Der Machtkampf in der Türkei geht weiter

Der Berlusconi vom Bosporus

Verboten wurde die konservativ-islamische AKP vom türkischen Verfassungsgericht nicht, doch der Machtkampf mit der kemalistischen Oligarchie dauert an.

Eine »ernsthafte Warnung« sollte dieses Mal noch genügen. Als der Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Hasim Kilic, am Mittwoch der vergange­nen Woche verkündete, Tayyip Erdogans AKP werde nicht verboten, betonte er auch, dies sei nicht als Freispruch zu werten. Doch seien die antisäkularen Aktivitäten nicht so gefährlich, dass sie ein Verbot rechtfertigten.
Ein großer Teil der türkischen Bevölkerung war erleichtert, immerhin hatten 46,5 Prozent die AKP gewählt. Europäische und US-amerikanische Politiker begrüßten das Urteil, und am folgenden Tag bekundete die Geschäftswelt ihre Zustim­mung. An der Börse von Istanbul stiegen die Kur­se bis fast genau auf den Wert, den sie am 14. März erreicht hatten, ehe am Abend Oberstaatsanwalt Abdurrahman Yalcinkaya seinen Verbotsantrag einreichte. Vor allem der Regierung nahestehende Firmen profitierten.
Doch was hat sich eigentlich geändert? Für die AKP war die Lage am Mittwochabend zwar besser als am Mittwochmorgen, aber doch schwieriger als vor dem 14. März. Die AKP weiß nun, dass sie auch als Regierungspartei nicht vor einem Ver­botsantrag sicher ist. Zehn der elf Verfassungsrichter hatten den Argumenten des Staatsanwalts zum großen Teil zugestimmt, nur bei der Beurteilung der Schwere der Schuld gab es Differenzen. Das Gericht begnügte sich mit finanziellen Sanktionen gegen die AKP. Sollte die Regierung Erdogans noch einmal einen Versuch unternehmen, das Kopf­tuch an den Universitäten durchzusetzen, oder etwas Ähnliches tun, das Verbot wäre dann wohl gewiss.

»Das Kopftuch ist derzeit nicht auf unserer Agenda«, sagte Vizepremierminister Cemil Cicek. Auf brisante Initiativen wird die AKP wohl vorerst ver­zichten. Sie könnte stattdessen versuchen, zunächst ihre Macht weiter zu vergrößern. Einigen Erfolg hatte die Regierungspartei bereits bei der Vergrößerung ihrer Wirtschafts- und Medienmacht – nach einer erprobten Methode: Erst bekam ein Firmenkonsortium, die Calik-Gruppe, ohne Ausschreibung ein größeres Pipelineprojekt zugeschoben, dann kaufte eine Firma dieser Gruppe eine der größten Zeitungen des Landes, Sabah, und den Fernsehsender ATV. Das Geld hier­für erhielt sie von zwei staatlichen Banken. Die Gruppe wird von einem Schwiegersohn Erdogans geleitet. Kein Wunder, dass sich von allen europäischen Politikern Erdogan am besten mit Silvio Berlusconi versteht.
Gegner der Regierung werden mit Geheimdienstmethoden diskreditiert oder eingeschüchtert. Was der Generalsekretär der kemalistischen CHP, Önder Sav, unter vier Augen über den Propheten Mohammed gesagt hat, steht zwei Tage später in der Zeitung.
Weiteres Material liefert das Verfahren gegen die angebliche Verschwörergruppe Ergenekon. Derzeit liegen Anklagen gegen 86 Personen vor, doch die Zahl der Angeklagten wird wohl auf et­wa 130 steigen. Auf das Komplott, das ihnen unterstellt wird, würde so leicht kein Autor kommen. Da tut sich eine Reihe bekannter nationalistischer Querköpfe, unter ihnen Ilhan Selcuk, der 83jährige Kolumnist der Zeitung Cumhuriyet, der Führer der maoistischen Arbeiterpartei (IP), der Anwalt Kemal Kerincsiz, bekannt geworden durch seine Anzeigen wegen »Erniedrigung des Türkentums« gegen Orhan Pamuk, Hrant Dink und andere, mit einigen pensionierten Generälen und anderen Gleichgesinnten zusammen und schmiedet ein Komplott.
Die Anklageschrift beschreibt die angeblichen Pläne: Ergenekon bemühte sich, ein Verbotsverfahren gegen die AKP in Gang zu bekommen, um dann einen Richter zu ermorden und die Schuld der AKP anzuhängen. Um die Türkei ins Chaos zu stürzen, war ferner die Ermordung zahl­reicher Personen vorgesehen: Premierminister Erdogan, Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, Generalstabschef Yasar Büyükanit, die ehemaligen Präsidenten Süleyman Demirel und Ahmet Necdet Sezer, Oppositionsführer Deniz Bay­­kal, der griechisch-orthodoxe und der armenische Patriarch, der jüdische Geschäftsmann Ishak Alaton, der Führer der kurdischen Opposi­tion im Parlament, Ahmet Türk, und andere mehr.
Ein kleiner Teil der Pläne wurde angeblich sogar verwirklicht. Ilhan Selcuk ließ in der Zeitung Cumhuriyet Karikaturen veröffentlichen, die das islamische Kopftuch lächerlich machen. Solche Karikaturen zeichnet sein älterer Bruder Turhan Selcuk übrigens seit Jahren. Dann bestellte Ilhan Selcuk via Ergenekon drei Angriffe mit Handgranaten auf das Gebäude der Cumhuriyet im Istanbuler Bezirk Sisli. Das Gebäude ist sehr gut durch hohe Zäune und vergitterte Fenster gesichert. Von einer schmalen Gasse aus kann man die Handgranate nur ungezielt über den Zaun gegen das Gebäude werfen. Schäden waren zwar möglich, aber unwahrscheinlich. Jedenfalls konnte nun Ilhan Selcuk diese Vorfälle gebrauchen, um in seinen Kommentaren vor der islamistischen Gefahr zu warnen.
Ein Journalist, der erst den Anlass schafft, dann das Attentat bestellt und letztendlich den Kommentar dazu schreibt – ist die Welt so einfach? Alle, die sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten mit der Aufklärung politischer Morde in der Türkei beschäftigten, haben immer eine Organisation vermutet, die entweder zum Staatsapparat gehört oder enge Kontakte mit ihm unterhält. Für diese Annahme gab es viele Gründe. Nun plant nach Ansicht des Anklägers plötzlich eine rein private Organisation ohne irgendwelche Beziehungen zum Staat eine Verschwörung. Es gibt in ihr zwar viele Offiziere, doch für sie scheint die Pensionsierung die Eintrittsvoraussetzung gewesen zu sein.
In ihrer Gesamtheit erscheinen die Vorwürfe nicht gerade glaubwürdig, dass kemalistische Hard­liner Provokationen geplant haben, ist jedoch möglich. Für potenzielle Widersacher der Re­gierung ist das Verfahren eine Bedrohung, denn immer wieder werden neue Ver­schwö­­rer aus­gemacht und verschwinden in Untersuchungshaft oder der Regierung nahestehende Medien deuten einen solchen Verdacht an.

Der türkische Staat ist als eine Festung konzipiert, die Linke, Kurden und Islamisten draußen halten sollte. Eingedrungen sind zwar nicht stren­ge Islamisten, aber eine Partei, die nach der Intention der Erbauer draußen bleiben sollte. Anfangs schien Erdogan bemüht zu sein, durch Reformen die Verhältnisse zu ändern. Doch seitdem er sich als Hausherr fühlen kann, gibt es kei­ne Reformen mehr, die AKP ist nun ihrerseits bemüht, die Festung gegen ihre Feinde zu sichern.
Das Presserecht ist in manchen Punkten sogar schärfer als früher. Den berüchtigten Paragraphen 301 (»Erniedrigung der türkischen Nation«), das Lieblingswerkzeug des mutmaßlichen Ergenekon-Mitgliedes Kemal Kerincsiz, gibt es noch immer. Der Paragraph 301 wurde auf Druck der EU nur leicht umformuliert. Der größte Unterschied besteht darin, dass das Justizministerium nun einer Anklage zustimmen muss, damit ist der Paragraph endgültig zu einem Werkzeug in der Hand der Regierung geworden. Ein kurdischer Sender wurde legalisiert, wohl um dem Sen­der Roj TV, der der PKK nahesteht, die Zuschauer abspenstig zu machen, er kann jedoch von einem Tag auf den anderen wieder geschlossen werden.
Anstatt das Land zu demokratisieren, vergrößert die AKP nur noch ihre Macht und benutzt nun zum Teil diejenigen Instrumente, die früher gegen sie selbst angewendet wurden. So hat die AKP zwar auf Drängen der EU das Recht auf fried­liche Demonstrationen festgeschrieben, doch seit langem hat keine türkische Regierung so hart gegen Gewerkschaftskundgebungen durchgegriffen wie die Erdogans. Bei den Arbeitnehmerrechten hat man die EU auf später vertröstet, wofür es offenbar Ver­ständnis gab. Zumindest war kein Protest zu vernehmen.
Die Religionsfreiheit wird von Erdogan vehement verteidigt, wenn es um das Kopftuch geht. Sie endet schlagartig, wenn von jenen die Rede ist, die keine sunnitischen Muslime sind. Ob die Eltern Alewiten oder Atheisten sind, die Kinder müssen zwangsweise am Religionsun­terricht teil­nehmen. Allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz ist der Religionsunterricht sunnitisch. Das führt u. a. dazu, dass den Schülern die Schöpfungsgeschichte so erzählt wird, wie sie im Koran steht. Darwins Lehre ist dagegen auch im Bio­logieunterricht weiter kein Thema.

Für Moscheen bezahlt der Staat den Strom, das Wasser und das Personal, Kirchen werden dagegen wie Fabriken besteuert. Die griechisch-orthodoxe Kirche hat weiterhin keine Möglichkeit, in der Türkei Priester auszubilden, während die rein sunnitisch-islamischen theologischen Fakultäten die Zahl ihrer Studenten in den letzten Jahren verdoppeln konnten. Die alewitische Minderheit muss ihre Versammlungsräume, die Cemevi, als Kulturvereine tarnen, um den Bau überhaupt genehmigt zu bekommen. Doch die Geneh­migungspraxis ist restriktiv.
Wenn Erdogan beweisen wollte, dass seine AKP keine Partei ist, die eine bestimmte religiöse Weltsicht vertritt und mit staatlichen Mitteln för­dern will, so hätte er dazu eine Fülle von Möglichkeiten. Ebenso könnte er seine Bereitschaft demonstrieren, auf die autoritären Mittel zu verzichten, die einer Regierungspartei in der Tükei zur Verfügung stehen. Dies würde das kemalistisch-nationalistische Milieu nicht mit der AKP versöhnen, aber weitgehend entwaffnen. Als die AKP im Jahr 2002 erstmals an die Macht kam, wurde sie erbittert bekämpft, u. a. auch mit einem Verbotsantrag vor dem Verfassungsgericht. Doch Erdogan kam nicht mit Gesetzen zum Kopf­tuch daher, sondern mit Reformen.
Derzeit scheint Erdogan eher seine Macht erweitern und die Methoden seiner kemalistischen Konkurrenten übernehmen zu wollen. Die stellten ihm mit der Ernennung von Ilker Basgug zum neuen Generalstabschef am Montag einen Verfechter kemalistischer Prinzipien entgegen, der als besonnen und kühl kalkulierend gilt. Man stellt sich offenbar auf einen längeren Machtkampf ein. Mag sein, dass die AKP stark genug ist, um die Auseinandersetzung mit der alten Oligarchie für sich zu entscheiden. Verlierer sind in jedem Fall diejenigen Türken, die weder einen autoritären Staat wollen noch eine schleichende Reislamisierung.