen Partei Serbiens (DSS). Mit Kostunica ging auch der ihm eng verbundene bisherige Geheimdienstchef Rade Bulatovic in Pen­sion. Seit Anfang Juli regiert nun eine Koalition der liberalen Demokratischen Partei (DS) mit der kürzlich ins pro-europäische Lager konvertierten Sozialistischen Partei (SPS). Diese versucht, sich vom Erbe ihres na­tio­nal­popu­lis­ti­schen Gründers Slobodan Milosevic zu lösen und ein neues, »modernes« sozialdemokratisches Profil zu gewinnen.
Der Sicherheitsexperte Dejan Anastasijevic gibt eine verbreitete Meinung wieder, wenn er sagt, mit dem Abgang von Kostunica sei auch der Schutz für Karadzic nicht mehr vorhanden ge­wesen. »Der neue Geheimdienstchef Sasa Vukadinovic hat vorgestern sein Büro bezogen. Wichtiger ist allerdings, dass zuvor einige Leute gegangen sind, die bisher die Verhaftung verhindert haben«, erklärt der Redakteur der liberalen Zeitschrift Vreme bereits einen Tag nach der Festsetzung Karadzics. Sollte sich Anastasijevics Vermutung bewahrheiten, könnte dies strafrechtliche Konsequenzen für Kostunica haben.
Wundern würde das in Serbien niemanden. Denn Kostunica machte nie einen Hehl daraus, dass er den Kampf der bosnischen Serben aus ganzem Herzen befürwortete. Der im Westen lange als »Demokrat« gelobte Verfassungsjurist stand während der Kriege der neunziger Jahre stets im Lager der rechtsnationalistischen Opposition, die Milosevic beschuldigte, bei der Unterstützung von Karadzic und seinem Militärkommandanten Ratko Mladic nicht konsequent genug zu sein. In den vergangenen Tagen bestand die bisher einzige Reaktion Kostunicas bezeichnenderweise darin, die Legitimität des Haager Tribunals in Zweifel zu ziehen.
Die Vermutungen über eine direkte Protektion Karadzics durch die bisherige politische Führung in Serbien können aber bislang nicht als be­wiesen gelten. Es gibt auch Gegenstimmen. Dragan Bujosevic vom konservativen Wochenjournal NIN erklärt beispielsweise, dass die Vorbereitung der Verhaftung »wahrscheinlich bereits unter der Regierung von Vojislav Kostunica« begonnen habe. Bujosevic vermutet allerdings auch, dass Karadzic von Angehörigen des staatlichen Sicherheitsapparats verhaftet wurde, die ihn zuvor beschützt hätten.
Wer auch immer die Helfer Karadzics gewesen sein mögen, überraschend ist in jedem Fall die zurückhaltende Reaktion der Bevölkerung. Bis auf ein paar hundert Hooligans aus dem Umfeld der klerikalfaschistischen Jugendorganisation Obraz (Ehre) ging niemand aus spontaner Empörung auf die Straße. Die Serbische Radikale Partei (SRS) führte am Dienstag dieser Woche zwar eine größere Demonstration durch. Wie schon nach der Abspaltung des Kosovo im vergangenen Februar zeigt sich aber, dass nationalistische Massenproteste nur noch die Sache einer Minderheit sind.

Ganz wesentlich hat dazu eine Entwicklung beigetragen, die in der stereotypen Berichterstattung der westlichen Medien kaum wahrgenommen wird. Denn in der serbischen Gesellschaft verblasste in den vergangenen Jahren die Aura der selbsternannten Kriegshelden. Es zeigt sich, dass der Nationalismus nicht das Resultat einer pathologischen Entwicklung der serbischen Gesellschaft, sondern vor allem ein politisch erzeug­tes Gefühl ist. Selbst unter Kriegsveteranen wird kaum noch in Frage gestellt, dass serbische Militärs Kriegsverbrechen begangen haben. So erklärt beispielsweise der Präsident des Veteranenverbandes im Belgrader Industrievorort Obrenovac der Jungle World: »Der Krieg war furchtbar. Es ging ums Morden. Ich bin für die Bestrafung von Kriegsverbrechen.« Er war selbst unter dem Kommando des Paramilitärführers Arkan in Kroatien, Bosnien und Kosovo im Einsatz.
Solche Stimmen sind keine Einzelmeinungen. Im Gegenteil: Je mehr in Serbien nach jahrelanger Medienblockade und verordnetem Schweigen über die Grausamkeit des Bosnien-Kriegs bekannt wird, desto deutlicher fällt die emotionale Distanzierung von den selbsternannten Kriegshelden aus. Darauf weist auch der Belgrader Sonderstaatsanwalt für Kriegsverbrechen, Vladimir Vukcevic, hin. In einem Gespräch mit der Jungle World erklärte er kürzlich, die Arbeit seiner Behörde werde zunehmend respektiert. Das Sonder­gericht für Kriegsverbrechen hat seit seiner Gründung vor fünf Jahren immerhin 125 Urteile gesprochen. Dabei wurden auch hohe serbische Offiziere zu langen Haftstrafen verurteilt.
Der in den kommenden Monaten bevorstehende Prozess gegen Karadzic vor dem Tribunal in Den Haag ist eine Chance, die beginnende Auseinandersetzung mit Kriegsverbrechen in den ehemals jugoslawischen Republiken weiter zu ver­stärken. Mit Karadzic steht jetzt der führende bosnisch-serbische Politiker vor Gericht, der in der ersten Hälfte der neunziger Jahre offen zu »ethnischen Säuberungen«, Mord und Totschlag an den Muslimen aufgerufen hat. Karadzic trägt eine Hauptverantwortung für den Krieg in Bosnien, bei dem nach seriösen Schätzungen zwischen 1992 und 1995 über 100 000 Menschen getötet wurden, davon etwa zwei Drittel bosnische Muslime.
Im Gegensatz zu Milosevic, der sich trotz nationalpopulistischer Stimmungsmache rassistischer Äußerungen stets enthielt, stellte sich Karadzic ganz offen in die Tradition der monarchistischen großserbischen Tschetnik-Bewegung. Antikommunismus hat der Handwerkersohn aus Montenegro bereits in der Kindheit eingeübt. Sein Vater kämpfte im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Tschetniks gegen die Partisanen. Nach dem Sieg der Kommunisten saß er nach 1945 fünf Jahre lang im Gefängnis. Wie Karadzics nationalistische Gedichte zeigen, die er bereits als Jugendlicher schrieb, hinterließ das väterliche Erbe einen prägenden Eindruck bei ihm.
Soll der anstehende Prozess gegen Karadzic zu einer dauerhaften Versöhnung auf dem Balkan beitragen, muss das Haager Tribunal allerdings auch die Prozesse gegen nicht-serbische Kriegsverbrecher ernsthafter führen als bisher. Die skan­dalösen Freisprüche für den UCK-Kommandanten Ramush Haradinaj im April und den bosnisch-muslimischen Paramilitär Naser Oric Anfang Juli unterminieren die selbstkritische Öffnung der serbischen Gesellschaft. In beiden Prozessen war es vor allem die Nachlässigkeit der Staatsanwaltschaft und des Gerichts in Den Haag, welche die Freisprüche aus »Mangel an Beweisen« ermög­lichte. Auf Seiten der Kosovo-Albaner und bosnischen Muslime führten sie zu völlig unangebrachten Triumphgefühlen.